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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Line Nacht auf dem Brocken

mußte überall sein, wo überhaupt jemand war. Ob einer geköpft wurde, ob
bei einem Feuerwerk auf dem See eine Brücke unter der Last der Menschen
zusammenbrach, ob am "Sechsilüte" Narreteidinge getrieben wurden, oder ob
man am Tage von Sempach mit feierlichem Ernst immer wieder der Freiheit
eine Gasse brach -- üllerall mußte ich dabei sein. Da fehlte ich natürlich
auch nicht unter den vielen tausend Zürichern, die in der Himmelfahrtsnacht
auf den geliebten Ütliberg pilgern -- pilgerten, muß es wohl heißen, denn
jetzt geht dort auch die unvermeidliche Eisenbahn. Das war ein wonniger
Nachtmarsch, viele Stunden lang, immer mit dem erhebenden Bewußtsein, daß
sich da unten in dumpfer Kammer die Welt träger, erschlaffender Ruhe hin¬
gab. Endlich, kurz vor dem Ereignis des Tages, war man oben. Schon
schimmerte es verdächtig im Osten. Aber wo bleiben? Der ganze Berg
war zur Feier des Tages schwarz vou Menschen. Da war kein Plätzchen
mehr unbesetzt, auf dem man das große Schauspiel hätte sehen können. Aber
wann wären wir damals um Rat verlegen gewesen? Wir erkletterten das
Dach des Gasthauses, setzten uns rittlings auf den First und erlebten in dieser
Lage einen Sonnenaufgang, der sich allerdings vor jedem Dichter hätte sehen
lassen können, und der mir noch nach mehr als dreißig Jahren vor der
Seele steht.

Daun war es 1871. Eine wundervolle sternschnnppengesegnete August-
uacht am Rhein. Meine letzte Nacht als Student! Vou Bonn ging es mit
dem Abenddampfer rheinaufwärts. Einige gute Freunde gaben das Geleite.
Und da die Wirtschaft auf dem Drachenfels in der Nacht geschlossen ist, und
wir doch auf dem Drachenfels den Abschied feiern wollten, so begleitete uns
auch ein Bonner Dienstmann mit einem stattlichen Korbe, aus dem uns unter¬
wegs, namentlich beim Aufstieg, etliche mctallverlapselte Flaschenhälse hoffnungs-
reich entgegenleuchteten. Oben lagerten wir uns, sahen den Himmel an mit
seinen vielen Sternschnuppen, wurden wehmütig gestimmt, sangen dann wieder
fröhlich, trauken dazwischen aus ewige Liebe und Treue, und so kam der Morgen.
Als die Sonne ihre ersten Strahlen über unsre Häupter weg, über das Flu߬
thal weg, hinüber in die Berge der Eifel sandte, fielen wir uns gerührt in
die Arme und schieden vou einander. Die Freunde fuhren rheinabwürts, um
noch weiter an den Brüsten der nimm uuitsr zu ruhen, ich fuhr rheinaufwärts,
um fürs Examen zu arbeiten.

Dann war es 1880, in einer Mainacht um ein Uhr. Ich lag 8000 Fuß
hoch am Feuer und schlief. Und ich schlief gut, obwohl ich lag wie weiland
der Erzvater Jakob, einen Stein unter und den weiten Himmel über meinem
Haupte. Da weckten mich die unbarmherzigen Führer. Aber es mußte sein. Denn
wir wollten bis Sonnenaufgang noch etwa 5000 Fuß zurückgelegt haben. Das
gelang auch. Wir waren so früh auf dem Gipfel des Pic vou Teneriffa,
daß wir vor dem eisigen Winde noch eine Zeit lang in dem noch immer nicht


Line Nacht auf dem Brocken

mußte überall sein, wo überhaupt jemand war. Ob einer geköpft wurde, ob
bei einem Feuerwerk auf dem See eine Brücke unter der Last der Menschen
zusammenbrach, ob am „Sechsilüte" Narreteidinge getrieben wurden, oder ob
man am Tage von Sempach mit feierlichem Ernst immer wieder der Freiheit
eine Gasse brach — üllerall mußte ich dabei sein. Da fehlte ich natürlich
auch nicht unter den vielen tausend Zürichern, die in der Himmelfahrtsnacht
auf den geliebten Ütliberg pilgern — pilgerten, muß es wohl heißen, denn
jetzt geht dort auch die unvermeidliche Eisenbahn. Das war ein wonniger
Nachtmarsch, viele Stunden lang, immer mit dem erhebenden Bewußtsein, daß
sich da unten in dumpfer Kammer die Welt träger, erschlaffender Ruhe hin¬
gab. Endlich, kurz vor dem Ereignis des Tages, war man oben. Schon
schimmerte es verdächtig im Osten. Aber wo bleiben? Der ganze Berg
war zur Feier des Tages schwarz vou Menschen. Da war kein Plätzchen
mehr unbesetzt, auf dem man das große Schauspiel hätte sehen können. Aber
wann wären wir damals um Rat verlegen gewesen? Wir erkletterten das
Dach des Gasthauses, setzten uns rittlings auf den First und erlebten in dieser
Lage einen Sonnenaufgang, der sich allerdings vor jedem Dichter hätte sehen
lassen können, und der mir noch nach mehr als dreißig Jahren vor der
Seele steht.

Daun war es 1871. Eine wundervolle sternschnnppengesegnete August-
uacht am Rhein. Meine letzte Nacht als Student! Vou Bonn ging es mit
dem Abenddampfer rheinaufwärts. Einige gute Freunde gaben das Geleite.
Und da die Wirtschaft auf dem Drachenfels in der Nacht geschlossen ist, und
wir doch auf dem Drachenfels den Abschied feiern wollten, so begleitete uns
auch ein Bonner Dienstmann mit einem stattlichen Korbe, aus dem uns unter¬
wegs, namentlich beim Aufstieg, etliche mctallverlapselte Flaschenhälse hoffnungs-
reich entgegenleuchteten. Oben lagerten wir uns, sahen den Himmel an mit
seinen vielen Sternschnuppen, wurden wehmütig gestimmt, sangen dann wieder
fröhlich, trauken dazwischen aus ewige Liebe und Treue, und so kam der Morgen.
Als die Sonne ihre ersten Strahlen über unsre Häupter weg, über das Flu߬
thal weg, hinüber in die Berge der Eifel sandte, fielen wir uns gerührt in
die Arme und schieden vou einander. Die Freunde fuhren rheinabwürts, um
noch weiter an den Brüsten der nimm uuitsr zu ruhen, ich fuhr rheinaufwärts,
um fürs Examen zu arbeiten.

Dann war es 1880, in einer Mainacht um ein Uhr. Ich lag 8000 Fuß
hoch am Feuer und schlief. Und ich schlief gut, obwohl ich lag wie weiland
der Erzvater Jakob, einen Stein unter und den weiten Himmel über meinem
Haupte. Da weckten mich die unbarmherzigen Führer. Aber es mußte sein. Denn
wir wollten bis Sonnenaufgang noch etwa 5000 Fuß zurückgelegt haben. Das
gelang auch. Wir waren so früh auf dem Gipfel des Pic vou Teneriffa,
daß wir vor dem eisigen Winde noch eine Zeit lang in dem noch immer nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/376>, abgerufen am 23.11.2024.