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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Der liberale Gedanke von dem freien Spiele der Kräfte im wirtschaftlichen
Leben hat im Volle alles Ansehen verloren, das Volk sehnt sich nach neuen
berussgeuossenschastlichen Organisationen, nach staatlichem Eingriff zu Gunsten
der wirtschaftlich Schwachen, nach Beseitigung der Auswüchse einer das all¬
gemeine Interesse überwuchernden, schrankenlosen persönlichen Freiheit, und so¬
lange leine andre Partei dawar, die dieser Sehnsucht Ausdruck verlieh, wendete
es sich der Sozialdemokratie zu. Wer aufmerksam hinsah, bemerkte leicht, daß
die Sozialdemokratie von Jahr zu Jahr mehr Eingang fand im deutschen
Mittelstande, daß die untern Beamten, die um ihre Existenz schwer ringenden
kleinern, selbständigen Handwerker mit zunehmender Bereitwilligkeit ihren
Lockungen Gehör liehen, daß schon längst die Sozialdemokratie weder eine
bloße Partei der Lohnarbeiter noch eine Partei des Proletariats war.

Die schwerste Gefahr, die uns droht, liegt darin, daß wir, statt uns
endgiltig loszureißen von dem liberalen Manchestertnm und jede Brücke, die
zu ihm hinführt, abzubrechen, uns in unverständiger Angst vor der Sozial¬
demokratie immer wieder dazu verleiten lassen, ihm die Hand zu reichen.
Während es sich darum handelt, dem versinkendem Mittelstände aufzuhelfen
und dadurch zu verhindern, daß er weiter der Sozialdemokratie verfällt,
glauben zahlreiche, sonst verständige Politiker in dem Zusammenschluß aller
staatserhaltenden Parteien das Heilmittel gefunden zu haben, und merken nicht,
wie dieser Zusammenschluß nnr dazu sührt, dem in Wirklichkeit toten Man¬
chestertnm noch ein Scheindasein zu erhalten und der Sozialdemokratie neue
Waffen und neue Siege zu verschaffe". Die Sozialdemokratie selbst ist über
diese Lage der Dinge völlig im klaren, und ihre Zeitungen sprechen es mit
überraschender Deutlichkeit aus. Erst jüngst hat das Hamburger "Echo" ge¬
rade bei Besprechung der erwähnten Äußerung Beuuigsens ausgeführt: "So
weiß Herr von Bennigsen uicht, daß die Sozialdemokratie wünscht, der Hader
der bürgerlichen Parteien möge aufhören! Wir haben an diesem Hader nicht
das geringste Interesse. Unser aufrichtiger, so oft zum Ausdruck gebrachter
Wunsch geht dahin, die bürgerlichen Parteien möchten sich so bald als möglich
zu einer einzigen zusammenschließen. Das würde eine Klärung des Partei¬
kampfs bedeuten, die der Sozialdemokratie nur zum Vorteil gereichen könnte.
Unsre Partei hat keinen Grund, den Zusammenschluß der bürgerlichen Ele¬
mente zu fürchten; erst wenn er erfolgt sein wird, kann die Sozialdemokratie
in beschleunigtem Tempo der endgiltigen Entscheidung entgegengehn." Es ist
das nicht zu leugnende Verdienst der antisemitischen oder, wie wir sie lieber
nennen hören, der deutschsozialeu Partei, dies erkannt und dort eingesetzt zu
haben, wo allein wirksam gegenüber der Sozialdemokratie eingesetzt werden
konnte.

Von konservativer Seite wird vielfach über die antisemitischen Demagogen
und über den Einbruch des Antisemitismus in die konservativen Parteiverbände


Der liberale Gedanke von dem freien Spiele der Kräfte im wirtschaftlichen
Leben hat im Volle alles Ansehen verloren, das Volk sehnt sich nach neuen
berussgeuossenschastlichen Organisationen, nach staatlichem Eingriff zu Gunsten
der wirtschaftlich Schwachen, nach Beseitigung der Auswüchse einer das all¬
gemeine Interesse überwuchernden, schrankenlosen persönlichen Freiheit, und so¬
lange leine andre Partei dawar, die dieser Sehnsucht Ausdruck verlieh, wendete
es sich der Sozialdemokratie zu. Wer aufmerksam hinsah, bemerkte leicht, daß
die Sozialdemokratie von Jahr zu Jahr mehr Eingang fand im deutschen
Mittelstande, daß die untern Beamten, die um ihre Existenz schwer ringenden
kleinern, selbständigen Handwerker mit zunehmender Bereitwilligkeit ihren
Lockungen Gehör liehen, daß schon längst die Sozialdemokratie weder eine
bloße Partei der Lohnarbeiter noch eine Partei des Proletariats war.

Die schwerste Gefahr, die uns droht, liegt darin, daß wir, statt uns
endgiltig loszureißen von dem liberalen Manchestertnm und jede Brücke, die
zu ihm hinführt, abzubrechen, uns in unverständiger Angst vor der Sozial¬
demokratie immer wieder dazu verleiten lassen, ihm die Hand zu reichen.
Während es sich darum handelt, dem versinkendem Mittelstände aufzuhelfen
und dadurch zu verhindern, daß er weiter der Sozialdemokratie verfällt,
glauben zahlreiche, sonst verständige Politiker in dem Zusammenschluß aller
staatserhaltenden Parteien das Heilmittel gefunden zu haben, und merken nicht,
wie dieser Zusammenschluß nnr dazu sührt, dem in Wirklichkeit toten Man¬
chestertnm noch ein Scheindasein zu erhalten und der Sozialdemokratie neue
Waffen und neue Siege zu verschaffe». Die Sozialdemokratie selbst ist über
diese Lage der Dinge völlig im klaren, und ihre Zeitungen sprechen es mit
überraschender Deutlichkeit aus. Erst jüngst hat das Hamburger „Echo" ge¬
rade bei Besprechung der erwähnten Äußerung Beuuigsens ausgeführt: „So
weiß Herr von Bennigsen uicht, daß die Sozialdemokratie wünscht, der Hader
der bürgerlichen Parteien möge aufhören! Wir haben an diesem Hader nicht
das geringste Interesse. Unser aufrichtiger, so oft zum Ausdruck gebrachter
Wunsch geht dahin, die bürgerlichen Parteien möchten sich so bald als möglich
zu einer einzigen zusammenschließen. Das würde eine Klärung des Partei¬
kampfs bedeuten, die der Sozialdemokratie nur zum Vorteil gereichen könnte.
Unsre Partei hat keinen Grund, den Zusammenschluß der bürgerlichen Ele¬
mente zu fürchten; erst wenn er erfolgt sein wird, kann die Sozialdemokratie
in beschleunigtem Tempo der endgiltigen Entscheidung entgegengehn." Es ist
das nicht zu leugnende Verdienst der antisemitischen oder, wie wir sie lieber
nennen hören, der deutschsozialeu Partei, dies erkannt und dort eingesetzt zu
haben, wo allein wirksam gegenüber der Sozialdemokratie eingesetzt werden
konnte.

Von konservativer Seite wird vielfach über die antisemitischen Demagogen
und über den Einbruch des Antisemitismus in die konservativen Parteiverbände


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[0394] Der liberale Gedanke von dem freien Spiele der Kräfte im wirtschaftlichen Leben hat im Volle alles Ansehen verloren, das Volk sehnt sich nach neuen berussgeuossenschastlichen Organisationen, nach staatlichem Eingriff zu Gunsten der wirtschaftlich Schwachen, nach Beseitigung der Auswüchse einer das all¬ gemeine Interesse überwuchernden, schrankenlosen persönlichen Freiheit, und so¬ lange leine andre Partei dawar, die dieser Sehnsucht Ausdruck verlieh, wendete es sich der Sozialdemokratie zu. Wer aufmerksam hinsah, bemerkte leicht, daß die Sozialdemokratie von Jahr zu Jahr mehr Eingang fand im deutschen Mittelstande, daß die untern Beamten, die um ihre Existenz schwer ringenden kleinern, selbständigen Handwerker mit zunehmender Bereitwilligkeit ihren Lockungen Gehör liehen, daß schon längst die Sozialdemokratie weder eine bloße Partei der Lohnarbeiter noch eine Partei des Proletariats war. Die schwerste Gefahr, die uns droht, liegt darin, daß wir, statt uns endgiltig loszureißen von dem liberalen Manchestertnm und jede Brücke, die zu ihm hinführt, abzubrechen, uns in unverständiger Angst vor der Sozial¬ demokratie immer wieder dazu verleiten lassen, ihm die Hand zu reichen. Während es sich darum handelt, dem versinkendem Mittelstände aufzuhelfen und dadurch zu verhindern, daß er weiter der Sozialdemokratie verfällt, glauben zahlreiche, sonst verständige Politiker in dem Zusammenschluß aller staatserhaltenden Parteien das Heilmittel gefunden zu haben, und merken nicht, wie dieser Zusammenschluß nnr dazu sührt, dem in Wirklichkeit toten Man¬ chestertnm noch ein Scheindasein zu erhalten und der Sozialdemokratie neue Waffen und neue Siege zu verschaffe». Die Sozialdemokratie selbst ist über diese Lage der Dinge völlig im klaren, und ihre Zeitungen sprechen es mit überraschender Deutlichkeit aus. Erst jüngst hat das Hamburger „Echo" ge¬ rade bei Besprechung der erwähnten Äußerung Beuuigsens ausgeführt: „So weiß Herr von Bennigsen uicht, daß die Sozialdemokratie wünscht, der Hader der bürgerlichen Parteien möge aufhören! Wir haben an diesem Hader nicht das geringste Interesse. Unser aufrichtiger, so oft zum Ausdruck gebrachter Wunsch geht dahin, die bürgerlichen Parteien möchten sich so bald als möglich zu einer einzigen zusammenschließen. Das würde eine Klärung des Partei¬ kampfs bedeuten, die der Sozialdemokratie nur zum Vorteil gereichen könnte. Unsre Partei hat keinen Grund, den Zusammenschluß der bürgerlichen Ele¬ mente zu fürchten; erst wenn er erfolgt sein wird, kann die Sozialdemokratie in beschleunigtem Tempo der endgiltigen Entscheidung entgegengehn." Es ist das nicht zu leugnende Verdienst der antisemitischen oder, wie wir sie lieber nennen hören, der deutschsozialeu Partei, dies erkannt und dort eingesetzt zu haben, wo allein wirksam gegenüber der Sozialdemokratie eingesetzt werden konnte. Von konservativer Seite wird vielfach über die antisemitischen Demagogen und über den Einbruch des Antisemitismus in die konservativen Parteiverbände

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/394>, abgerufen am 27.07.2024.