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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

die Pflicht ritterlicher Genugthuung ablehnten. Und wenn das liberale Bür¬
gertum diese Sitte als barbarische Unsitte verurteilt, so geschieht es nicht,
um dem christlichen Grundsätze der Feindesliebe Geltung zu verschaffen, soudern
aus Abneigung gegen den Ritterstand und zu Ehren des sogenannten Rechts¬
staats. Im Privatleben denken und handeln die liberalen Bürger genan so,
wie die konservativen Ritter, und die frommen Christen fo wie die alten
Heiden, nur daß ihre Nachethaten meist die ritterliche Eleganz vermissen lassen.
In L. war ich mit einem Herrn befreundet, der seines Amtes als Kircheu-
und Schuluorsteher mit großem Eifer waltete und u. a. jedesmal den Geist¬
lichen und Lehrern den Kopf warm machte, so oft er bemerkt zu haben glaubte,
daß sich Kinder ans dem Schulwege nicht ganz artig betragen hätten. Ein¬
mal saß ich bei ihm, als sein zwölfjähriges Söhnlein ans der Schule nach
Hause kam und ihm klagte, daß ihn ein Junge unterwegs beleidigt Hütte.
Und das hast du dir gefallen lassen? fragte der Papa, und dn hast ihm
nicht sofort eins übers Maul gegeben und ihn durchgehauen? O du Feigling,
du Memme du! Pfui, schäme dich! Männer, die nach einer Ohrfeige aus
die rechte Wange auch die linke Hinhalten, find eben im öffentliche" Leben
unmöglich und kommen auch im Privatleben nicht durch, wenn sie uicht An¬
gehörige der untersten Klassen sind, für die es in vielen Fällen Lebensbedingung
ist, sich schweigend mißhandeln zu lassen. Die Wirklichkeit berechtigt also auch
heute noch, und heute erst recht, den Dichterphilosophen Nietzsche, zwischen
Herren- und Sklavenmoral zu unterscheiden und das Christentum eine Sklaven¬
moral zu nennen. Sein Unrecht besteht bloß darin, daß er den Herren nicht
allein das Recht zugesteht, die Untergebnen als Untergebne zu behandeln, die
eigne persönliche Würde und Ehre aber durch Gewaltthat zu wahren, sondern
auch das andre verwerfliche, die Untergebnen und Besiegten den eignen Lüsten
zu opfern. Andrerseits rührt die vielgegeißelte Heuchelei und Berlogeuheit
unsrer Zeit eben daher, daß man den Spruch: "Eines schickt sich nicht für
alle" in der Moral nicht gelten lassen und die Notwendigkeit verschiedner
Moralthpen für die verschiednen Geschlechter, Lebensalter und Stände nicht
einsehen will. Jene Moral der Bergpredigt, die in der Feindesliebe ihre
schönste Blüte treibt, ist die Moral der Armen und Dienenden und der Ent¬
sagenden unter deu Reichen und Mächtige", und diese Entsagenden bilden ein
wohlthätiges Gegengewicht gegen deu Weltsinn, sind daher zu ehren, und es
wäre sowohl unrecht als unklug, sie zu verspotten oder sie ausmerzen zu
wollen. Aber für Helden, die die Welt beherrschen, die Menschheit zu Thaten
anregen und vorwärts bringen wollen, trügt sie nichts. Was die gewöhn¬
lichen Leute anlangt, gebildete wie ungebildete, so erstaunt mau oft darüber,
welches, unversöhnlichem Hasses sie fähig sind, und durch welche lächerlich kleine
Ursachen, oft rein eingebildete Beleidigungen ein solcher Haß erregt werden
kann; fromme und unfromme verhalten sich darin ganz gleich, und selbst Geist-


Die ätherische Volksmoral im Drama

die Pflicht ritterlicher Genugthuung ablehnten. Und wenn das liberale Bür¬
gertum diese Sitte als barbarische Unsitte verurteilt, so geschieht es nicht,
um dem christlichen Grundsätze der Feindesliebe Geltung zu verschaffen, soudern
aus Abneigung gegen den Ritterstand und zu Ehren des sogenannten Rechts¬
staats. Im Privatleben denken und handeln die liberalen Bürger genan so,
wie die konservativen Ritter, und die frommen Christen fo wie die alten
Heiden, nur daß ihre Nachethaten meist die ritterliche Eleganz vermissen lassen.
In L. war ich mit einem Herrn befreundet, der seines Amtes als Kircheu-
und Schuluorsteher mit großem Eifer waltete und u. a. jedesmal den Geist¬
lichen und Lehrern den Kopf warm machte, so oft er bemerkt zu haben glaubte,
daß sich Kinder ans dem Schulwege nicht ganz artig betragen hätten. Ein¬
mal saß ich bei ihm, als sein zwölfjähriges Söhnlein ans der Schule nach
Hause kam und ihm klagte, daß ihn ein Junge unterwegs beleidigt Hütte.
Und das hast du dir gefallen lassen? fragte der Papa, und dn hast ihm
nicht sofort eins übers Maul gegeben und ihn durchgehauen? O du Feigling,
du Memme du! Pfui, schäme dich! Männer, die nach einer Ohrfeige aus
die rechte Wange auch die linke Hinhalten, find eben im öffentliche« Leben
unmöglich und kommen auch im Privatleben nicht durch, wenn sie uicht An¬
gehörige der untersten Klassen sind, für die es in vielen Fällen Lebensbedingung
ist, sich schweigend mißhandeln zu lassen. Die Wirklichkeit berechtigt also auch
heute noch, und heute erst recht, den Dichterphilosophen Nietzsche, zwischen
Herren- und Sklavenmoral zu unterscheiden und das Christentum eine Sklaven¬
moral zu nennen. Sein Unrecht besteht bloß darin, daß er den Herren nicht
allein das Recht zugesteht, die Untergebnen als Untergebne zu behandeln, die
eigne persönliche Würde und Ehre aber durch Gewaltthat zu wahren, sondern
auch das andre verwerfliche, die Untergebnen und Besiegten den eignen Lüsten
zu opfern. Andrerseits rührt die vielgegeißelte Heuchelei und Berlogeuheit
unsrer Zeit eben daher, daß man den Spruch: „Eines schickt sich nicht für
alle" in der Moral nicht gelten lassen und die Notwendigkeit verschiedner
Moralthpen für die verschiednen Geschlechter, Lebensalter und Stände nicht
einsehen will. Jene Moral der Bergpredigt, die in der Feindesliebe ihre
schönste Blüte treibt, ist die Moral der Armen und Dienenden und der Ent¬
sagenden unter deu Reichen und Mächtige», und diese Entsagenden bilden ein
wohlthätiges Gegengewicht gegen deu Weltsinn, sind daher zu ehren, und es
wäre sowohl unrecht als unklug, sie zu verspotten oder sie ausmerzen zu
wollen. Aber für Helden, die die Welt beherrschen, die Menschheit zu Thaten
anregen und vorwärts bringen wollen, trügt sie nichts. Was die gewöhn¬
lichen Leute anlangt, gebildete wie ungebildete, so erstaunt mau oft darüber,
welches, unversöhnlichem Hasses sie fähig sind, und durch welche lächerlich kleine
Ursachen, oft rein eingebildete Beleidigungen ein solcher Haß erregt werden
kann; fromme und unfromme verhalten sich darin ganz gleich, und selbst Geist-


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[0351] Die ätherische Volksmoral im Drama die Pflicht ritterlicher Genugthuung ablehnten. Und wenn das liberale Bür¬ gertum diese Sitte als barbarische Unsitte verurteilt, so geschieht es nicht, um dem christlichen Grundsätze der Feindesliebe Geltung zu verschaffen, soudern aus Abneigung gegen den Ritterstand und zu Ehren des sogenannten Rechts¬ staats. Im Privatleben denken und handeln die liberalen Bürger genan so, wie die konservativen Ritter, und die frommen Christen fo wie die alten Heiden, nur daß ihre Nachethaten meist die ritterliche Eleganz vermissen lassen. In L. war ich mit einem Herrn befreundet, der seines Amtes als Kircheu- und Schuluorsteher mit großem Eifer waltete und u. a. jedesmal den Geist¬ lichen und Lehrern den Kopf warm machte, so oft er bemerkt zu haben glaubte, daß sich Kinder ans dem Schulwege nicht ganz artig betragen hätten. Ein¬ mal saß ich bei ihm, als sein zwölfjähriges Söhnlein ans der Schule nach Hause kam und ihm klagte, daß ihn ein Junge unterwegs beleidigt Hütte. Und das hast du dir gefallen lassen? fragte der Papa, und dn hast ihm nicht sofort eins übers Maul gegeben und ihn durchgehauen? O du Feigling, du Memme du! Pfui, schäme dich! Männer, die nach einer Ohrfeige aus die rechte Wange auch die linke Hinhalten, find eben im öffentliche« Leben unmöglich und kommen auch im Privatleben nicht durch, wenn sie uicht An¬ gehörige der untersten Klassen sind, für die es in vielen Fällen Lebensbedingung ist, sich schweigend mißhandeln zu lassen. Die Wirklichkeit berechtigt also auch heute noch, und heute erst recht, den Dichterphilosophen Nietzsche, zwischen Herren- und Sklavenmoral zu unterscheiden und das Christentum eine Sklaven¬ moral zu nennen. Sein Unrecht besteht bloß darin, daß er den Herren nicht allein das Recht zugesteht, die Untergebnen als Untergebne zu behandeln, die eigne persönliche Würde und Ehre aber durch Gewaltthat zu wahren, sondern auch das andre verwerfliche, die Untergebnen und Besiegten den eignen Lüsten zu opfern. Andrerseits rührt die vielgegeißelte Heuchelei und Berlogeuheit unsrer Zeit eben daher, daß man den Spruch: „Eines schickt sich nicht für alle" in der Moral nicht gelten lassen und die Notwendigkeit verschiedner Moralthpen für die verschiednen Geschlechter, Lebensalter und Stände nicht einsehen will. Jene Moral der Bergpredigt, die in der Feindesliebe ihre schönste Blüte treibt, ist die Moral der Armen und Dienenden und der Ent¬ sagenden unter deu Reichen und Mächtige», und diese Entsagenden bilden ein wohlthätiges Gegengewicht gegen deu Weltsinn, sind daher zu ehren, und es wäre sowohl unrecht als unklug, sie zu verspotten oder sie ausmerzen zu wollen. Aber für Helden, die die Welt beherrschen, die Menschheit zu Thaten anregen und vorwärts bringen wollen, trügt sie nichts. Was die gewöhn¬ lichen Leute anlangt, gebildete wie ungebildete, so erstaunt mau oft darüber, welches, unversöhnlichem Hasses sie fähig sind, und durch welche lächerlich kleine Ursachen, oft rein eingebildete Beleidigungen ein solcher Haß erregt werden kann; fromme und unfromme verhalten sich darin ganz gleich, und selbst Geist-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/351>, abgerufen am 28.07.2024.