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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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iisdem trauten dem Politisirenden Landpfarrer nicht über den Weg und witterten
hinter seinen sozialistischen Ideen, die an Radikalismus selbst die Forderungen
der Arbeiter übertrafen, alle möglichen Schlingen und Fallen. Die maßgebenden,
bald mit den Tories, bald mit den Ultramontanen liebäugelnden Hochkirchler
sahen in dem trotzig und entschieden auf Seiten der Chartisten stehenden
Pfarrer einen gefährlichen Agitator. Seine orthodoxen Amtsbruder gingen
ihm scheu aus dem Wege. Man drohte ihm und erteilte ihm vou oben herab
Verweise. Aber alle diese Anfeindungen und Berketzeruugen trugen nur dazu bei,
Kingsley volkstümlich zu machen und den Streit seiner Freunde und Verehrer
immer mehr zu erweitern. In den sechziger Jahren gehörte er zu den
wenigen Männern in England, deren Urteil das Volk bei jeder wichtigen
Begebenheit hören wollte, deren Meinung und Rat bei alle" möglichen
Veranstaltungen eingefordert wurde; er hatte an seinem Schreibtisch gleichsam
unzählige Fäden des geistigen und nationalen Lebens aus allen Teilen der
Welt in der Hand.

Kingsleys Schriften sind gar nicht zu verstehen ohne genaue Kenntnis der
sozialen, der wirtschaftlichen und der religiösen Zustünde Englands in den
dreißig Jahren von 1845 bis 1875. Dieses Verständnis ist aber erst ermög¬
licht worden durch Brentanos auch für den Literarhistoriker sehr wertvolle
Arbeit: Die christlich-soziale Bewegung in England (Zweite Auflage. Leipzig,
Duncker und Humblot, 1883) und durch das gediegne Werk von Gerhard
v. Schulze-Güvernitz: Zum sozialen Frieden, eine Darstellung der sozialpoli¬
tischen Erziehung des englischen Volks im neunzehnten Jahrhundert (Zwei
Bände. Leipzig, Duncker und Humblot, 18W). Wir sehen hier, daß sich die
großen innern Kämpfe, die Deutschland gegenwärtig beschäftige"? und bis in die
untersten Volksschichten hinein erregen, in England schon in der Mitte unsers
Jahrhunderts abgespielt haben. Schon damals finden wir in England das Ringen
nach eiuer neuen, der veränderten Kultur entsprechenden Gesellschaftsordnung,
den immer unerträglicher werdenden Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit,
zwischen deu rücksichtslos genießenden Besitzern und den arbeitenden, pro-
duzireuden Klassen, zwischen überlieferten veralteten Einrichtungen und not¬
wendigen neuen Lebensformen vor allem auf politischem und kirchlichem Ge¬
biete. Schon damals sehen wir dort die Versuche der Kirche, in die sozialen
Vcstrebungeu einzugreifen, das unfruchtbare dogmatische Gezänk aufzugeben
und die sittlichen Ideen des Christentums in den Dienst einer neuen frucht¬
baren Bewegung zu stellen. Gleichzeitig sehen wir die schöngeistige Litteratur
die herkömmlichen, ausgefahruen Gleise verlassen und die ernsten Fragen der
Zeit und die düstern Kämpfe des Lebens mit realistischer Kraft dichterisch ge¬
stalten. Wir sehen, wie vor allem durch die litterarische Thätigkeit genialer
Männer der selbstsüchtig genießenden, engherzigen Gesellschaft die Angen ge¬
öffnet, die Schwachmütigen zum Handeln angespornt, die Brutalen und Um-


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iisdem trauten dem Politisirenden Landpfarrer nicht über den Weg und witterten
hinter seinen sozialistischen Ideen, die an Radikalismus selbst die Forderungen
der Arbeiter übertrafen, alle möglichen Schlingen und Fallen. Die maßgebenden,
bald mit den Tories, bald mit den Ultramontanen liebäugelnden Hochkirchler
sahen in dem trotzig und entschieden auf Seiten der Chartisten stehenden
Pfarrer einen gefährlichen Agitator. Seine orthodoxen Amtsbruder gingen
ihm scheu aus dem Wege. Man drohte ihm und erteilte ihm vou oben herab
Verweise. Aber alle diese Anfeindungen und Berketzeruugen trugen nur dazu bei,
Kingsley volkstümlich zu machen und den Streit seiner Freunde und Verehrer
immer mehr zu erweitern. In den sechziger Jahren gehörte er zu den
wenigen Männern in England, deren Urteil das Volk bei jeder wichtigen
Begebenheit hören wollte, deren Meinung und Rat bei alle» möglichen
Veranstaltungen eingefordert wurde; er hatte an seinem Schreibtisch gleichsam
unzählige Fäden des geistigen und nationalen Lebens aus allen Teilen der
Welt in der Hand.

Kingsleys Schriften sind gar nicht zu verstehen ohne genaue Kenntnis der
sozialen, der wirtschaftlichen und der religiösen Zustünde Englands in den
dreißig Jahren von 1845 bis 1875. Dieses Verständnis ist aber erst ermög¬
licht worden durch Brentanos auch für den Literarhistoriker sehr wertvolle
Arbeit: Die christlich-soziale Bewegung in England (Zweite Auflage. Leipzig,
Duncker und Humblot, 1883) und durch das gediegne Werk von Gerhard
v. Schulze-Güvernitz: Zum sozialen Frieden, eine Darstellung der sozialpoli¬
tischen Erziehung des englischen Volks im neunzehnten Jahrhundert (Zwei
Bände. Leipzig, Duncker und Humblot, 18W). Wir sehen hier, daß sich die
großen innern Kämpfe, die Deutschland gegenwärtig beschäftige»? und bis in die
untersten Volksschichten hinein erregen, in England schon in der Mitte unsers
Jahrhunderts abgespielt haben. Schon damals finden wir in England das Ringen
nach eiuer neuen, der veränderten Kultur entsprechenden Gesellschaftsordnung,
den immer unerträglicher werdenden Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit,
zwischen deu rücksichtslos genießenden Besitzern und den arbeitenden, pro-
duzireuden Klassen, zwischen überlieferten veralteten Einrichtungen und not¬
wendigen neuen Lebensformen vor allem auf politischem und kirchlichem Ge¬
biete. Schon damals sehen wir dort die Versuche der Kirche, in die sozialen
Vcstrebungeu einzugreifen, das unfruchtbare dogmatische Gezänk aufzugeben
und die sittlichen Ideen des Christentums in den Dienst einer neuen frucht¬
baren Bewegung zu stellen. Gleichzeitig sehen wir die schöngeistige Litteratur
die herkömmlichen, ausgefahruen Gleise verlassen und die ernsten Fragen der
Zeit und die düstern Kämpfe des Lebens mit realistischer Kraft dichterisch ge¬
stalten. Wir sehen, wie vor allem durch die litterarische Thätigkeit genialer
Männer der selbstsüchtig genießenden, engherzigen Gesellschaft die Angen ge¬
öffnet, die Schwachmütigen zum Handeln angespornt, die Brutalen und Um-


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[0321] iisdem trauten dem Politisirenden Landpfarrer nicht über den Weg und witterten hinter seinen sozialistischen Ideen, die an Radikalismus selbst die Forderungen der Arbeiter übertrafen, alle möglichen Schlingen und Fallen. Die maßgebenden, bald mit den Tories, bald mit den Ultramontanen liebäugelnden Hochkirchler sahen in dem trotzig und entschieden auf Seiten der Chartisten stehenden Pfarrer einen gefährlichen Agitator. Seine orthodoxen Amtsbruder gingen ihm scheu aus dem Wege. Man drohte ihm und erteilte ihm vou oben herab Verweise. Aber alle diese Anfeindungen und Berketzeruugen trugen nur dazu bei, Kingsley volkstümlich zu machen und den Streit seiner Freunde und Verehrer immer mehr zu erweitern. In den sechziger Jahren gehörte er zu den wenigen Männern in England, deren Urteil das Volk bei jeder wichtigen Begebenheit hören wollte, deren Meinung und Rat bei alle» möglichen Veranstaltungen eingefordert wurde; er hatte an seinem Schreibtisch gleichsam unzählige Fäden des geistigen und nationalen Lebens aus allen Teilen der Welt in der Hand. Kingsleys Schriften sind gar nicht zu verstehen ohne genaue Kenntnis der sozialen, der wirtschaftlichen und der religiösen Zustünde Englands in den dreißig Jahren von 1845 bis 1875. Dieses Verständnis ist aber erst ermög¬ licht worden durch Brentanos auch für den Literarhistoriker sehr wertvolle Arbeit: Die christlich-soziale Bewegung in England (Zweite Auflage. Leipzig, Duncker und Humblot, 1883) und durch das gediegne Werk von Gerhard v. Schulze-Güvernitz: Zum sozialen Frieden, eine Darstellung der sozialpoli¬ tischen Erziehung des englischen Volks im neunzehnten Jahrhundert (Zwei Bände. Leipzig, Duncker und Humblot, 18W). Wir sehen hier, daß sich die großen innern Kämpfe, die Deutschland gegenwärtig beschäftige»? und bis in die untersten Volksschichten hinein erregen, in England schon in der Mitte unsers Jahrhunderts abgespielt haben. Schon damals finden wir in England das Ringen nach eiuer neuen, der veränderten Kultur entsprechenden Gesellschaftsordnung, den immer unerträglicher werdenden Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen deu rücksichtslos genießenden Besitzern und den arbeitenden, pro- duzireuden Klassen, zwischen überlieferten veralteten Einrichtungen und not¬ wendigen neuen Lebensformen vor allem auf politischem und kirchlichem Ge¬ biete. Schon damals sehen wir dort die Versuche der Kirche, in die sozialen Vcstrebungeu einzugreifen, das unfruchtbare dogmatische Gezänk aufzugeben und die sittlichen Ideen des Christentums in den Dienst einer neuen frucht¬ baren Bewegung zu stellen. Gleichzeitig sehen wir die schöngeistige Litteratur die herkömmlichen, ausgefahruen Gleise verlassen und die ernsten Fragen der Zeit und die düstern Kämpfe des Lebens mit realistischer Kraft dichterisch ge¬ stalten. Wir sehen, wie vor allem durch die litterarische Thätigkeit genialer Männer der selbstsüchtig genießenden, engherzigen Gesellschaft die Angen ge¬ öffnet, die Schwachmütigen zum Handeln angespornt, die Brutalen und Um- Grenzboten III 189» 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/321>, abgerufen am 23.11.2024.