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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Indische Zustände

Übergriffe und Gewaltthätigkeiten der indischen Fürsten, die die englisch - ost-
indische Kompanie veranlaßten, als unabhängige Macht eignen Landbesitz zu
erstreben. Die Ausbreitung aber der englischen Herrschaft über die ganze
Halbinsel wurde unternommen und durchgeführt von den ausführenden Or¬
ganen der Kompanie in geradem Widerspruch mit deren Zwecken und Wünschen.
Der Entschlossenheit, Thatkraft und Ausdauer einiger wenigen, fast ganz aus
sich selbst angewiesenen Männer dankt England sein stolzes indisches Reich.

Je näher wir dieser gewaltigen Schöpfung treten, desto rätselhafter er¬
scheint sie. Läßt sich die Entstehung des anglv-indischen Reichs überhaupt
anders erklären als durch eine dieser angelsächsischen Rasse eigentiimliche, fast
übernatürliche Thatkraft und Tapferkeit? durch eine grenzenlose Überlegenheit
des Engländers über den weichlichen Hindu?

Wir haben schon früher gesehen, daß die übliche Anschauung vou dein
weichlichen Charakter des Hindu durchaus nicht auf alle die verschiednen Rassen
Indiens zutrifft. Und selbst wenn die Schwäche der Inder so allgemein und
so ausgesprochen wäre, würde sie doch die englische Herrschaft über die indische
Halbinsel uoch nicht erklären. Mag immerhin ein Engländer auf dem Schlacht¬
feld" zehn, zwanzig, ja fünfzig Hindu aufwiegen: selbst das löst das Rätsel
des anglo-indischen Reichs nicht. Die Zahl der Engländer in Indien ist so
klein, daß die Hindu buchstäblich Recht haben, wenn sie sagen, sobald jeder
von ihnen nur eine Hand voll Erde aus ihre Herren würfe, so würden diese
inmitten ihrer Eroberungen lebendigen Leibes begraben werden. Heute kommen
auf jeden britischen Soldaten 3521 Eingeborne, und während der Errichtung
der englischen Herrschaft war das Verhältnis noch weit ungünstiger. Die
britischen Truppen der Kompanie beliefen sich zu keiner Zeit auf mehr als
40000 Mann.

Aber wenn die Überlegenheit der angelsächsischen Rasse nicht zur Erklä¬
rung der Eroberung Indiens ausreicht, wo finden wir sie sonst? Ein Er¬
eignis, das sich so im vollen Tageslicht der neuern Geschichte vollzogen hat,
wie die Eroberung Indiens, muß sich doch anders als durch übernatürliche
Kräfte erklären lassen. Nun, wenn wir die anglo-indischen Feldzüge studiren,
so sehen wir, daß darin weit größere Heere auftreten, als von 40000 Mann.
Lord Hastings versammelte im Jahre 1817 nicht weniger als 120000 Mann
zur Bekämpfung der Pindari-Räuberbanden. Die Schlachten der Kompanie
wurden also nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorwiegend von britischen
Soldaten geschlagen. Nur der kleinere Teil ihrer Streitkräfte bestand ans
englischen Regimentern. Der Nest waren andre Truppen, waren indische, ein¬
heimische Soldaten. Augenblicklich stehen in Indien 212000 Mann, von
denen nur 71000, also nur ein Drittel, englische Soldaten sind. Und dieses
Verhältnis ist auch erst durch die Reorganisation von 1858 hergestellt worden.
Früher war das Übergewicht der eingebornen Truppen noch viel bedeutender.


Indische Zustände

Übergriffe und Gewaltthätigkeiten der indischen Fürsten, die die englisch - ost-
indische Kompanie veranlaßten, als unabhängige Macht eignen Landbesitz zu
erstreben. Die Ausbreitung aber der englischen Herrschaft über die ganze
Halbinsel wurde unternommen und durchgeführt von den ausführenden Or¬
ganen der Kompanie in geradem Widerspruch mit deren Zwecken und Wünschen.
Der Entschlossenheit, Thatkraft und Ausdauer einiger wenigen, fast ganz aus
sich selbst angewiesenen Männer dankt England sein stolzes indisches Reich.

Je näher wir dieser gewaltigen Schöpfung treten, desto rätselhafter er¬
scheint sie. Läßt sich die Entstehung des anglv-indischen Reichs überhaupt
anders erklären als durch eine dieser angelsächsischen Rasse eigentiimliche, fast
übernatürliche Thatkraft und Tapferkeit? durch eine grenzenlose Überlegenheit
des Engländers über den weichlichen Hindu?

Wir haben schon früher gesehen, daß die übliche Anschauung vou dein
weichlichen Charakter des Hindu durchaus nicht auf alle die verschiednen Rassen
Indiens zutrifft. Und selbst wenn die Schwäche der Inder so allgemein und
so ausgesprochen wäre, würde sie doch die englische Herrschaft über die indische
Halbinsel uoch nicht erklären. Mag immerhin ein Engländer auf dem Schlacht¬
feld« zehn, zwanzig, ja fünfzig Hindu aufwiegen: selbst das löst das Rätsel
des anglo-indischen Reichs nicht. Die Zahl der Engländer in Indien ist so
klein, daß die Hindu buchstäblich Recht haben, wenn sie sagen, sobald jeder
von ihnen nur eine Hand voll Erde aus ihre Herren würfe, so würden diese
inmitten ihrer Eroberungen lebendigen Leibes begraben werden. Heute kommen
auf jeden britischen Soldaten 3521 Eingeborne, und während der Errichtung
der englischen Herrschaft war das Verhältnis noch weit ungünstiger. Die
britischen Truppen der Kompanie beliefen sich zu keiner Zeit auf mehr als
40000 Mann.

Aber wenn die Überlegenheit der angelsächsischen Rasse nicht zur Erklä¬
rung der Eroberung Indiens ausreicht, wo finden wir sie sonst? Ein Er¬
eignis, das sich so im vollen Tageslicht der neuern Geschichte vollzogen hat,
wie die Eroberung Indiens, muß sich doch anders als durch übernatürliche
Kräfte erklären lassen. Nun, wenn wir die anglo-indischen Feldzüge studiren,
so sehen wir, daß darin weit größere Heere auftreten, als von 40000 Mann.
Lord Hastings versammelte im Jahre 1817 nicht weniger als 120000 Mann
zur Bekämpfung der Pindari-Räuberbanden. Die Schlachten der Kompanie
wurden also nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorwiegend von britischen
Soldaten geschlagen. Nur der kleinere Teil ihrer Streitkräfte bestand ans
englischen Regimentern. Der Nest waren andre Truppen, waren indische, ein¬
heimische Soldaten. Augenblicklich stehen in Indien 212000 Mann, von
denen nur 71000, also nur ein Drittel, englische Soldaten sind. Und dieses
Verhältnis ist auch erst durch die Reorganisation von 1858 hergestellt worden.
Früher war das Übergewicht der eingebornen Truppen noch viel bedeutender.


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[0554] Indische Zustände Übergriffe und Gewaltthätigkeiten der indischen Fürsten, die die englisch - ost- indische Kompanie veranlaßten, als unabhängige Macht eignen Landbesitz zu erstreben. Die Ausbreitung aber der englischen Herrschaft über die ganze Halbinsel wurde unternommen und durchgeführt von den ausführenden Or¬ ganen der Kompanie in geradem Widerspruch mit deren Zwecken und Wünschen. Der Entschlossenheit, Thatkraft und Ausdauer einiger wenigen, fast ganz aus sich selbst angewiesenen Männer dankt England sein stolzes indisches Reich. Je näher wir dieser gewaltigen Schöpfung treten, desto rätselhafter er¬ scheint sie. Läßt sich die Entstehung des anglv-indischen Reichs überhaupt anders erklären als durch eine dieser angelsächsischen Rasse eigentiimliche, fast übernatürliche Thatkraft und Tapferkeit? durch eine grenzenlose Überlegenheit des Engländers über den weichlichen Hindu? Wir haben schon früher gesehen, daß die übliche Anschauung vou dein weichlichen Charakter des Hindu durchaus nicht auf alle die verschiednen Rassen Indiens zutrifft. Und selbst wenn die Schwäche der Inder so allgemein und so ausgesprochen wäre, würde sie doch die englische Herrschaft über die indische Halbinsel uoch nicht erklären. Mag immerhin ein Engländer auf dem Schlacht¬ feld« zehn, zwanzig, ja fünfzig Hindu aufwiegen: selbst das löst das Rätsel des anglo-indischen Reichs nicht. Die Zahl der Engländer in Indien ist so klein, daß die Hindu buchstäblich Recht haben, wenn sie sagen, sobald jeder von ihnen nur eine Hand voll Erde aus ihre Herren würfe, so würden diese inmitten ihrer Eroberungen lebendigen Leibes begraben werden. Heute kommen auf jeden britischen Soldaten 3521 Eingeborne, und während der Errichtung der englischen Herrschaft war das Verhältnis noch weit ungünstiger. Die britischen Truppen der Kompanie beliefen sich zu keiner Zeit auf mehr als 40000 Mann. Aber wenn die Überlegenheit der angelsächsischen Rasse nicht zur Erklä¬ rung der Eroberung Indiens ausreicht, wo finden wir sie sonst? Ein Er¬ eignis, das sich so im vollen Tageslicht der neuern Geschichte vollzogen hat, wie die Eroberung Indiens, muß sich doch anders als durch übernatürliche Kräfte erklären lassen. Nun, wenn wir die anglo-indischen Feldzüge studiren, so sehen wir, daß darin weit größere Heere auftreten, als von 40000 Mann. Lord Hastings versammelte im Jahre 1817 nicht weniger als 120000 Mann zur Bekämpfung der Pindari-Räuberbanden. Die Schlachten der Kompanie wurden also nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorwiegend von britischen Soldaten geschlagen. Nur der kleinere Teil ihrer Streitkräfte bestand ans englischen Regimentern. Der Nest waren andre Truppen, waren indische, ein¬ heimische Soldaten. Augenblicklich stehen in Indien 212000 Mann, von denen nur 71000, also nur ein Drittel, englische Soldaten sind. Und dieses Verhältnis ist auch erst durch die Reorganisation von 1858 hergestellt worden. Früher war das Übergewicht der eingebornen Truppen noch viel bedeutender.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/554>, abgerufen am 23.11.2024.