Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Indische Zustände

einen englischen Edelmann zu ihrem Stellvertreter als Vizckvnig von Indien.
Von Dvwning Street in London aus wird das Land im Süden des Himalaja
regiert, und das britische Parlament leitet seine Geschicke. Wenige tausend An¬
gehörige der britischen Nation führen an Ort und Stelle die Verwaltung,
und ein kleines Häuflein britischer Truppe" erhält die Ruhe ans der weiten
Halbinsel.

Nach der Volkszählung von 1881 befanden sich damals insgesamt nur
8^>7!>8 Engländer in Indien. Wie verschwindend klein diese Zahl gegenüber
den 260 Millionen Asiaten ist, können wir u. n. daraus sehen, daß in Frank¬
reich 1877 unter einer Gesamtbevölkerung von 37 Millionen nicht weniger als
809000 Fremde lebten! Es kam also ein Fremder auf 46 Franzosen; in
Indien kommt ein Brite auf 2666 Inder! Von der Gesamtzahl der in Indien
lebenden Engländer kamen ungefähr 56000 auf das Heer; 3000 wcircu Zivil¬
beamte, 2300 waren an der Eisenbahn angestellt. Nach den letzten Vermeh¬
rungen beläuft sich die Zahl der britischen Truppen in Indien auf 71000 Manu,
aber wie gering im Verhältnis diese Stärke immer noch ist, geht daraus hervor,
daß auf ein Gebiet von 56,3 Quadratkilometern mit 3521 Einwohnern nur ein
britischer Soldat kommt. Es klingt kaum glaublich, aber es ist wahr: 3000 Zivil¬
beamte und 71000 europäische Soldaten sind die Träger der englischen Herr¬
schaft nnter 260 Millionen Asiaten.

Es ist wohl der Mühe wert, zu untersuchen, wie eine solche Herrschaft
hat begründet werden können.

Die Geschichte des anglv-indischen Reichs beginnt mit dem Siege von
Plassey am 23. Juni 1757, und am 13. Februar 1856 wurde mit der Ein¬
verleibung Audhs der letzte Stein zu dem stolzen Gebände hinzugefügt. Ein
Jahrhundert also hatte genügt, die englische Herrschaft von den schneeigen
Gipfeln des Himalaja bis zu den grünen Hängen des Kap Komorin, von dem
bengalischen Meerbusen bis zum Snleiman auszubreiten. Binnen hundert
Jahren waren mehr als 200 Millionen Menschen dnrch eine Handvoll fremder
Eroberer ^bezwungen worden. In drei Menschenaltern war eine der ältesten
und zivilisirtesten Bevölkerungen Asiens dem Gebot einer jungen europäischen
Nation unterworfen worden. Die Erde hat viele gewaltige Eroberer gesehen,
mächtige Reiche sind im Laufe der Jahrtausende entstanden und wieder ver¬
gangen; aber soweit die Geschichte zurückreicht, nirgends zeigt sie uns ein gleich
seltsames Bild. Die große Monarchie Alexanders zerbröckelte mit dem Tode
ihres Stifters; der Staat Napoleons zerfiel rascher, als er entstanden war;
aber die Macht der Engländer in Indien weist nach drei Jahrzehnten ruhigen
Bestandes keine Anzeichen des Verfalls auf. Das Mittelmeerreich Hadrians
war das Ergebnis vierhundertjähriger Anstrengungen der ungezählten Legionen
Roms; im fernen Indien hat eine Handvoll britischer Truppen in einem viel
kürzern Zeitraum eine viel größere Herrschaft begründet. Cortez erfocht seine


Indische Zustände

einen englischen Edelmann zu ihrem Stellvertreter als Vizckvnig von Indien.
Von Dvwning Street in London aus wird das Land im Süden des Himalaja
regiert, und das britische Parlament leitet seine Geschicke. Wenige tausend An¬
gehörige der britischen Nation führen an Ort und Stelle die Verwaltung,
und ein kleines Häuflein britischer Truppe» erhält die Ruhe ans der weiten
Halbinsel.

Nach der Volkszählung von 1881 befanden sich damals insgesamt nur
8^>7!>8 Engländer in Indien. Wie verschwindend klein diese Zahl gegenüber
den 260 Millionen Asiaten ist, können wir u. n. daraus sehen, daß in Frank¬
reich 1877 unter einer Gesamtbevölkerung von 37 Millionen nicht weniger als
809000 Fremde lebten! Es kam also ein Fremder auf 46 Franzosen; in
Indien kommt ein Brite auf 2666 Inder! Von der Gesamtzahl der in Indien
lebenden Engländer kamen ungefähr 56000 auf das Heer; 3000 wcircu Zivil¬
beamte, 2300 waren an der Eisenbahn angestellt. Nach den letzten Vermeh¬
rungen beläuft sich die Zahl der britischen Truppen in Indien auf 71000 Manu,
aber wie gering im Verhältnis diese Stärke immer noch ist, geht daraus hervor,
daß auf ein Gebiet von 56,3 Quadratkilometern mit 3521 Einwohnern nur ein
britischer Soldat kommt. Es klingt kaum glaublich, aber es ist wahr: 3000 Zivil¬
beamte und 71000 europäische Soldaten sind die Träger der englischen Herr¬
schaft nnter 260 Millionen Asiaten.

Es ist wohl der Mühe wert, zu untersuchen, wie eine solche Herrschaft
hat begründet werden können.

Die Geschichte des anglv-indischen Reichs beginnt mit dem Siege von
Plassey am 23. Juni 1757, und am 13. Februar 1856 wurde mit der Ein¬
verleibung Audhs der letzte Stein zu dem stolzen Gebände hinzugefügt. Ein
Jahrhundert also hatte genügt, die englische Herrschaft von den schneeigen
Gipfeln des Himalaja bis zu den grünen Hängen des Kap Komorin, von dem
bengalischen Meerbusen bis zum Snleiman auszubreiten. Binnen hundert
Jahren waren mehr als 200 Millionen Menschen dnrch eine Handvoll fremder
Eroberer ^bezwungen worden. In drei Menschenaltern war eine der ältesten
und zivilisirtesten Bevölkerungen Asiens dem Gebot einer jungen europäischen
Nation unterworfen worden. Die Erde hat viele gewaltige Eroberer gesehen,
mächtige Reiche sind im Laufe der Jahrtausende entstanden und wieder ver¬
gangen; aber soweit die Geschichte zurückreicht, nirgends zeigt sie uns ein gleich
seltsames Bild. Die große Monarchie Alexanders zerbröckelte mit dem Tode
ihres Stifters; der Staat Napoleons zerfiel rascher, als er entstanden war;
aber die Macht der Engländer in Indien weist nach drei Jahrzehnten ruhigen
Bestandes keine Anzeichen des Verfalls auf. Das Mittelmeerreich Hadrians
war das Ergebnis vierhundertjähriger Anstrengungen der ungezählten Legionen
Roms; im fernen Indien hat eine Handvoll britischer Truppen in einem viel
kürzern Zeitraum eine viel größere Herrschaft begründet. Cortez erfocht seine


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0552" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215642"/>
          <fw type="header" place="top"> Indische Zustände</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1907" prev="#ID_1906"> einen englischen Edelmann zu ihrem Stellvertreter als Vizckvnig von Indien.<lb/>
Von Dvwning Street in London aus wird das Land im Süden des Himalaja<lb/>
regiert, und das britische Parlament leitet seine Geschicke. Wenige tausend An¬<lb/>
gehörige der britischen Nation führen an Ort und Stelle die Verwaltung,<lb/>
und ein kleines Häuflein britischer Truppe» erhält die Ruhe ans der weiten<lb/>
Halbinsel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1908"> Nach der Volkszählung von 1881 befanden sich damals insgesamt nur<lb/>
8^&gt;7!&gt;8 Engländer in Indien. Wie verschwindend klein diese Zahl gegenüber<lb/>
den 260 Millionen Asiaten ist, können wir u. n. daraus sehen, daß in Frank¬<lb/>
reich 1877 unter einer Gesamtbevölkerung von 37 Millionen nicht weniger als<lb/>
809000 Fremde lebten! Es kam also ein Fremder auf 46 Franzosen; in<lb/>
Indien kommt ein Brite auf 2666 Inder! Von der Gesamtzahl der in Indien<lb/>
lebenden Engländer kamen ungefähr 56000 auf das Heer; 3000 wcircu Zivil¬<lb/>
beamte, 2300 waren an der Eisenbahn angestellt. Nach den letzten Vermeh¬<lb/>
rungen beläuft sich die Zahl der britischen Truppen in Indien auf 71000 Manu,<lb/>
aber wie gering im Verhältnis diese Stärke immer noch ist, geht daraus hervor,<lb/>
daß auf ein Gebiet von 56,3 Quadratkilometern mit 3521 Einwohnern nur ein<lb/>
britischer Soldat kommt. Es klingt kaum glaublich, aber es ist wahr: 3000 Zivil¬<lb/>
beamte und 71000 europäische Soldaten sind die Träger der englischen Herr¬<lb/>
schaft nnter 260 Millionen Asiaten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1909"> Es ist wohl der Mühe wert, zu untersuchen, wie eine solche Herrschaft<lb/>
hat begründet werden können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1910" next="#ID_1911"> Die Geschichte des anglv-indischen Reichs beginnt mit dem Siege von<lb/>
Plassey am 23. Juni 1757, und am 13. Februar 1856 wurde mit der Ein¬<lb/>
verleibung Audhs der letzte Stein zu dem stolzen Gebände hinzugefügt. Ein<lb/>
Jahrhundert also hatte genügt, die englische Herrschaft von den schneeigen<lb/>
Gipfeln des Himalaja bis zu den grünen Hängen des Kap Komorin, von dem<lb/>
bengalischen Meerbusen bis zum Snleiman auszubreiten. Binnen hundert<lb/>
Jahren waren mehr als 200 Millionen Menschen dnrch eine Handvoll fremder<lb/>
Eroberer ^bezwungen worden. In drei Menschenaltern war eine der ältesten<lb/>
und zivilisirtesten Bevölkerungen Asiens dem Gebot einer jungen europäischen<lb/>
Nation unterworfen worden. Die Erde hat viele gewaltige Eroberer gesehen,<lb/>
mächtige Reiche sind im Laufe der Jahrtausende entstanden und wieder ver¬<lb/>
gangen; aber soweit die Geschichte zurückreicht, nirgends zeigt sie uns ein gleich<lb/>
seltsames Bild. Die große Monarchie Alexanders zerbröckelte mit dem Tode<lb/>
ihres Stifters; der Staat Napoleons zerfiel rascher, als er entstanden war;<lb/>
aber die Macht der Engländer in Indien weist nach drei Jahrzehnten ruhigen<lb/>
Bestandes keine Anzeichen des Verfalls auf. Das Mittelmeerreich Hadrians<lb/>
war das Ergebnis vierhundertjähriger Anstrengungen der ungezählten Legionen<lb/>
Roms; im fernen Indien hat eine Handvoll britischer Truppen in einem viel<lb/>
kürzern Zeitraum eine viel größere Herrschaft begründet. Cortez erfocht seine</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0552] Indische Zustände einen englischen Edelmann zu ihrem Stellvertreter als Vizckvnig von Indien. Von Dvwning Street in London aus wird das Land im Süden des Himalaja regiert, und das britische Parlament leitet seine Geschicke. Wenige tausend An¬ gehörige der britischen Nation führen an Ort und Stelle die Verwaltung, und ein kleines Häuflein britischer Truppe» erhält die Ruhe ans der weiten Halbinsel. Nach der Volkszählung von 1881 befanden sich damals insgesamt nur 8^>7!>8 Engländer in Indien. Wie verschwindend klein diese Zahl gegenüber den 260 Millionen Asiaten ist, können wir u. n. daraus sehen, daß in Frank¬ reich 1877 unter einer Gesamtbevölkerung von 37 Millionen nicht weniger als 809000 Fremde lebten! Es kam also ein Fremder auf 46 Franzosen; in Indien kommt ein Brite auf 2666 Inder! Von der Gesamtzahl der in Indien lebenden Engländer kamen ungefähr 56000 auf das Heer; 3000 wcircu Zivil¬ beamte, 2300 waren an der Eisenbahn angestellt. Nach den letzten Vermeh¬ rungen beläuft sich die Zahl der britischen Truppen in Indien auf 71000 Manu, aber wie gering im Verhältnis diese Stärke immer noch ist, geht daraus hervor, daß auf ein Gebiet von 56,3 Quadratkilometern mit 3521 Einwohnern nur ein britischer Soldat kommt. Es klingt kaum glaublich, aber es ist wahr: 3000 Zivil¬ beamte und 71000 europäische Soldaten sind die Träger der englischen Herr¬ schaft nnter 260 Millionen Asiaten. Es ist wohl der Mühe wert, zu untersuchen, wie eine solche Herrschaft hat begründet werden können. Die Geschichte des anglv-indischen Reichs beginnt mit dem Siege von Plassey am 23. Juni 1757, und am 13. Februar 1856 wurde mit der Ein¬ verleibung Audhs der letzte Stein zu dem stolzen Gebände hinzugefügt. Ein Jahrhundert also hatte genügt, die englische Herrschaft von den schneeigen Gipfeln des Himalaja bis zu den grünen Hängen des Kap Komorin, von dem bengalischen Meerbusen bis zum Snleiman auszubreiten. Binnen hundert Jahren waren mehr als 200 Millionen Menschen dnrch eine Handvoll fremder Eroberer ^bezwungen worden. In drei Menschenaltern war eine der ältesten und zivilisirtesten Bevölkerungen Asiens dem Gebot einer jungen europäischen Nation unterworfen worden. Die Erde hat viele gewaltige Eroberer gesehen, mächtige Reiche sind im Laufe der Jahrtausende entstanden und wieder ver¬ gangen; aber soweit die Geschichte zurückreicht, nirgends zeigt sie uns ein gleich seltsames Bild. Die große Monarchie Alexanders zerbröckelte mit dem Tode ihres Stifters; der Staat Napoleons zerfiel rascher, als er entstanden war; aber die Macht der Engländer in Indien weist nach drei Jahrzehnten ruhigen Bestandes keine Anzeichen des Verfalls auf. Das Mittelmeerreich Hadrians war das Ergebnis vierhundertjähriger Anstrengungen der ungezählten Legionen Roms; im fernen Indien hat eine Handvoll britischer Truppen in einem viel kürzern Zeitraum eine viel größere Herrschaft begründet. Cortez erfocht seine

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/552
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/552>, abgerufen am 01.09.2024.