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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Jüdische Zustände

"national" el" unbekanntes Ding war. Sie waren andern Glaubens als die
Bewohner des Landes; aber anch das war kaum ein Hemmnis, da sie keine Ein¬
heit des religiösen Bekenntnisses und keine mächtige Kirche vorfanden. Jedenfalls
war unter den andern Mächten nicht eine einzige, die ein älteres oder besseres
Recht zur Herrschaft gehabt hätte als die Engländer. Es war darunter uicht
ein einziges altes nationales Staatswesen, uicht eine einzige alte nationale Dy¬
nastie. Der Großmogul selbst war ein Fremder mongolischer Abkunft. Der
Nawab von Vengalen war ein Muhammedaner, der in der Hauptsache über
eine Hindnbevölkerung herrschte und sich ans vaterlandslose Miettrnppen stützte.
So auch der Nawab von Audh, so der Naisam von Haidernbad. Alle drei
waren die Nachkommen von Vizekönigen des Anrangzeb, die sich nach dein
Tode des großen Kaisers selbständig gemacht hatten. Haidar Ali war ur¬
sprünglich ein gemeiner Soldat in den Diensten des Hindu-Rad Seba von
Maisnr, hatte sich durch Tapferkeit zum Befehlshaber einer großer" Ab¬
teilung aufgeschwungen, hatte diese dann für seine persönlichen Zwecke zu
gewinnen gewußt, die alte Dynastie gestürzt und sich, den Muhnmmedaner,
an deren Stelle gesetzt. Die größeren Marathafürsten, Sindhia in Gwalior,
Holkar in Jndur, der Gaebvar in Baroda, die Bhonslas in Berar herrschten mit
Hilfe kleiner Marathagefolgschaften über Bevölkerungen andrer Rasse und andrer
Sprache, Sie waren die Enkel glücklicher Räuberhänptlinge, die in der all¬
gemeinen Verwirrung des achtzehnten Jahrhunderts mit Hilfe von Sölduer-
bciudeu soviel Land an sich rissen, wie sie konnten. Selbst die Sikhs bildeten
die Minderheit in dem Gebiete, das ihr thevkrcitisches Staatswesen umschloß,
und in Radschputana stellen die herrschenden Klane eine geringe Zahl früherer
Eroberer dar, die das gesamte Land in Beschlag nahmen, die alten Besitzer
zu Kvlonen machten und von deren Abgaben leben.

Die Kompanie hatte vor all diesen größer" und kleinern Nebenbuhlern
schwerwiegende Vorteile voraus. Sie verfügte über große Geldmittel; sie hatte
zwei oder drei Forts, hatte in der See eine unangreifbare Basis, und hatte
den großen Vorteil, als Kompanie eine unsterbliche Persönlichkeit zu sein, die
nicht inmitten ihrer Eroberungen durch eine zufällige Kugel oder ein tückisches
Fieber aus diesem Leben abberufen werden konnte. Sie konnte einen festen
Kern britischer Truppen, und mehr als das, sie konnte die überlegne Kriegs¬
kunst und Disziplin des Westens ins Feld führen, und wie einst die gewaltigen,
aber ungeordneten Haufen des Darms vor der kleinen, aber festgeschlossenen
Schar Alexanders erlagen, so vermochten auch die größten Heere der indischen
Fürsten nichts gegen einige europäisch gedrillte Regimenter. Es war der
Franzose Dupleix, der zuerst die Möglichkeit sah, einheimische Söldner in dieser
europäischen Disziplin zu erziehen und dadurch unwiderstehlich zu machen. Es
war derselbe, der zuerst klar erkannte, daß hierin das Mittel zur Eroberung
Indiens liege. Beide Entdeckungen eigneten sich die Engländer an; und das


Jüdische Zustände

„national" el» unbekanntes Ding war. Sie waren andern Glaubens als die
Bewohner des Landes; aber anch das war kaum ein Hemmnis, da sie keine Ein¬
heit des religiösen Bekenntnisses und keine mächtige Kirche vorfanden. Jedenfalls
war unter den andern Mächten nicht eine einzige, die ein älteres oder besseres
Recht zur Herrschaft gehabt hätte als die Engländer. Es war darunter uicht
ein einziges altes nationales Staatswesen, uicht eine einzige alte nationale Dy¬
nastie. Der Großmogul selbst war ein Fremder mongolischer Abkunft. Der
Nawab von Vengalen war ein Muhammedaner, der in der Hauptsache über
eine Hindnbevölkerung herrschte und sich ans vaterlandslose Miettrnppen stützte.
So auch der Nawab von Audh, so der Naisam von Haidernbad. Alle drei
waren die Nachkommen von Vizekönigen des Anrangzeb, die sich nach dein
Tode des großen Kaisers selbständig gemacht hatten. Haidar Ali war ur¬
sprünglich ein gemeiner Soldat in den Diensten des Hindu-Rad Seba von
Maisnr, hatte sich durch Tapferkeit zum Befehlshaber einer großer» Ab¬
teilung aufgeschwungen, hatte diese dann für seine persönlichen Zwecke zu
gewinnen gewußt, die alte Dynastie gestürzt und sich, den Muhnmmedaner,
an deren Stelle gesetzt. Die größeren Marathafürsten, Sindhia in Gwalior,
Holkar in Jndur, der Gaebvar in Baroda, die Bhonslas in Berar herrschten mit
Hilfe kleiner Marathagefolgschaften über Bevölkerungen andrer Rasse und andrer
Sprache, Sie waren die Enkel glücklicher Räuberhänptlinge, die in der all¬
gemeinen Verwirrung des achtzehnten Jahrhunderts mit Hilfe von Sölduer-
bciudeu soviel Land an sich rissen, wie sie konnten. Selbst die Sikhs bildeten
die Minderheit in dem Gebiete, das ihr thevkrcitisches Staatswesen umschloß,
und in Radschputana stellen die herrschenden Klane eine geringe Zahl früherer
Eroberer dar, die das gesamte Land in Beschlag nahmen, die alten Besitzer
zu Kvlonen machten und von deren Abgaben leben.

Die Kompanie hatte vor all diesen größer» und kleinern Nebenbuhlern
schwerwiegende Vorteile voraus. Sie verfügte über große Geldmittel; sie hatte
zwei oder drei Forts, hatte in der See eine unangreifbare Basis, und hatte
den großen Vorteil, als Kompanie eine unsterbliche Persönlichkeit zu sein, die
nicht inmitten ihrer Eroberungen durch eine zufällige Kugel oder ein tückisches
Fieber aus diesem Leben abberufen werden konnte. Sie konnte einen festen
Kern britischer Truppen, und mehr als das, sie konnte die überlegne Kriegs¬
kunst und Disziplin des Westens ins Feld führen, und wie einst die gewaltigen,
aber ungeordneten Haufen des Darms vor der kleinen, aber festgeschlossenen
Schar Alexanders erlagen, so vermochten auch die größten Heere der indischen
Fürsten nichts gegen einige europäisch gedrillte Regimenter. Es war der
Franzose Dupleix, der zuerst die Möglichkeit sah, einheimische Söldner in dieser
europäischen Disziplin zu erziehen und dadurch unwiderstehlich zu machen. Es
war derselbe, der zuerst klar erkannte, daß hierin das Mittel zur Eroberung
Indiens liege. Beide Entdeckungen eigneten sich die Engländer an; und das


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[0559] Jüdische Zustände „national" el» unbekanntes Ding war. Sie waren andern Glaubens als die Bewohner des Landes; aber anch das war kaum ein Hemmnis, da sie keine Ein¬ heit des religiösen Bekenntnisses und keine mächtige Kirche vorfanden. Jedenfalls war unter den andern Mächten nicht eine einzige, die ein älteres oder besseres Recht zur Herrschaft gehabt hätte als die Engländer. Es war darunter uicht ein einziges altes nationales Staatswesen, uicht eine einzige alte nationale Dy¬ nastie. Der Großmogul selbst war ein Fremder mongolischer Abkunft. Der Nawab von Vengalen war ein Muhammedaner, der in der Hauptsache über eine Hindnbevölkerung herrschte und sich ans vaterlandslose Miettrnppen stützte. So auch der Nawab von Audh, so der Naisam von Haidernbad. Alle drei waren die Nachkommen von Vizekönigen des Anrangzeb, die sich nach dein Tode des großen Kaisers selbständig gemacht hatten. Haidar Ali war ur¬ sprünglich ein gemeiner Soldat in den Diensten des Hindu-Rad Seba von Maisnr, hatte sich durch Tapferkeit zum Befehlshaber einer großer» Ab¬ teilung aufgeschwungen, hatte diese dann für seine persönlichen Zwecke zu gewinnen gewußt, die alte Dynastie gestürzt und sich, den Muhnmmedaner, an deren Stelle gesetzt. Die größeren Marathafürsten, Sindhia in Gwalior, Holkar in Jndur, der Gaebvar in Baroda, die Bhonslas in Berar herrschten mit Hilfe kleiner Marathagefolgschaften über Bevölkerungen andrer Rasse und andrer Sprache, Sie waren die Enkel glücklicher Räuberhänptlinge, die in der all¬ gemeinen Verwirrung des achtzehnten Jahrhunderts mit Hilfe von Sölduer- bciudeu soviel Land an sich rissen, wie sie konnten. Selbst die Sikhs bildeten die Minderheit in dem Gebiete, das ihr thevkrcitisches Staatswesen umschloß, und in Radschputana stellen die herrschenden Klane eine geringe Zahl früherer Eroberer dar, die das gesamte Land in Beschlag nahmen, die alten Besitzer zu Kvlonen machten und von deren Abgaben leben. Die Kompanie hatte vor all diesen größer» und kleinern Nebenbuhlern schwerwiegende Vorteile voraus. Sie verfügte über große Geldmittel; sie hatte zwei oder drei Forts, hatte in der See eine unangreifbare Basis, und hatte den großen Vorteil, als Kompanie eine unsterbliche Persönlichkeit zu sein, die nicht inmitten ihrer Eroberungen durch eine zufällige Kugel oder ein tückisches Fieber aus diesem Leben abberufen werden konnte. Sie konnte einen festen Kern britischer Truppen, und mehr als das, sie konnte die überlegne Kriegs¬ kunst und Disziplin des Westens ins Feld führen, und wie einst die gewaltigen, aber ungeordneten Haufen des Darms vor der kleinen, aber festgeschlossenen Schar Alexanders erlagen, so vermochten auch die größten Heere der indischen Fürsten nichts gegen einige europäisch gedrillte Regimenter. Es war der Franzose Dupleix, der zuerst die Möglichkeit sah, einheimische Söldner in dieser europäischen Disziplin zu erziehen und dadurch unwiderstehlich zu machen. Es war derselbe, der zuerst klar erkannte, daß hierin das Mittel zur Eroberung Indiens liege. Beide Entdeckungen eigneten sich die Engländer an; und das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/559>, abgerufen am 01.09.2024.