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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

in die Hände einer gemischten Welt kommen, und er hat daher Ursache, sich
in Acht zu nehmen, daß er der Mehrzahl guter Menschen durch eine zu große
Offenheit kein Ärgernis gebe. Und dann ist die Zeit ein wunderlich Ding.
Sie ist ein Thrann, der seine Launen hat, und der zu dem, was einer sagt
und thut, in jedem Jahrhundert ein ander Gesicht macht. Was den alten
Griechen zu sagen erlaubt war, will uns zu sagen nicht mehr anstehen, und
was Shakespeares kräftigen Menschen durchaus anmutete, kann der Engländer
von 1820 nicht mehr ertragen, sodaß ein I^mil^-Lllglce-spsars ein gefühltes
Bedürfnis wird." Und am 29. Januar 1826 äußerte Eckermann: "Ich möchte
etwas darum geben, wenn ich die Molivreschen Stücke in ihrer gauzeu Rein¬
heit auf der Bühne sehen könnte; allein dem Publikum, wie ich es kenne, muß
dergleichen viel zu stark und natürlich sein. Sollte Überverfeinerung nicht von
der sogenannten idealen Litteratur gewisser Autoren herrühren?" Goethe er¬
widerte: "Nein, sie kommt aus der Gesellschaft selbst. Und dann, was thun
unsre jungen Mädchen im Theater? Sie gehören gar nicht hinein, sie gehören
ins Kloster, und das Theater ist bloß für Männer und Frauen, die mit mensch¬
lichen Dingen bekannt sind. Als Moliöre schrieb, waren die Mädchen im
Kloster, und er hatte auf sie gar keine Rücksicht zu nehmen." Daß der Alt¬
meister die Mädchen ins Kloster sperren wollte, war nicht hübsch von ihm
und für sein damaliges Alter ein wenig unbedacht; aber darin hat er unzweifel¬
haft Recht, daß sie nicht ins Theater gehören, und daß es in mehr als einer
Vcziehnng um die Litteratur geschehen ist, wenn sie sich den Bedürfnissen der
jungen Mädchen anbequemen soll.

Karl August Böttiger teilt in seinen Aufzeichnungen^) unterm 22. Januar
1799 folgendes mit. "Goethe äußerte gegen Wieland, daß die ursprüngliche
einzige ?i3 eoinic-g, in den Obscönitüten und Anspielungen auf Geschlechtsver-
hältnisfe liege und von der Komödie gar nicht entfernt gedacht werden könne.
Darum sei Aristophanes der Gott der alten Kvmödicndichter -- sagte Wieland --,
und darum hätten wir eigentlich gar kein Lustspiel mehr. Es ist auch wahr,
daß selbst der strengste, ernsteste Mann, sobald er es unbemerkt thun darf, bei
einem glücklichen Einfall aus dieser Fundgrube des Witzes, der den Bettler
wie den König belustigt, seine Stirne entrunzelt, und daß diesem Universal¬
mittel aus Demokrits Apotheke eigentlich kein Sterblicher widerstehen kann."
Daß das Obseöne in der Komödie das Ursprüngliche ist, damit haben die beiden
alten Herren allerdings Recht, aber daß es nicht unentbehrlich sei, Hütten sie
doch schon ans Molle-re lernen können. Und je breiter das Leben strömt, und
je verwickelter die Verhältnisse werden, desto zahlreicher werden die Narren
und die Kontraste, die Stoff zum Lache" geben. Die Komödie also kann,
wenn sie nicht durchaus Bauernposse sein soll, das Unanständige schon ent-



Litterarische Zustände und Zeitgenossen. Leipzig, Brockhaus, 1833. 1. Bd. S. 238.
Die ätherische Volksmoral im Drama

in die Hände einer gemischten Welt kommen, und er hat daher Ursache, sich
in Acht zu nehmen, daß er der Mehrzahl guter Menschen durch eine zu große
Offenheit kein Ärgernis gebe. Und dann ist die Zeit ein wunderlich Ding.
Sie ist ein Thrann, der seine Launen hat, und der zu dem, was einer sagt
und thut, in jedem Jahrhundert ein ander Gesicht macht. Was den alten
Griechen zu sagen erlaubt war, will uns zu sagen nicht mehr anstehen, und
was Shakespeares kräftigen Menschen durchaus anmutete, kann der Engländer
von 1820 nicht mehr ertragen, sodaß ein I^mil^-Lllglce-spsars ein gefühltes
Bedürfnis wird." Und am 29. Januar 1826 äußerte Eckermann: „Ich möchte
etwas darum geben, wenn ich die Molivreschen Stücke in ihrer gauzeu Rein¬
heit auf der Bühne sehen könnte; allein dem Publikum, wie ich es kenne, muß
dergleichen viel zu stark und natürlich sein. Sollte Überverfeinerung nicht von
der sogenannten idealen Litteratur gewisser Autoren herrühren?" Goethe er¬
widerte: „Nein, sie kommt aus der Gesellschaft selbst. Und dann, was thun
unsre jungen Mädchen im Theater? Sie gehören gar nicht hinein, sie gehören
ins Kloster, und das Theater ist bloß für Männer und Frauen, die mit mensch¬
lichen Dingen bekannt sind. Als Moliöre schrieb, waren die Mädchen im
Kloster, und er hatte auf sie gar keine Rücksicht zu nehmen." Daß der Alt¬
meister die Mädchen ins Kloster sperren wollte, war nicht hübsch von ihm
und für sein damaliges Alter ein wenig unbedacht; aber darin hat er unzweifel¬
haft Recht, daß sie nicht ins Theater gehören, und daß es in mehr als einer
Vcziehnng um die Litteratur geschehen ist, wenn sie sich den Bedürfnissen der
jungen Mädchen anbequemen soll.

Karl August Böttiger teilt in seinen Aufzeichnungen^) unterm 22. Januar
1799 folgendes mit. „Goethe äußerte gegen Wieland, daß die ursprüngliche
einzige ?i3 eoinic-g, in den Obscönitüten und Anspielungen auf Geschlechtsver-
hältnisfe liege und von der Komödie gar nicht entfernt gedacht werden könne.
Darum sei Aristophanes der Gott der alten Kvmödicndichter — sagte Wieland —,
und darum hätten wir eigentlich gar kein Lustspiel mehr. Es ist auch wahr,
daß selbst der strengste, ernsteste Mann, sobald er es unbemerkt thun darf, bei
einem glücklichen Einfall aus dieser Fundgrube des Witzes, der den Bettler
wie den König belustigt, seine Stirne entrunzelt, und daß diesem Universal¬
mittel aus Demokrits Apotheke eigentlich kein Sterblicher widerstehen kann."
Daß das Obseöne in der Komödie das Ursprüngliche ist, damit haben die beiden
alten Herren allerdings Recht, aber daß es nicht unentbehrlich sei, Hütten sie
doch schon ans Molle-re lernen können. Und je breiter das Leben strömt, und
je verwickelter die Verhältnisse werden, desto zahlreicher werden die Narren
und die Kontraste, die Stoff zum Lache» geben. Die Komödie also kann,
wenn sie nicht durchaus Bauernposse sein soll, das Unanständige schon ent-



Litterarische Zustände und Zeitgenossen. Leipzig, Brockhaus, 1833. 1. Bd. S. 238.
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[0518] Die ätherische Volksmoral im Drama in die Hände einer gemischten Welt kommen, und er hat daher Ursache, sich in Acht zu nehmen, daß er der Mehrzahl guter Menschen durch eine zu große Offenheit kein Ärgernis gebe. Und dann ist die Zeit ein wunderlich Ding. Sie ist ein Thrann, der seine Launen hat, und der zu dem, was einer sagt und thut, in jedem Jahrhundert ein ander Gesicht macht. Was den alten Griechen zu sagen erlaubt war, will uns zu sagen nicht mehr anstehen, und was Shakespeares kräftigen Menschen durchaus anmutete, kann der Engländer von 1820 nicht mehr ertragen, sodaß ein I^mil^-Lllglce-spsars ein gefühltes Bedürfnis wird." Und am 29. Januar 1826 äußerte Eckermann: „Ich möchte etwas darum geben, wenn ich die Molivreschen Stücke in ihrer gauzeu Rein¬ heit auf der Bühne sehen könnte; allein dem Publikum, wie ich es kenne, muß dergleichen viel zu stark und natürlich sein. Sollte Überverfeinerung nicht von der sogenannten idealen Litteratur gewisser Autoren herrühren?" Goethe er¬ widerte: „Nein, sie kommt aus der Gesellschaft selbst. Und dann, was thun unsre jungen Mädchen im Theater? Sie gehören gar nicht hinein, sie gehören ins Kloster, und das Theater ist bloß für Männer und Frauen, die mit mensch¬ lichen Dingen bekannt sind. Als Moliöre schrieb, waren die Mädchen im Kloster, und er hatte auf sie gar keine Rücksicht zu nehmen." Daß der Alt¬ meister die Mädchen ins Kloster sperren wollte, war nicht hübsch von ihm und für sein damaliges Alter ein wenig unbedacht; aber darin hat er unzweifel¬ haft Recht, daß sie nicht ins Theater gehören, und daß es in mehr als einer Vcziehnng um die Litteratur geschehen ist, wenn sie sich den Bedürfnissen der jungen Mädchen anbequemen soll. Karl August Böttiger teilt in seinen Aufzeichnungen^) unterm 22. Januar 1799 folgendes mit. „Goethe äußerte gegen Wieland, daß die ursprüngliche einzige ?i3 eoinic-g, in den Obscönitüten und Anspielungen auf Geschlechtsver- hältnisfe liege und von der Komödie gar nicht entfernt gedacht werden könne. Darum sei Aristophanes der Gott der alten Kvmödicndichter — sagte Wieland —, und darum hätten wir eigentlich gar kein Lustspiel mehr. Es ist auch wahr, daß selbst der strengste, ernsteste Mann, sobald er es unbemerkt thun darf, bei einem glücklichen Einfall aus dieser Fundgrube des Witzes, der den Bettler wie den König belustigt, seine Stirne entrunzelt, und daß diesem Universal¬ mittel aus Demokrits Apotheke eigentlich kein Sterblicher widerstehen kann." Daß das Obseöne in der Komödie das Ursprüngliche ist, damit haben die beiden alten Herren allerdings Recht, aber daß es nicht unentbehrlich sei, Hütten sie doch schon ans Molle-re lernen können. Und je breiter das Leben strömt, und je verwickelter die Verhältnisse werden, desto zahlreicher werden die Narren und die Kontraste, die Stoff zum Lache» geben. Die Komödie also kann, wenn sie nicht durchaus Bauernposse sein soll, das Unanständige schon ent- Litterarische Zustände und Zeitgenossen. Leipzig, Brockhaus, 1833. 1. Bd. S. 238.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/518>, abgerufen am 01.09.2024.