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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Zur Beurteilung der Bode/ireformbesrrebuilge"

haben, zu entfernen. Auch ich würde mich an der Sache vorbeidrücken, wenn
ich mich vor Wespenstichen fürchtete. Malthus Gegner gehen davon aus, daß
die Kultur mit der Zunahme der Bevölkerung begonnen hat, eine Wahrheit,
die von keinem bestritten wird. Wer aber möchte in Abrede stellen, daß die
lebenschaffenden und lebenfördernden Kräfte, inS Unendliche gesteigert, an einem
Pnnkte ankommen müssen, wo sie in ihr Gegenteil umschlagen? Wer mit
offnen Sinnen durch die Arbeiterviertel unsrer Großstädte geht, wird schwer¬
lich behaupten, daß das Anwachse" der Bevölkerung unter allen Umständen
einen Kulturfortschritt bedeute. Aber es ist nun einmal Mode geworden, auf
Malthus zu schmähen, statt ihn zu widerlegen. Ganz natürlich; denn der
Satz: "Zur Vermehrung seines Geschlechtes durch einen mächtigen Instinkt
angetrieben, wird der Mensch aufgehalten durch die Vernunft, die ihm vor¬
stellt, daß er kein Wesen in die Welt bringen darf, zu dessen Erhaltung und
Erziehung ihm die Mittel fehlen" -- dieser Satz läßt sich eben nicht wider¬
legen. George und, ihm folgend, die deutschen Bodenreformer verfalle" in deu
Irrtum, daß sie für die Ertragfähigkeit des Bodens keine Grenze annehmen
und über die Schranke, die der Produktivnssteigerung des Erdreichs von der
Rat"r gesetzt ist, mit einem bewundrungswürdigen Saltomortale hinweg¬
springe". "Je nichr Hände, desto mehr Arbeitskraft, je mehr Arbeitskraft,
desto mehr Nahrungsmittel" -- das ist die Kette ihrer Schlüsse, um der das
schwache Glied zu entdecken ich wohl dem Leser überlasse" darf.

Der Anwalt der deutsche" Bodeubesitzreform, den die Grenzboten haben
zum Worte kommen lassen, besprach am Schluß seiner Ausführungen das Ver¬
hältnis seiner Partei zur Sozialdemokratie; er legte dieses Verhältnis richtig
so dar, daß die Bvdenbesitzrefvrmer nur eine Verstaatlichung des Bodens, die
Sozialdemokraten dagegen auch die Vergesellschaftung sämtlicher Produktions¬
mittel auf ihr Programm geschrieben hätten. Die Verwunderung darüber, daß
die Sozialdemokratie, anstatt mit der Bodenbesitzreforin eine Strecke Wegs zu¬
sammenzugehen, sie geradezu totschweige, war unbegründet. Daß die Anhänger
Bebels so lange über diesen Punkt geschwiegen haben, ist aus verschiednen Ur¬
sachen zu erklären, von denen die wichtigste jedenfalls die ist, daß es der
Svzialdemvkmtie zunächst darum zu thun war, mit Hilfe des famosen Ncichs-
tagswahlrechts die großen Müssen der Industriearbeiter als gehorsame Ba¬
taillone unter ihrer Fahne zu sammeln, während sie es für gut hielt, die länd¬
liche Bevölkerung, die zähe an ihrem wenn auch noch so kleinen oder noch so
sehr belasteten Besitz festhält, vor der Hand nicht durch die laute Forderung
der Bodeukonfiskation kopfscheu zu machen. Jetzt, wo das erste Ziel erreicht
scheint, wendet man sich offen zum zweiten: auf dem Kongreß zu Zürich wurde
die Vergesellschaftung des Grund und Bodens mit klare" Worte" als Grundsatz
der internationalen Sozialdemokratie aufgestellt. Die Bodeubesitzreform fühlt
sich durch die Gesellschaft, mit der sie hier a" einem Seile zieht, offenbar des-


Zur Beurteilung der Bode/ireformbesrrebuilge»

haben, zu entfernen. Auch ich würde mich an der Sache vorbeidrücken, wenn
ich mich vor Wespenstichen fürchtete. Malthus Gegner gehen davon aus, daß
die Kultur mit der Zunahme der Bevölkerung begonnen hat, eine Wahrheit,
die von keinem bestritten wird. Wer aber möchte in Abrede stellen, daß die
lebenschaffenden und lebenfördernden Kräfte, inS Unendliche gesteigert, an einem
Pnnkte ankommen müssen, wo sie in ihr Gegenteil umschlagen? Wer mit
offnen Sinnen durch die Arbeiterviertel unsrer Großstädte geht, wird schwer¬
lich behaupten, daß das Anwachse» der Bevölkerung unter allen Umständen
einen Kulturfortschritt bedeute. Aber es ist nun einmal Mode geworden, auf
Malthus zu schmähen, statt ihn zu widerlegen. Ganz natürlich; denn der
Satz: „Zur Vermehrung seines Geschlechtes durch einen mächtigen Instinkt
angetrieben, wird der Mensch aufgehalten durch die Vernunft, die ihm vor¬
stellt, daß er kein Wesen in die Welt bringen darf, zu dessen Erhaltung und
Erziehung ihm die Mittel fehlen" — dieser Satz läßt sich eben nicht wider¬
legen. George und, ihm folgend, die deutschen Bodenreformer verfalle» in deu
Irrtum, daß sie für die Ertragfähigkeit des Bodens keine Grenze annehmen
und über die Schranke, die der Produktivnssteigerung des Erdreichs von der
Rat»r gesetzt ist, mit einem bewundrungswürdigen Saltomortale hinweg¬
springe». „Je nichr Hände, desto mehr Arbeitskraft, je mehr Arbeitskraft,
desto mehr Nahrungsmittel" — das ist die Kette ihrer Schlüsse, um der das
schwache Glied zu entdecken ich wohl dem Leser überlasse» darf.

Der Anwalt der deutsche» Bodeubesitzreform, den die Grenzboten haben
zum Worte kommen lassen, besprach am Schluß seiner Ausführungen das Ver¬
hältnis seiner Partei zur Sozialdemokratie; er legte dieses Verhältnis richtig
so dar, daß die Bvdenbesitzrefvrmer nur eine Verstaatlichung des Bodens, die
Sozialdemokraten dagegen auch die Vergesellschaftung sämtlicher Produktions¬
mittel auf ihr Programm geschrieben hätten. Die Verwunderung darüber, daß
die Sozialdemokratie, anstatt mit der Bodenbesitzreforin eine Strecke Wegs zu¬
sammenzugehen, sie geradezu totschweige, war unbegründet. Daß die Anhänger
Bebels so lange über diesen Punkt geschwiegen haben, ist aus verschiednen Ur¬
sachen zu erklären, von denen die wichtigste jedenfalls die ist, daß es der
Svzialdemvkmtie zunächst darum zu thun war, mit Hilfe des famosen Ncichs-
tagswahlrechts die großen Müssen der Industriearbeiter als gehorsame Ba¬
taillone unter ihrer Fahne zu sammeln, während sie es für gut hielt, die länd¬
liche Bevölkerung, die zähe an ihrem wenn auch noch so kleinen oder noch so
sehr belasteten Besitz festhält, vor der Hand nicht durch die laute Forderung
der Bodeukonfiskation kopfscheu zu machen. Jetzt, wo das erste Ziel erreicht
scheint, wendet man sich offen zum zweiten: auf dem Kongreß zu Zürich wurde
die Vergesellschaftung des Grund und Bodens mit klare» Worte» als Grundsatz
der internationalen Sozialdemokratie aufgestellt. Die Bodeubesitzreform fühlt
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/549>, abgerufen am 23.11.2024.