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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Bilder aus dem Ivesten

äußern schwerlich von der Polizei geduldet werden würde. In einem Vortrage,
der die scharfe Grenze des Bellamismus und des Kommunismus hervorhob,
horte ich Sätze wie die folgenden, noch dazu von einer schwächlichen, jungen
Dame in schwarzem Seidenkleide vorgetragen: "Eine Maschine, die mehr Ar¬
beit absorbirt, als sie leistet, ist schädlich" -- "Wirtschaftliche Moral ist
vernünftiger Egoismus" -- "Es bedarf nur der vollkommenen Gleichberech¬
tigung, um Überfluß zu schaffen für alle." Nach diesen und ähnlichen Fest¬
stellungen der wirtschaftlichen Gesetze der Solidarität der Interessen, wie sie
Hertzka und Bellamy lehren, kam die Rednerin zu folgenden den Kommu¬
nismus und den Nihilismus verurteilenden Schlußsätzen: "Der Kommu¬
nismus ist die Nutzanwendung, die der Hunger aus dem Satze zieht, daß
die Arbeit der Menschheit nicht ausreicht, Überfluß für alle zu erzeugen,"
und: "Der Nihilismus ist die Schlußfolgerung der Verzweiflung, die aus der
Lehre sprießt, daß Kultur und Zivilisation unvereinbar seien mit wirtschaft¬
licher Gleichberechtigung." Ähnliche scharf zugespitzte Sätze, die es mir gelang
nachzuschreiben, schlössen auch einen zweiten Vortrag über die Ehe: "In Bel-
lamhs Staat, den wir gründen wollen, giebt es keinen andern Schutz der
Ehe, als den, der in der gegenseitigen Zuneigung der Gatten liegt." Über
die Auflösung der Ehe, die da, wo sie am meisten erleichtert sei, am
seltensten ausgeführt werde, hieß es schließlich: "Der Schauder vor dem
Gedanken, einem ungeliebten Wesen angehören zu müssen, verträgt sich
mit ehelicher Treue uicht bloß sehr wohl, sondern ist geradezu aus der
höchsten und reinsten Auffassung der Ehe hervorgegangen." Am Ende
der Besprechung einigte man sich in dem Gedanken der Ausführ¬
barkeit des Vellamyschen Zukunftsbildes, wie sie durch Hertzlas Rechen-
exempel nachgewiesen sei, natürlich unter Ausmerzung gewisser Unmöglich¬
keiten.

Der Gesamteindruck, den ich aus diesen Abenden mitnahm, war der,
daß ich es hier mit Leuten zu thun hatte, die nicht durch konventionelle
Schranken an der Durchführung ihrer Gedanken auf Schritt und Tritt ge¬
hindert waren, daß hier ein Denkerbund heranwuchs, mindestens ebenbürtig
denen auf den Akademien Europas, nur mit dem Unterschiede, daß er aus
jüngern, thatkräftigern, cntschlossneren Leuten bestand, von denen man eines
schnellern Überganges zur That gewärtig sein durfte.

Dies ist die Aristokratie des Geistes im Westen gegenüber der Geldaristo¬
kratie, die jene Jndcpcndenee-Avenue bewohnt. Nur wenige davon haben ihr
Heim dort. Die meisten bewohnen billigere Viertel, viele davon recht be¬
scheidne. Manche sind Lehrer oder Lehrerinnen an öffentlichen Schulen oder
gehören dem Post- oder Telegraphendienst um, andre sind Musiker von Fach.
Der in Europa so abfällig beurteilte Mangel ein Kunstsinn und Kunstgeschmack
bei deu Amerikanern, das möchte ich nebenbei bemerken, ist wie der Mangel


Bilder aus dem Ivesten

äußern schwerlich von der Polizei geduldet werden würde. In einem Vortrage,
der die scharfe Grenze des Bellamismus und des Kommunismus hervorhob,
horte ich Sätze wie die folgenden, noch dazu von einer schwächlichen, jungen
Dame in schwarzem Seidenkleide vorgetragen: „Eine Maschine, die mehr Ar¬
beit absorbirt, als sie leistet, ist schädlich" — „Wirtschaftliche Moral ist
vernünftiger Egoismus" — „Es bedarf nur der vollkommenen Gleichberech¬
tigung, um Überfluß zu schaffen für alle." Nach diesen und ähnlichen Fest¬
stellungen der wirtschaftlichen Gesetze der Solidarität der Interessen, wie sie
Hertzka und Bellamy lehren, kam die Rednerin zu folgenden den Kommu¬
nismus und den Nihilismus verurteilenden Schlußsätzen: „Der Kommu¬
nismus ist die Nutzanwendung, die der Hunger aus dem Satze zieht, daß
die Arbeit der Menschheit nicht ausreicht, Überfluß für alle zu erzeugen,"
und: „Der Nihilismus ist die Schlußfolgerung der Verzweiflung, die aus der
Lehre sprießt, daß Kultur und Zivilisation unvereinbar seien mit wirtschaft¬
licher Gleichberechtigung." Ähnliche scharf zugespitzte Sätze, die es mir gelang
nachzuschreiben, schlössen auch einen zweiten Vortrag über die Ehe: „In Bel-
lamhs Staat, den wir gründen wollen, giebt es keinen andern Schutz der
Ehe, als den, der in der gegenseitigen Zuneigung der Gatten liegt." Über
die Auflösung der Ehe, die da, wo sie am meisten erleichtert sei, am
seltensten ausgeführt werde, hieß es schließlich: „Der Schauder vor dem
Gedanken, einem ungeliebten Wesen angehören zu müssen, verträgt sich
mit ehelicher Treue uicht bloß sehr wohl, sondern ist geradezu aus der
höchsten und reinsten Auffassung der Ehe hervorgegangen." Am Ende
der Besprechung einigte man sich in dem Gedanken der Ausführ¬
barkeit des Vellamyschen Zukunftsbildes, wie sie durch Hertzlas Rechen-
exempel nachgewiesen sei, natürlich unter Ausmerzung gewisser Unmöglich¬
keiten.

Der Gesamteindruck, den ich aus diesen Abenden mitnahm, war der,
daß ich es hier mit Leuten zu thun hatte, die nicht durch konventionelle
Schranken an der Durchführung ihrer Gedanken auf Schritt und Tritt ge¬
hindert waren, daß hier ein Denkerbund heranwuchs, mindestens ebenbürtig
denen auf den Akademien Europas, nur mit dem Unterschiede, daß er aus
jüngern, thatkräftigern, cntschlossneren Leuten bestand, von denen man eines
schnellern Überganges zur That gewärtig sein durfte.

Dies ist die Aristokratie des Geistes im Westen gegenüber der Geldaristo¬
kratie, die jene Jndcpcndenee-Avenue bewohnt. Nur wenige davon haben ihr
Heim dort. Die meisten bewohnen billigere Viertel, viele davon recht be¬
scheidne. Manche sind Lehrer oder Lehrerinnen an öffentlichen Schulen oder
gehören dem Post- oder Telegraphendienst um, andre sind Musiker von Fach.
Der in Europa so abfällig beurteilte Mangel ein Kunstsinn und Kunstgeschmack
bei deu Amerikanern, das möchte ich nebenbei bemerken, ist wie der Mangel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/53>, abgerufen am 02.09.2024.