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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische volksmoral im Drama

Über das Wohlgefallen am Menschenleibe im allgemeinen. Max Diez, dessen
Theorie des Gefühls vor einiger Zeit in den Grenzboten mit Anerkennung
erwähnt worden ist, beweist, daß der Mensch und das Menschenleben nur im
Kunstwerk ästhetisch genossen werden dürfen. Denn nur die Natur dürften
wir als Mittel für unsre Zwecke verwenden, nicht den Menschen, der Selbst¬
zweck sei. Der Satz wirkt deswegen sehr überzeugend, weil ihn Dietz mit zwei
ganz unanfechtbaren Beispielen stützt. "Es wäre unsittlich, einen Menschen
rein als ästhetisches Objekt zu betrachten. Es kommt mir immer als eine
Barbarei vor, wenn ich einen Menschen sagen höre: eine schöne Fran! während
der Blick über die Formen gleitet." Gewiß! Wer eine anständige Frau beschaut,
wie ein Maler sein Modell, der ist ein frecher Kerl. Aber ist es überhaupt
unerlaubt, zu sagen: eine schöne Frau? Wollen nicht alle Frauen für schön
gehalten werden? Heben sie nicht ihre Schönheit dnrch Anzug und Putz her¬
vor? Auf das "rein" muß der Ton gelegt werden. Eine anständige Frau
will zuerst als Persönlichkeit geschätzt werden, und sie bloß als ästhetisches
Objekt ansehen, das wäre eine schwere Beleidigung.") "Der Mann -- sagt
Diez weiter --, der imstande wäre, die Bewegung der Menschengeschicke bloß
darauf anzusehen, wiefern die Betrachtung ihm Vergnügen macht, wiefern der
dem Geschick jammervoll unterliegende "malerisch im Todeskampfe stirbt," wäre
ein moralisches Ungeheuer." Gewiß! Ein solcher würde sich nicht mit Trauer¬
spielen begnügen, sondern zu seinem Vergnüge" Gladiatoren und Hinrichtungen
verlangen. Aber ist es nicht erlaubt, sich am Anblick eines tüchtigen Mannes
und seines Wirkens zu erfreuen, auch wenn man an dem, was er wirkt, gar
kein persönliches oder vaterländisches oder sonst gemeinnütziges Interesse hat
-- er mag z. B. ein ausländischer Staatsmann sein --, wenn also die Freude
rein ästhetischer Natur ist? Alle Menschen, nur die allerärmsten und ohn¬
mächtigsten ausgenommen, gebrauchen andre, die meisten einander gegenseitig
immerfort als Mittel, und ohne dieses gegenseitige Benutzen ist gar keine Ge¬
sellschaft denkbar. Unsittlich wird es erst dann, wenn jemand den Nächsten
gegen dessen Willen gebraucht, oder wenn er ihn durch die Benutzung schädigt.
Nach dem von Diez aufgestellten Grundsätze würden nicht allein das Ballet
und der Zirkus, die ja allerdings sittliche Bedenken gegen sich haben, un¬
sittlich sein, sondern auch schon der Ball, bei dem doch der Anblick schöner
Mädchen und Frauen wesentlich zum Vergnügen der Herren gehört; wenigstens
glaube ich nicht, daß ein Ball zustande käme, wenn zufällig alle Teilnehmerinnen
grundhäßlich wären. Und find denn Abbildungen des Menschen möglich, ohne
daß Modelle gebraucht und vom Künstler mit den Augen genossen werden?



"°) Nämlich, wenn es sich um eine bekannte Frau handelt; eine völlig unbekannte
können wir gar nicht anders, als nach ihrer äußern Erscheinung, d. h. also als ästhetisches
Objekt schätzen, womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß freches Anschauen ihr gegenüber
erlaubt wäre.
Die ätherische volksmoral im Drama

Über das Wohlgefallen am Menschenleibe im allgemeinen. Max Diez, dessen
Theorie des Gefühls vor einiger Zeit in den Grenzboten mit Anerkennung
erwähnt worden ist, beweist, daß der Mensch und das Menschenleben nur im
Kunstwerk ästhetisch genossen werden dürfen. Denn nur die Natur dürften
wir als Mittel für unsre Zwecke verwenden, nicht den Menschen, der Selbst¬
zweck sei. Der Satz wirkt deswegen sehr überzeugend, weil ihn Dietz mit zwei
ganz unanfechtbaren Beispielen stützt. „Es wäre unsittlich, einen Menschen
rein als ästhetisches Objekt zu betrachten. Es kommt mir immer als eine
Barbarei vor, wenn ich einen Menschen sagen höre: eine schöne Fran! während
der Blick über die Formen gleitet." Gewiß! Wer eine anständige Frau beschaut,
wie ein Maler sein Modell, der ist ein frecher Kerl. Aber ist es überhaupt
unerlaubt, zu sagen: eine schöne Frau? Wollen nicht alle Frauen für schön
gehalten werden? Heben sie nicht ihre Schönheit dnrch Anzug und Putz her¬
vor? Auf das „rein" muß der Ton gelegt werden. Eine anständige Frau
will zuerst als Persönlichkeit geschätzt werden, und sie bloß als ästhetisches
Objekt ansehen, das wäre eine schwere Beleidigung.") „Der Mann — sagt
Diez weiter —, der imstande wäre, die Bewegung der Menschengeschicke bloß
darauf anzusehen, wiefern die Betrachtung ihm Vergnügen macht, wiefern der
dem Geschick jammervoll unterliegende »malerisch im Todeskampfe stirbt,« wäre
ein moralisches Ungeheuer." Gewiß! Ein solcher würde sich nicht mit Trauer¬
spielen begnügen, sondern zu seinem Vergnüge» Gladiatoren und Hinrichtungen
verlangen. Aber ist es nicht erlaubt, sich am Anblick eines tüchtigen Mannes
und seines Wirkens zu erfreuen, auch wenn man an dem, was er wirkt, gar
kein persönliches oder vaterländisches oder sonst gemeinnütziges Interesse hat
— er mag z. B. ein ausländischer Staatsmann sein —, wenn also die Freude
rein ästhetischer Natur ist? Alle Menschen, nur die allerärmsten und ohn¬
mächtigsten ausgenommen, gebrauchen andre, die meisten einander gegenseitig
immerfort als Mittel, und ohne dieses gegenseitige Benutzen ist gar keine Ge¬
sellschaft denkbar. Unsittlich wird es erst dann, wenn jemand den Nächsten
gegen dessen Willen gebraucht, oder wenn er ihn durch die Benutzung schädigt.
Nach dem von Diez aufgestellten Grundsätze würden nicht allein das Ballet
und der Zirkus, die ja allerdings sittliche Bedenken gegen sich haben, un¬
sittlich sein, sondern auch schon der Ball, bei dem doch der Anblick schöner
Mädchen und Frauen wesentlich zum Vergnügen der Herren gehört; wenigstens
glaube ich nicht, daß ein Ball zustande käme, wenn zufällig alle Teilnehmerinnen
grundhäßlich wären. Und find denn Abbildungen des Menschen möglich, ohne
daß Modelle gebraucht und vom Künstler mit den Augen genossen werden?



"°) Nämlich, wenn es sich um eine bekannte Frau handelt; eine völlig unbekannte
können wir gar nicht anders, als nach ihrer äußern Erscheinung, d. h. also als ästhetisches
Objekt schätzen, womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß freches Anschauen ihr gegenüber
erlaubt wäre.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/516>, abgerufen am 27.11.2024.