Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Reisegedanten und Reisebilder hohes Lob verdient, so sind ihre schönen Punkte fortan dem gemeinen Volke Aber diese Freistätten schrumpfen nach Zahl und Umfang täglich mehr Mehr Arbeiter als Plätze für Arbeiter -- das ist eben einer der Angel¬ Reisegedanten und Reisebilder hohes Lob verdient, so sind ihre schönen Punkte fortan dem gemeinen Volke Aber diese Freistätten schrumpfen nach Zahl und Umfang täglich mehr Mehr Arbeiter als Plätze für Arbeiter — das ist eben einer der Angel¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0574" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215664"/> <fw type="header" place="top"> Reisegedanten und Reisebilder</fw><lb/> <p xml:id="ID_1974" prev="#ID_1973"> hohes Lob verdient, so sind ihre schönen Punkte fortan dem gemeinen Volke<lb/> der nächsten Umgebung verschlossen. In die Promenndenanzüge, die dann dort<lb/> auf allen Wegen einherwandeln, in die Hotels, die an die Stelle der Wirts¬<lb/> häuser und Sennhütten treten, wagt sich der ärmlich gekleidete Mann nicht<lb/> mehr hinein. Vor fünfzig Jahren, wo das Riesengebirge zwar schon Wander¬<lb/> ziel für Botaniker und Studenten, aber noch nicht „Sommerfrische" war,<lb/> schwärmten an schönen Sommertagen, besonders an Sonntagen, Handwerks-<lb/> burschen, kleinbürgerliche und Landleute, die, um bequemer zu gehen, Schuhe<lb/> und Strümpfe in der Hand trugen, genug da oben herum, und obwohl das<lb/> Publikum im ganzen nicht eben fein war, hatte doch der einsame Wandrer<lb/> durchaus nichts zu fürchten, wenn er nicht etwa eine grüne Uniform trug,<lb/> denn von Schmugglern allerdings wimmelte es auf den Pfaden und manchmal<lb/> auch in den Bauden; hatten sie ihre schwere Last den steilen Berg hinauf-<lb/> geschleppt, so ruhten sie wohl in der Baude aus, indem sie den Rest der<lb/> Nacht — mit den Bauermägden tanzten. Heute wird sich ein Mann des<lb/> Arbeiterstandes schwerlich untersteh», ans der Schneekoppe zu übernachten, und<lb/> nachdem in jüngster Zeit mehrere Naubanfälle und eine Mordthat verübt<lb/> worden sind, wird sich ein schlecht gekleideter Mensch, der sich nicht als Wald¬<lb/> arbeiter oder Hirt oder Lastträger ausweisen kann, kaum noch da oben sehen<lb/> lassen dürfen. Nur in solchen Teilen des deutschen Mittelgebirges, die noch<lb/> nicht von Hauptstadtbewohnern besucht werdeu, erlaubt sich das Volk der<lb/> Umgegend noch ein Sonntagsvergnügen ans freier Bergeshöhe.</p><lb/> <p xml:id="ID_1975"> Aber diese Freistätten schrumpfen nach Zahl und Umfang täglich mehr<lb/> zusammen. Ist doch kein Flecken im Gebirge so unansehnlich, daß er nicht<lb/> seinen „Berein zur Hebung des Fremdenverkehrs" hätte. Das ist nun freilich<lb/> kein soziales Übel, aber ein Anzeichen eines solchen. Die eine Stadt schreit<lb/> nach Garnison, die andre bietet alle Künste der Reklame ans, um sich zu<lb/> einem Pensionvpolis heranzubilden, die dritte spekulirt auf „Touristen." Das<lb/> heißt, die Gewerbtreibenden gehen immer mehr darauf aus, ihr Einkommen<lb/> von solche» zu ziehen, die ihr Gewerbe nicht am Orte oder die überhaupt<lb/> kein Gewerbe treiben. Das würden sie nicht thun, wenn sie nicht dazu ge¬<lb/> zwungen wären, wenn noch allgemein der natürliche Zustand herrschte, wo<lb/> Güter gegen Güter eingetauscht werden, und solche, die keine Güter erzeugen,<lb/> also Unprvdnktive, nicht leben können. Ja der Produktive von heute fördert,<lb/> der dadurch vermehrten Arbeitsgelegenheit wegen, die Vermehrung der Un¬<lb/> produktiven, ohne zu bedenken, daß er es selbst ist, der sie durch Steuer oder<lb/> Zins erhalte» muß, daß er demnach um eines vorübergehenden Vorteils wegen<lb/> seine Lage auf die Dauer erschwert.</p><lb/> <p xml:id="ID_1976" next="#ID_1977"> Mehr Arbeiter als Plätze für Arbeiter — das ist eben einer der Angel¬<lb/> punkte der sozialen Krisis. Recht grell tritt dieser Zustand in Italien hervor,<lb/> wo sich die Polizei noch nicht soviel Mühe giebt, ihn zu verstecken. Welche</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0574]
Reisegedanten und Reisebilder
hohes Lob verdient, so sind ihre schönen Punkte fortan dem gemeinen Volke
der nächsten Umgebung verschlossen. In die Promenndenanzüge, die dann dort
auf allen Wegen einherwandeln, in die Hotels, die an die Stelle der Wirts¬
häuser und Sennhütten treten, wagt sich der ärmlich gekleidete Mann nicht
mehr hinein. Vor fünfzig Jahren, wo das Riesengebirge zwar schon Wander¬
ziel für Botaniker und Studenten, aber noch nicht „Sommerfrische" war,
schwärmten an schönen Sommertagen, besonders an Sonntagen, Handwerks-
burschen, kleinbürgerliche und Landleute, die, um bequemer zu gehen, Schuhe
und Strümpfe in der Hand trugen, genug da oben herum, und obwohl das
Publikum im ganzen nicht eben fein war, hatte doch der einsame Wandrer
durchaus nichts zu fürchten, wenn er nicht etwa eine grüne Uniform trug,
denn von Schmugglern allerdings wimmelte es auf den Pfaden und manchmal
auch in den Bauden; hatten sie ihre schwere Last den steilen Berg hinauf-
geschleppt, so ruhten sie wohl in der Baude aus, indem sie den Rest der
Nacht — mit den Bauermägden tanzten. Heute wird sich ein Mann des
Arbeiterstandes schwerlich untersteh», ans der Schneekoppe zu übernachten, und
nachdem in jüngster Zeit mehrere Naubanfälle und eine Mordthat verübt
worden sind, wird sich ein schlecht gekleideter Mensch, der sich nicht als Wald¬
arbeiter oder Hirt oder Lastträger ausweisen kann, kaum noch da oben sehen
lassen dürfen. Nur in solchen Teilen des deutschen Mittelgebirges, die noch
nicht von Hauptstadtbewohnern besucht werdeu, erlaubt sich das Volk der
Umgegend noch ein Sonntagsvergnügen ans freier Bergeshöhe.
Aber diese Freistätten schrumpfen nach Zahl und Umfang täglich mehr
zusammen. Ist doch kein Flecken im Gebirge so unansehnlich, daß er nicht
seinen „Berein zur Hebung des Fremdenverkehrs" hätte. Das ist nun freilich
kein soziales Übel, aber ein Anzeichen eines solchen. Die eine Stadt schreit
nach Garnison, die andre bietet alle Künste der Reklame ans, um sich zu
einem Pensionvpolis heranzubilden, die dritte spekulirt auf „Touristen." Das
heißt, die Gewerbtreibenden gehen immer mehr darauf aus, ihr Einkommen
von solche» zu ziehen, die ihr Gewerbe nicht am Orte oder die überhaupt
kein Gewerbe treiben. Das würden sie nicht thun, wenn sie nicht dazu ge¬
zwungen wären, wenn noch allgemein der natürliche Zustand herrschte, wo
Güter gegen Güter eingetauscht werden, und solche, die keine Güter erzeugen,
also Unprvdnktive, nicht leben können. Ja der Produktive von heute fördert,
der dadurch vermehrten Arbeitsgelegenheit wegen, die Vermehrung der Un¬
produktiven, ohne zu bedenken, daß er es selbst ist, der sie durch Steuer oder
Zins erhalte» muß, daß er demnach um eines vorübergehenden Vorteils wegen
seine Lage auf die Dauer erschwert.
Mehr Arbeiter als Plätze für Arbeiter — das ist eben einer der Angel¬
punkte der sozialen Krisis. Recht grell tritt dieser Zustand in Italien hervor,
wo sich die Polizei noch nicht soviel Mühe giebt, ihn zu verstecken. Welche
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |