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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische volksinoral im Drama

stattet, klingt dem, der die Dramen gelesen hat, geradezu unverständlich. Von
den sieben Dramen des Aischylos sind drei, von den sieben des Sophokles
ebenfalls drei, von den siebzehn des Euripides zwölf nach einem weiblichen
Charakter oder einem aus Frauen bestehenden Chöre benannt. Wie wäre
denn ein Frauenchor auf der Bühne überhaupt denkbar, wenn die Frauen im
öffentlichen Leben keine Rolle gespielt hätten! Und wie sie geehrt wurden,
das geht doch aus den zu andern Zwecken mitgeteilten Proben schon zur
Genüge hervor. In der Medeia singt der Frauenchor:


In die Tiefe der Weisheit hab' ich mich oft
Schon sinnend versenkt und kühner gekämpst,
Zu durchforschen die Wahrheit, als es geziemt
Dem Geschlechte der Frauen: doch Sinn und Geist
Ward uns auch verliehn, und die Muse besucht,
Lehrt Weisheit uns -- nicht jegliche zwar;
Denn wenige der Art findest du wohl
Aus der Menge heraus;
Wir lieben die Künste der Musen.

Es ist also nicht richtig, daß, wie mau gewöhnlich sagt, nur die Hetären
hätten Geist haben dürfen, obwohl es ganz natürlich ist und zu allen Zeiten
beobachtet werden kann, daß sich emanzipirte Frauen auch in geistiger Be¬
ziehung freier bewegen als Ehefrauen; dem: als emanzipirte Frauen, nicht als
in den Kot getretne Wesen, wie unsre heutigen Prostituirten, haben wir uns
die Hetären zu denken. Und des Aristophcines Lhsistrcite, die durch eine Ver¬
schwörung der Ehefrauen den Frieden erzwungen hat, redet die Abgeordneten
der griechischen Staaten an:


Ich bin ein Weib zwar, aber Geist wohnt auch in mir.
Ich ward mit Mutterwitz uicht schlecht begabt;
Dann hört' ich auch vom Bater und vou Älteren
Manch kluge Wortes) so bin ich nicht schlecht geschult.
Nun will ich euch vornehmen, will euch allzumal
Ausscheiden, wie ihrs wohl verdient. Besprengt ihr nicht
Aus einem Kessel deu Altar als stammverwandt
In Pisa, Phlci, Pytho -- wie viel Orte noch
Sonst nennen könnt' ich, braucht' es hier viel Worte noch?
Giebts nicht Barbaren, Feinde nicht, daß Hellas Garn,
Daß Hellas Männer ihr vertilgt mit Heeresmacht?

"Viele weise Worte kamen auch von Frauen schon," spricht Theseus in den
Schutzflehenden, indem er ans den Rat seiner Mutter Athen hört. Dafür
beobachtet diese auch die dem Weibe geziemende Zurückhaltung; nicht eigen¬
mächtig will sie handeln, "denn alles nur durch Männer auszurichten, ziemt
der weisen Fran.^



*) Welcher Deutsche dächte da uicht an Stanffnchcrs Gertrud!
Die ätherische volksinoral im Drama

stattet, klingt dem, der die Dramen gelesen hat, geradezu unverständlich. Von
den sieben Dramen des Aischylos sind drei, von den sieben des Sophokles
ebenfalls drei, von den siebzehn des Euripides zwölf nach einem weiblichen
Charakter oder einem aus Frauen bestehenden Chöre benannt. Wie wäre
denn ein Frauenchor auf der Bühne überhaupt denkbar, wenn die Frauen im
öffentlichen Leben keine Rolle gespielt hätten! Und wie sie geehrt wurden,
das geht doch aus den zu andern Zwecken mitgeteilten Proben schon zur
Genüge hervor. In der Medeia singt der Frauenchor:


In die Tiefe der Weisheit hab' ich mich oft
Schon sinnend versenkt und kühner gekämpst,
Zu durchforschen die Wahrheit, als es geziemt
Dem Geschlechte der Frauen: doch Sinn und Geist
Ward uns auch verliehn, und die Muse besucht,
Lehrt Weisheit uns — nicht jegliche zwar;
Denn wenige der Art findest du wohl
Aus der Menge heraus;
Wir lieben die Künste der Musen.

Es ist also nicht richtig, daß, wie mau gewöhnlich sagt, nur die Hetären
hätten Geist haben dürfen, obwohl es ganz natürlich ist und zu allen Zeiten
beobachtet werden kann, daß sich emanzipirte Frauen auch in geistiger Be¬
ziehung freier bewegen als Ehefrauen; dem: als emanzipirte Frauen, nicht als
in den Kot getretne Wesen, wie unsre heutigen Prostituirten, haben wir uns
die Hetären zu denken. Und des Aristophcines Lhsistrcite, die durch eine Ver¬
schwörung der Ehefrauen den Frieden erzwungen hat, redet die Abgeordneten
der griechischen Staaten an:


Ich bin ein Weib zwar, aber Geist wohnt auch in mir.
Ich ward mit Mutterwitz uicht schlecht begabt;
Dann hört' ich auch vom Bater und vou Älteren
Manch kluge Wortes) so bin ich nicht schlecht geschult.
Nun will ich euch vornehmen, will euch allzumal
Ausscheiden, wie ihrs wohl verdient. Besprengt ihr nicht
Aus einem Kessel deu Altar als stammverwandt
In Pisa, Phlci, Pytho — wie viel Orte noch
Sonst nennen könnt' ich, braucht' es hier viel Worte noch?
Giebts nicht Barbaren, Feinde nicht, daß Hellas Garn,
Daß Hellas Männer ihr vertilgt mit Heeresmacht?

„Viele weise Worte kamen auch von Frauen schon," spricht Theseus in den
Schutzflehenden, indem er ans den Rat seiner Mutter Athen hört. Dafür
beobachtet diese auch die dem Weibe geziemende Zurückhaltung; nicht eigen¬
mächtig will sie handeln, „denn alles nur durch Männer auszurichten, ziemt
der weisen Fran.^



*) Welcher Deutsche dächte da uicht an Stanffnchcrs Gertrud!
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[0359] Die ätherische volksinoral im Drama stattet, klingt dem, der die Dramen gelesen hat, geradezu unverständlich. Von den sieben Dramen des Aischylos sind drei, von den sieben des Sophokles ebenfalls drei, von den siebzehn des Euripides zwölf nach einem weiblichen Charakter oder einem aus Frauen bestehenden Chöre benannt. Wie wäre denn ein Frauenchor auf der Bühne überhaupt denkbar, wenn die Frauen im öffentlichen Leben keine Rolle gespielt hätten! Und wie sie geehrt wurden, das geht doch aus den zu andern Zwecken mitgeteilten Proben schon zur Genüge hervor. In der Medeia singt der Frauenchor: In die Tiefe der Weisheit hab' ich mich oft Schon sinnend versenkt und kühner gekämpst, Zu durchforschen die Wahrheit, als es geziemt Dem Geschlechte der Frauen: doch Sinn und Geist Ward uns auch verliehn, und die Muse besucht, Lehrt Weisheit uns — nicht jegliche zwar; Denn wenige der Art findest du wohl Aus der Menge heraus; Wir lieben die Künste der Musen. Es ist also nicht richtig, daß, wie mau gewöhnlich sagt, nur die Hetären hätten Geist haben dürfen, obwohl es ganz natürlich ist und zu allen Zeiten beobachtet werden kann, daß sich emanzipirte Frauen auch in geistiger Be¬ ziehung freier bewegen als Ehefrauen; dem: als emanzipirte Frauen, nicht als in den Kot getretne Wesen, wie unsre heutigen Prostituirten, haben wir uns die Hetären zu denken. Und des Aristophcines Lhsistrcite, die durch eine Ver¬ schwörung der Ehefrauen den Frieden erzwungen hat, redet die Abgeordneten der griechischen Staaten an: Ich bin ein Weib zwar, aber Geist wohnt auch in mir. Ich ward mit Mutterwitz uicht schlecht begabt; Dann hört' ich auch vom Bater und vou Älteren Manch kluge Wortes) so bin ich nicht schlecht geschult. Nun will ich euch vornehmen, will euch allzumal Ausscheiden, wie ihrs wohl verdient. Besprengt ihr nicht Aus einem Kessel deu Altar als stammverwandt In Pisa, Phlci, Pytho — wie viel Orte noch Sonst nennen könnt' ich, braucht' es hier viel Worte noch? Giebts nicht Barbaren, Feinde nicht, daß Hellas Garn, Daß Hellas Männer ihr vertilgt mit Heeresmacht? „Viele weise Worte kamen auch von Frauen schon," spricht Theseus in den Schutzflehenden, indem er ans den Rat seiner Mutter Athen hört. Dafür beobachtet diese auch die dem Weibe geziemende Zurückhaltung; nicht eigen¬ mächtig will sie handeln, „denn alles nur durch Männer auszurichten, ziemt der weisen Fran.^ *) Welcher Deutsche dächte da uicht an Stanffnchcrs Gertrud!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/359>, abgerufen am 25.11.2024.