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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Rni^-um corcla!

Was nun da geschehen kann und muß? Man könnte sagen: ihr müßt
eben den Mut und die Energie haben, euch durchzuschlagen. Aber mit solch
einem kategorischen Imperativ würden wir nicht weit kommen. Dem Handeln
müßte erst das Erkennen vorangehen. Dazu könnte Erziehung, Unterricht, die
ganze Auffassung und Gesinnung, die durch beides mitgeteilt werden soll, bei¬
tragen, indem der Mittelpunkt, die Hauptaufgabe unsers Seins als nicht in
der Erscheinungswelt liegend gezeigt und dementsprechend alle Fähigkeiten
geleitet würden. Aber woher soll eine solche Erziehung kommen, wenn die
Erziehenden großenteils selber nicht so sind? Diese Erziehungsgedanken könnten
auch erst dem. neuesten Geschlecht zu gute kommen. Eine solche Umkehr muß
eben freiwillig sein, wie Schopenhauer in gar nicht übel gewählten Ausdrücken
von der "Umkehr des durch Erkennen beleuchteten Willens" spricht. Das ist
der erste Schritt, den jeder allein, selbständig, freiwillig thun muß: die gründ¬
liche Prüfung des innern Lebens und die Empfindung der geistigen Leere ohne
Glauben. Wo diese Empfindung wach geworden ist, da wird man bald den
Versuch aufgeben, die Leere durch materielle Güter, durch Gegenstände der
Erfahrung, auf die Kunst und Wissenschaft angewiesen sind, auszufüllen, da
wird die Einsicht Raum gewinnen, die zu fördern der Zweck unsrer Be¬
trachtungen war: die Einsicht in die transeendentalc Natur unsers Geistes,
der deshalb als Leben des Geistes ein Hinausgehen über die Erfahrung ent¬
sprechen muß. Wer so weit gekommen ist, wer wirklich transeendentalc Ziele
und Wege des Erkennens sucht, der möge nicht, als Grund der Unmöglichkeit,
sie zu finden, unsre vorhin erhobnen Anschuldigungen gegen die Philosophie
und Theologie vorbringen. Es ist wahr, wer in dieser Weise sucht, gedrängt
durch ernste innere Erfahrungen, der wird schwerlich dnrch die Theologie, wie
sie in unsrer Zeit die Kirche und kirchliche Gemeinschaft beherrscht, festen Grund
und dauernde Befriedigung finden- Doch ist deshalb eine Trennung von der kirch¬
lichen Gemeinschaft nicht notwendig, im Gegenteil, man sollte sie, um die Autorität
der Religion im Volke aufrecht zu erhalten, möglichst vermeiden; wein der An¬
schluß an die Kirche auch nicht viel Gewinn bringen kann, dem wird er doch
nicht schaden. Aber im Christentum selber, nuabhüugig von der heutigen
Theologie, vou deu heutigen kirchlichen Formen, unabhängig von einzelnen,
schwer zu bewältigenden Dogmen, im Christentum des Evangeliums ist so
viel reine Wahrheit in so einfacher Fassung enthalte", daß sie für alle Menschen
und für alle Zeiten ausreicht. Mau mache mir den ernstlichen Versuch eines
gewissenhaften, gründlichen, fortgesetzten Studiums, ohne vorgefaßte Meinung,
ohne blasirte Kritisirsncht, von dem reinen, aufrichtigen Verlangen nach Wahr¬
heit beseelt, und man wird staunen über die Höhen und Tiefen in diesen so
mitleidig belächelten Schriften, belächelt am meisten von denen, die sie am
wenigsten kennen. Und wem es um eine Aussöhmmg von Glauben und
Denken zu thun ist, der wird auch in der Philosophie älterer und neuerer


Rni^-um corcla!

Was nun da geschehen kann und muß? Man könnte sagen: ihr müßt
eben den Mut und die Energie haben, euch durchzuschlagen. Aber mit solch
einem kategorischen Imperativ würden wir nicht weit kommen. Dem Handeln
müßte erst das Erkennen vorangehen. Dazu könnte Erziehung, Unterricht, die
ganze Auffassung und Gesinnung, die durch beides mitgeteilt werden soll, bei¬
tragen, indem der Mittelpunkt, die Hauptaufgabe unsers Seins als nicht in
der Erscheinungswelt liegend gezeigt und dementsprechend alle Fähigkeiten
geleitet würden. Aber woher soll eine solche Erziehung kommen, wenn die
Erziehenden großenteils selber nicht so sind? Diese Erziehungsgedanken könnten
auch erst dem. neuesten Geschlecht zu gute kommen. Eine solche Umkehr muß
eben freiwillig sein, wie Schopenhauer in gar nicht übel gewählten Ausdrücken
von der „Umkehr des durch Erkennen beleuchteten Willens" spricht. Das ist
der erste Schritt, den jeder allein, selbständig, freiwillig thun muß: die gründ¬
liche Prüfung des innern Lebens und die Empfindung der geistigen Leere ohne
Glauben. Wo diese Empfindung wach geworden ist, da wird man bald den
Versuch aufgeben, die Leere durch materielle Güter, durch Gegenstände der
Erfahrung, auf die Kunst und Wissenschaft angewiesen sind, auszufüllen, da
wird die Einsicht Raum gewinnen, die zu fördern der Zweck unsrer Be¬
trachtungen war: die Einsicht in die transeendentalc Natur unsers Geistes,
der deshalb als Leben des Geistes ein Hinausgehen über die Erfahrung ent¬
sprechen muß. Wer so weit gekommen ist, wer wirklich transeendentalc Ziele
und Wege des Erkennens sucht, der möge nicht, als Grund der Unmöglichkeit,
sie zu finden, unsre vorhin erhobnen Anschuldigungen gegen die Philosophie
und Theologie vorbringen. Es ist wahr, wer in dieser Weise sucht, gedrängt
durch ernste innere Erfahrungen, der wird schwerlich dnrch die Theologie, wie
sie in unsrer Zeit die Kirche und kirchliche Gemeinschaft beherrscht, festen Grund
und dauernde Befriedigung finden- Doch ist deshalb eine Trennung von der kirch¬
lichen Gemeinschaft nicht notwendig, im Gegenteil, man sollte sie, um die Autorität
der Religion im Volke aufrecht zu erhalten, möglichst vermeiden; wein der An¬
schluß an die Kirche auch nicht viel Gewinn bringen kann, dem wird er doch
nicht schaden. Aber im Christentum selber, nuabhüugig von der heutigen
Theologie, vou deu heutigen kirchlichen Formen, unabhängig von einzelnen,
schwer zu bewältigenden Dogmen, im Christentum des Evangeliums ist so
viel reine Wahrheit in so einfacher Fassung enthalte», daß sie für alle Menschen
und für alle Zeiten ausreicht. Mau mache mir den ernstlichen Versuch eines
gewissenhaften, gründlichen, fortgesetzten Studiums, ohne vorgefaßte Meinung,
ohne blasirte Kritisirsncht, von dem reinen, aufrichtigen Verlangen nach Wahr¬
heit beseelt, und man wird staunen über die Höhen und Tiefen in diesen so
mitleidig belächelten Schriften, belächelt am meisten von denen, die sie am
wenigsten kennen. Und wem es um eine Aussöhmmg von Glauben und
Denken zu thun ist, der wird auch in der Philosophie älterer und neuerer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/499>, abgerufen am 24.11.2024.