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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Lharles Kingsley als Dichter und Sozialreformer

liegt es, und vielleicht in ihr allein, die Wunden Herzen zu heilen und den
Gefangnen Befreiung zu verkündigen!" Von der Kirche in ihrer jetzigen Ge¬
stalt erwartet er, der Pfarrer, nichts. Er vermißt unter den Predigern die
Charaktere, er sieht zu viel Schönredner und Kirchenbeamte auf den Kanzeln
und im höhern Kirchenregiment zu viel einseitige Gelehrte und Büreaukraten.
"Wann wird der Pastor begreifen, daß seine Kraft im Handeln, uicht im Be¬
weisen liegt? Will er die Massen wieder bekehren, so muß es durch edle
Thaten geschehen, und wie Carlhle sagt, nicht durch lärmende theoretische
Lobsprüche für eine Kirche, sondern durch stille praktische Beweise der einen
Kirche." Kingsleh giebt zu, daß es in neuerer Zeit unter den Geistlichen
besser geworden sei, aber in politischen und sozialen Dingen seien sie fast alle
noch so unwissend, bigott und aristokratisch wie jemals. Fast glaubt er, daß
die Künste mehr als die Kirche zur Versöhnung der Gegensätze im Volke bei¬
tragen könnten. Eine besonders hohe Mission schreibt er der Malerei zu; nach
seiner Ansicht giebt es keine machtvollere, das Menschengeschlecht mehr be¬
einflussende und beherrschende Kunst als die Malerei. "Wahrlich - ruft Akkon
vor Rafaels Fischzug aus --, Gemälde sind die Bücher der Umgekehrten, auch
der falsch belehrten. Herrlicher Rafael! Du Shakespeare des Südens! Mäch¬
tiger Prediger, dessen himmlischer Eingebung es verliehen war, in alle Menschen-
Herzen zu schauen, in Form und Farbe alle geistigen Wahrheiten zu ver¬
körpern, die deu Protestanten wie den Papisten, dem einfachen Arbeiter wie
dem Weisen gemeinsam gehören -- o möchte ich dir vor Gottes Thron be¬
gegnen, wäre es auch nur, um dir für dies eine Bild zu danken, worin du
mir mit einem Blick meine ganze eigne Seelengeschichte offenbart hast!"

^Iton I.o<zlcö übte denn auch eine ungeheure Wirkung ans. Die rücksichts¬
lose Enthüllung der Krebsschäden der Gesellschaft, die naturalistische Schilderung
der grauenhaften Zustände in den Londoner Arbeitervierteln, die stürmischen
Anklagen gegen das Kapital, gegen Staat und Kirche erregten besonders unter
der Jugend einen Sturm des Beifalls. Aber sie fand much eine Menge ab¬
lehnender Kritiken und boshafter Entgegnungen. Die I^lindurglr Revier, die
Zeitschrift des Mauchestertums, sagte von dem Roman: it iidonnäs in xg-ssg-ggs
ok >vit"1 Anet unvdg.8de!no(I slociusnes. Sie spricht von zwecklosen Deklamationen
und verurteilt die Sprache ^vllioll LüiristiNi 5oLlinA "mal sellol-u-I^ wsts uro.8t
ooinismu. In der That finden wir in ^.Iton I^ooKs Stellen von einer
Kraft, wie sie uns uur noch in Zolas (Z^rillinüü begegnet. In der ganzen
englischen Litteratur giebt es kaum eine furchtbarere Schilderung als die von
Jenny Downes Wohnung in einer elenden Sackgasse von Bermondsey. "Was
für ein Zimmer! Ein niedriger Raum mit schiefen Holzwänden, ohne ein
einziges Stück Hausgerät. Durch breite Spalten im Fußboden drang von
unten ein Schein herauf, als ob uns häßliche, funkelnde Augen anstarrten.
Es war der Widerschein eines Lichtes unten im Kanal. Der Gestank war


Lharles Kingsley als Dichter und Sozialreformer

liegt es, und vielleicht in ihr allein, die Wunden Herzen zu heilen und den
Gefangnen Befreiung zu verkündigen!" Von der Kirche in ihrer jetzigen Ge¬
stalt erwartet er, der Pfarrer, nichts. Er vermißt unter den Predigern die
Charaktere, er sieht zu viel Schönredner und Kirchenbeamte auf den Kanzeln
und im höhern Kirchenregiment zu viel einseitige Gelehrte und Büreaukraten.
»Wann wird der Pastor begreifen, daß seine Kraft im Handeln, uicht im Be¬
weisen liegt? Will er die Massen wieder bekehren, so muß es durch edle
Thaten geschehen, und wie Carlhle sagt, nicht durch lärmende theoretische
Lobsprüche für eine Kirche, sondern durch stille praktische Beweise der einen
Kirche." Kingsleh giebt zu, daß es in neuerer Zeit unter den Geistlichen
besser geworden sei, aber in politischen und sozialen Dingen seien sie fast alle
noch so unwissend, bigott und aristokratisch wie jemals. Fast glaubt er, daß
die Künste mehr als die Kirche zur Versöhnung der Gegensätze im Volke bei¬
tragen könnten. Eine besonders hohe Mission schreibt er der Malerei zu; nach
seiner Ansicht giebt es keine machtvollere, das Menschengeschlecht mehr be¬
einflussende und beherrschende Kunst als die Malerei. „Wahrlich - ruft Akkon
vor Rafaels Fischzug aus —, Gemälde sind die Bücher der Umgekehrten, auch
der falsch belehrten. Herrlicher Rafael! Du Shakespeare des Südens! Mäch¬
tiger Prediger, dessen himmlischer Eingebung es verliehen war, in alle Menschen-
Herzen zu schauen, in Form und Farbe alle geistigen Wahrheiten zu ver¬
körpern, die deu Protestanten wie den Papisten, dem einfachen Arbeiter wie
dem Weisen gemeinsam gehören — o möchte ich dir vor Gottes Thron be¬
gegnen, wäre es auch nur, um dir für dies eine Bild zu danken, worin du
mir mit einem Blick meine ganze eigne Seelengeschichte offenbart hast!"

^Iton I.o<zlcö übte denn auch eine ungeheure Wirkung ans. Die rücksichts¬
lose Enthüllung der Krebsschäden der Gesellschaft, die naturalistische Schilderung
der grauenhaften Zustände in den Londoner Arbeitervierteln, die stürmischen
Anklagen gegen das Kapital, gegen Staat und Kirche erregten besonders unter
der Jugend einen Sturm des Beifalls. Aber sie fand much eine Menge ab¬
lehnender Kritiken und boshafter Entgegnungen. Die I^lindurglr Revier, die
Zeitschrift des Mauchestertums, sagte von dem Roman: it iidonnäs in xg-ssg-ggs
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und verurteilt die Sprache ^vllioll LüiristiNi 5oLlinA »mal sellol-u-I^ wsts uro.8t
ooinismu. In der That finden wir in ^.Iton I^ooKs Stellen von einer
Kraft, wie sie uns uur noch in Zolas (Z^rillinüü begegnet. In der ganzen
englischen Litteratur giebt es kaum eine furchtbarere Schilderung als die von
Jenny Downes Wohnung in einer elenden Sackgasse von Bermondsey. „Was
für ein Zimmer! Ein niedriger Raum mit schiefen Holzwänden, ohne ein
einziges Stück Hausgerät. Durch breite Spalten im Fußboden drang von
unten ein Schein herauf, als ob uns häßliche, funkelnde Augen anstarrten.
Es war der Widerschein eines Lichtes unten im Kanal. Der Gestank war


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/455>, abgerufen am 27.11.2024.