Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Maßregel kaun sich der Leser selbst ausmale"; jedenfalls wird er in dieser
Richtung nicht die Bahnen sehen, auf denen sich die Weiterentwicklung der
Kultur zu vollziehen hat. Die völlige Abschließung gegen das Ausland würde,
wenn sie überhaupt deutbar wäre, einen Rückschritt bedeuten, der uns mit
Siebenmeilenstiefeln wieder in die Zustände der Barbarei brächte; tausende
von Adern, durch die gegenwärtig der dentschen Volkswirtschaft ein leben¬
förderndes und krafterzeugendes Blut zuströmt, würden unterbunden werden.
Auf manches freilich könnten wir verzichten, was lediglich zur Verfeinerung
des Lebens gehört ^ andre nennen zwar auch das ein Bedürfnis, und daß
der Mensch überhaupt fähig ist, sich früher nicht vvrhandne Bedürfnisse an¬
zugewöhnen oder anzuquülen, betrachten ja viele als die erste Triebfeder des
menschlichen Fortschritts. Aber auf die Zufuhr der im Auslande erzeugten
Nnhrnngsmittel können wir bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge nicht
mehr verzichten; eine Steigerung der Auswanderung und das Zurückgehen
der Geburten unter die Sterbefälle würden die unausbleibliche Folge sein. Und
wer dagegen verlangen wollte, daß die Industrie eine nennenswerte Zahl von
arbeitskräftigen Händen an die Landwirtschaft abgeben solle, der möge zuvor
die Frage beantworten, womit das deutsche Volk, um von andern notwendigen
Dingen zu schweigen, die Baumwolle bezahlen soll, von der wir in der letzten
Zeit jährlich im Durchschnitt für 214 Millionen Mark bei uns eingeführt
haben, und ohne die wir nicht mehr auskommen können, weil Klima und
Polizei die Anwendung jener einfachen Kleidung verbieten, mit der sich die para¬
diesische Menschheit zufrieden gab. Wie gesagt, gegen fremde Weine, Austern,
Pariser Litteratur und ähnliche Waren könnten wir unsre Grenzen zur Not ab¬
sperren, aber die 4,55 Kilogramm Baumwolle, die 2,69 Kilogramm Reis, die
3,53 Kilogramm Heringe, die 14,71 Kilogramm Petroleum, die im Jahre 1892
in Deutschland auf den Kopf der Bevölkerung verbraucht worden sind, können
wir nicht entbehren, und der Teil der Bevölkerung, der in der Industrie thätig
ist, setzt uns in den Stand, diese notwendigen Dinge zu bezahlen.")

Eher könnte man daran denken, daß von den 5,3 Prozent unproduktiven
Bodens noch einiges in Anbau genommen werden könnte, oder daß von den
20,3 Prozent Wiesenland und von den 25,7 Prozent, die der deutsche Wald
bedeckt, "och ein Teil an das Ackerland abzugeben wäre. Aber auch das hat
seine Grenze,"") und es wird auch niemand behaupten wollen, daß sich durch
derartige Flickmittel jemals die große Getreidekammer füllen ließe, aus der
unsre ftinfzig Millionen zu speisen sind. Mehr dürfte schon herauskommen,




Die Gesamteinsnhr überwog im Jahre 1892 die Ausfuhr >"" 1076 Millionen Mark.
Für die Bestimmung dieser Grenze ist es von Interesse, zu erfahren, daß das deutsche
Reich i" dem Verhältnis des Ackerlandes zur Gesamtfläche "ur von Frankreich um 1,6 Pro¬
zent und von Belgien um 0,7 Prozent übertroffen wird, während die übrige" Kulturländer
in dieser Hinsicht hinter Deutschland zurückbleiben, so Osterreich (ohne Ungarn) um 11,7Prozent.

Maßregel kaun sich der Leser selbst ausmale»; jedenfalls wird er in dieser
Richtung nicht die Bahnen sehen, auf denen sich die Weiterentwicklung der
Kultur zu vollziehen hat. Die völlige Abschließung gegen das Ausland würde,
wenn sie überhaupt deutbar wäre, einen Rückschritt bedeuten, der uns mit
Siebenmeilenstiefeln wieder in die Zustände der Barbarei brächte; tausende
von Adern, durch die gegenwärtig der dentschen Volkswirtschaft ein leben¬
förderndes und krafterzeugendes Blut zuströmt, würden unterbunden werden.
Auf manches freilich könnten wir verzichten, was lediglich zur Verfeinerung
des Lebens gehört ^ andre nennen zwar auch das ein Bedürfnis, und daß
der Mensch überhaupt fähig ist, sich früher nicht vvrhandne Bedürfnisse an¬
zugewöhnen oder anzuquülen, betrachten ja viele als die erste Triebfeder des
menschlichen Fortschritts. Aber auf die Zufuhr der im Auslande erzeugten
Nnhrnngsmittel können wir bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge nicht
mehr verzichten; eine Steigerung der Auswanderung und das Zurückgehen
der Geburten unter die Sterbefälle würden die unausbleibliche Folge sein. Und
wer dagegen verlangen wollte, daß die Industrie eine nennenswerte Zahl von
arbeitskräftigen Händen an die Landwirtschaft abgeben solle, der möge zuvor
die Frage beantworten, womit das deutsche Volk, um von andern notwendigen
Dingen zu schweigen, die Baumwolle bezahlen soll, von der wir in der letzten
Zeit jährlich im Durchschnitt für 214 Millionen Mark bei uns eingeführt
haben, und ohne die wir nicht mehr auskommen können, weil Klima und
Polizei die Anwendung jener einfachen Kleidung verbieten, mit der sich die para¬
diesische Menschheit zufrieden gab. Wie gesagt, gegen fremde Weine, Austern,
Pariser Litteratur und ähnliche Waren könnten wir unsre Grenzen zur Not ab¬
sperren, aber die 4,55 Kilogramm Baumwolle, die 2,69 Kilogramm Reis, die
3,53 Kilogramm Heringe, die 14,71 Kilogramm Petroleum, die im Jahre 1892
in Deutschland auf den Kopf der Bevölkerung verbraucht worden sind, können
wir nicht entbehren, und der Teil der Bevölkerung, der in der Industrie thätig
ist, setzt uns in den Stand, diese notwendigen Dinge zu bezahlen.")

Eher könnte man daran denken, daß von den 5,3 Prozent unproduktiven
Bodens noch einiges in Anbau genommen werden könnte, oder daß von den
20,3 Prozent Wiesenland und von den 25,7 Prozent, die der deutsche Wald
bedeckt, »och ein Teil an das Ackerland abzugeben wäre. Aber auch das hat
seine Grenze,"") und es wird auch niemand behaupten wollen, daß sich durch
derartige Flickmittel jemals die große Getreidekammer füllen ließe, aus der
unsre ftinfzig Millionen zu speisen sind. Mehr dürfte schon herauskommen,




Die Gesamteinsnhr überwog im Jahre 1892 die Ausfuhr >»» 1076 Millionen Mark.
Für die Bestimmung dieser Grenze ist es von Interesse, zu erfahren, daß das deutsche
Reich i» dem Verhältnis des Ackerlandes zur Gesamtfläche »ur von Frankreich um 1,6 Pro¬
zent und von Belgien um 0,7 Prozent übertroffen wird, während die übrige» Kulturländer
in dieser Hinsicht hinter Deutschland zurückbleiben, so Osterreich (ohne Ungarn) um 11,7Prozent.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0543" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215633"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1878" prev="#ID_1877"> Maßregel kaun sich der Leser selbst ausmale»; jedenfalls wird er in dieser<lb/>
Richtung nicht die Bahnen sehen, auf denen sich die Weiterentwicklung der<lb/>
Kultur zu vollziehen hat. Die völlige Abschließung gegen das Ausland würde,<lb/>
wenn sie überhaupt deutbar wäre, einen Rückschritt bedeuten, der uns mit<lb/>
Siebenmeilenstiefeln wieder in die Zustände der Barbarei brächte; tausende<lb/>
von Adern, durch die gegenwärtig der dentschen Volkswirtschaft ein leben¬<lb/>
förderndes und krafterzeugendes Blut zuströmt, würden unterbunden werden.<lb/>
Auf manches freilich könnten wir verzichten, was lediglich zur Verfeinerung<lb/>
des Lebens gehört ^ andre nennen zwar auch das ein Bedürfnis, und daß<lb/>
der Mensch überhaupt fähig ist, sich früher nicht vvrhandne Bedürfnisse an¬<lb/>
zugewöhnen oder anzuquülen, betrachten ja viele als die erste Triebfeder des<lb/>
menschlichen Fortschritts. Aber auf die Zufuhr der im Auslande erzeugten<lb/>
Nnhrnngsmittel können wir bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge nicht<lb/>
mehr verzichten; eine Steigerung der Auswanderung und das Zurückgehen<lb/>
der Geburten unter die Sterbefälle würden die unausbleibliche Folge sein. Und<lb/>
wer dagegen verlangen wollte, daß die Industrie eine nennenswerte Zahl von<lb/>
arbeitskräftigen Händen an die Landwirtschaft abgeben solle, der möge zuvor<lb/>
die Frage beantworten, womit das deutsche Volk, um von andern notwendigen<lb/>
Dingen zu schweigen, die Baumwolle bezahlen soll, von der wir in der letzten<lb/>
Zeit jährlich im Durchschnitt für 214 Millionen Mark bei uns eingeführt<lb/>
haben, und ohne die wir nicht mehr auskommen können, weil Klima und<lb/>
Polizei die Anwendung jener einfachen Kleidung verbieten, mit der sich die para¬<lb/>
diesische Menschheit zufrieden gab. Wie gesagt, gegen fremde Weine, Austern,<lb/>
Pariser Litteratur und ähnliche Waren könnten wir unsre Grenzen zur Not ab¬<lb/>
sperren, aber die 4,55 Kilogramm Baumwolle, die 2,69 Kilogramm Reis, die<lb/>
3,53 Kilogramm Heringe, die 14,71 Kilogramm Petroleum, die im Jahre 1892<lb/>
in Deutschland auf den Kopf der Bevölkerung verbraucht worden sind, können<lb/>
wir nicht entbehren, und der Teil der Bevölkerung, der in der Industrie thätig<lb/>
ist, setzt uns in den Stand, diese notwendigen Dinge zu bezahlen.")</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1879" next="#ID_1880"> Eher könnte man daran denken, daß von den 5,3 Prozent unproduktiven<lb/>
Bodens noch einiges in Anbau genommen werden könnte, oder daß von den<lb/>
20,3 Prozent Wiesenland und von den 25,7 Prozent, die der deutsche Wald<lb/>
bedeckt, »och ein Teil an das Ackerland abzugeben wäre. Aber auch das hat<lb/>
seine Grenze,"") und es wird auch niemand behaupten wollen, daß sich durch<lb/>
derartige Flickmittel jemals die große Getreidekammer füllen ließe, aus der<lb/>
unsre ftinfzig Millionen zu speisen sind.  Mehr dürfte schon herauskommen,</p><lb/>
          <note xml:id="FID_72" place="foot"> Die Gesamteinsnhr überwog im Jahre 1892 die Ausfuhr &gt;»» 1076 Millionen Mark.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_73" place="foot"> Für die Bestimmung dieser Grenze ist es von Interesse, zu erfahren, daß das deutsche<lb/>
Reich i» dem Verhältnis des Ackerlandes zur Gesamtfläche »ur von Frankreich um 1,6 Pro¬<lb/>
zent und von Belgien um 0,7 Prozent übertroffen wird, während die übrige» Kulturländer<lb/>
in dieser Hinsicht hinter Deutschland zurückbleiben, so Osterreich (ohne Ungarn) um 11,7Prozent.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0543] Maßregel kaun sich der Leser selbst ausmale»; jedenfalls wird er in dieser Richtung nicht die Bahnen sehen, auf denen sich die Weiterentwicklung der Kultur zu vollziehen hat. Die völlige Abschließung gegen das Ausland würde, wenn sie überhaupt deutbar wäre, einen Rückschritt bedeuten, der uns mit Siebenmeilenstiefeln wieder in die Zustände der Barbarei brächte; tausende von Adern, durch die gegenwärtig der dentschen Volkswirtschaft ein leben¬ förderndes und krafterzeugendes Blut zuströmt, würden unterbunden werden. Auf manches freilich könnten wir verzichten, was lediglich zur Verfeinerung des Lebens gehört ^ andre nennen zwar auch das ein Bedürfnis, und daß der Mensch überhaupt fähig ist, sich früher nicht vvrhandne Bedürfnisse an¬ zugewöhnen oder anzuquülen, betrachten ja viele als die erste Triebfeder des menschlichen Fortschritts. Aber auf die Zufuhr der im Auslande erzeugten Nnhrnngsmittel können wir bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge nicht mehr verzichten; eine Steigerung der Auswanderung und das Zurückgehen der Geburten unter die Sterbefälle würden die unausbleibliche Folge sein. Und wer dagegen verlangen wollte, daß die Industrie eine nennenswerte Zahl von arbeitskräftigen Händen an die Landwirtschaft abgeben solle, der möge zuvor die Frage beantworten, womit das deutsche Volk, um von andern notwendigen Dingen zu schweigen, die Baumwolle bezahlen soll, von der wir in der letzten Zeit jährlich im Durchschnitt für 214 Millionen Mark bei uns eingeführt haben, und ohne die wir nicht mehr auskommen können, weil Klima und Polizei die Anwendung jener einfachen Kleidung verbieten, mit der sich die para¬ diesische Menschheit zufrieden gab. Wie gesagt, gegen fremde Weine, Austern, Pariser Litteratur und ähnliche Waren könnten wir unsre Grenzen zur Not ab¬ sperren, aber die 4,55 Kilogramm Baumwolle, die 2,69 Kilogramm Reis, die 3,53 Kilogramm Heringe, die 14,71 Kilogramm Petroleum, die im Jahre 1892 in Deutschland auf den Kopf der Bevölkerung verbraucht worden sind, können wir nicht entbehren, und der Teil der Bevölkerung, der in der Industrie thätig ist, setzt uns in den Stand, diese notwendigen Dinge zu bezahlen.") Eher könnte man daran denken, daß von den 5,3 Prozent unproduktiven Bodens noch einiges in Anbau genommen werden könnte, oder daß von den 20,3 Prozent Wiesenland und von den 25,7 Prozent, die der deutsche Wald bedeckt, »och ein Teil an das Ackerland abzugeben wäre. Aber auch das hat seine Grenze,"") und es wird auch niemand behaupten wollen, daß sich durch derartige Flickmittel jemals die große Getreidekammer füllen ließe, aus der unsre ftinfzig Millionen zu speisen sind. Mehr dürfte schon herauskommen, Die Gesamteinsnhr überwog im Jahre 1892 die Ausfuhr >»» 1076 Millionen Mark. Für die Bestimmung dieser Grenze ist es von Interesse, zu erfahren, daß das deutsche Reich i» dem Verhältnis des Ackerlandes zur Gesamtfläche »ur von Frankreich um 1,6 Pro¬ zent und von Belgien um 0,7 Prozent übertroffen wird, während die übrige» Kulturländer in dieser Hinsicht hinter Deutschland zurückbleiben, so Osterreich (ohne Ungarn) um 11,7Prozent.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/543
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/543>, abgerufen am 24.11.2024.