Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.der vollendete Mensch, eine ideale Persönlichkeit oder das Ideal der Persön¬ Damit stellt sich der Verfasser auf den Boden der idealistischen Ethik. Da das vorliegende Buch für weitere Kreise bestimmt ist, so hat der der vollendete Mensch, eine ideale Persönlichkeit oder das Ideal der Persön¬ Damit stellt sich der Verfasser auf den Boden der idealistischen Ethik. Da das vorliegende Buch für weitere Kreise bestimmt ist, so hat der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0031" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215121"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_96" prev="#ID_95"> der vollendete Mensch, eine ideale Persönlichkeit oder das Ideal der Persön¬<lb/> lichkeit, die alle guten menschlichen Eigenschaften bis zur Vollendung har¬<lb/> monisch in sich entwickelt hat, die, wie sie die Welt in ihrem Sein und Wirken<lb/> mit allem Verständnis erfaßt, so anch mit ganzer Kraft auf sie zurückzuwirken<lb/> strebt. So wie Herbart, der hierin ganz Kantianer ist, erblickt auch der Ver¬<lb/> fasser das Rückgrat der Persönlichkeit in der Hauptrichtung, die der Wille des<lb/> Meuscheu verfolgt. Diese Hauptrichtung ist stets maßgebend für alle übrigen<lb/> Interesse» und bestimmt all sein Denken und Handeln. Welche besondre<lb/> Richtung nnn unser Wille einschlagen möge, ob er sich künstlerisch oder ge¬<lb/> lehrt oder kaufmännisch interessire, eines wird von jedem gefordert, daß sein<lb/> Wille wahrhaft sittlich sei. daß er ein sittlicher Charakter sei. so verschieden<lb/> auch sonst seine Beschäftigung sein möge. Die sittliche Reinheit des Willens,<lb/> die wahrhafte Lauterkeit unsrer Gesinnung, das allein ist in der Welt das<lb/> schlechthin Nchtuugswerte. Demnach ist sittliche Charakterbildung auf Grund<lb/> vielseitiger geistiger Befruchtung das Hauptziel aller wahrhaft menschlichen Er¬<lb/> ziehung. Unsre'Zöglinge dem Ideal der Persönlichkeit möglichst anzunähern.<lb/> das muß als die eigentliche und wahre Aufgabe aller pädagogischen Bestre¬<lb/> bungen betrachtet werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_97"> Damit stellt sich der Verfasser auf den Boden der idealistischen Ethik.<lb/> Und als Erzieher kann er auch nicht anders, sobald er von der Überzeugung<lb/> durchdrungen ist, daß das nachwachsende Geschlecht höhern Zielen zuzuführen<lb/> sei- Zwar soll heute die idealistische Ethik abgewirtschaftet haben, aber doch<lb/> Wohl nur in den Köpfen von Leuten, die von der Phrase des naturwissen¬<lb/> schaftlichen Zeitalters geblendet keinen absoluten Maßstab gelten lassen wollen,<lb/> sondern den jeweiligen Entwicklungsstnndpnnkt der Gesellschaft als maßgebend<lb/> betrachten; oder die dem Neoeyniker Nietzsche nachlaufen, berauscht von den<lb/> frechen Worten, die er deu Zeitgenossen in die Ohren gießt. Schon hat man<lb/> auch eine physiologische Pädagogik verkündigt, aber, wie uns scheint, mit mehr<lb/> Enthusiasmus als Besonnenheit. Oder bedeutet etwa die Spencersche Päda¬<lb/> gogik für uns Deutsche einen Fortschritt? Gott soll uns davor bewahren,<lb/> unser höchstes erzieherisches Streben darin zu erblicke», daß man dem Zögling<lb/> beibringe, wie er am besten seine Kapitalien anlegen und am feinsten kochen<lb/> könne. Denn das sind doch schließlich die Folgerungen eines Standpunktes.<lb/> dem eine normative Ethik eitel Thorheit ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_98" next="#ID_99"> Da das vorliegende Buch für weitere Kreise bestimmt ist, so hat der<lb/> Verfasser das Ideal der Persönlichkeit in mehr populärer Weise umschrieben<lb/> und namentlich in negativer Hinsicht das hervorgehoben, was einer sittlich<lb/> gerichteten Persönlichkeit fern liegen soll. Daß dabei die sittlichen Verirrungen<lb/> unsers Geschlechts eine große Rolle spielen, ist nur natürlich, dn ein Päda¬<lb/> gogischer Schrifsteller unsrer Tage, der ans Veredlung des heranwachsenden<lb/> Geschlechts hinwirken will, nicht an ihnen vorüber gehen kann. Bei Herbart</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0031]
der vollendete Mensch, eine ideale Persönlichkeit oder das Ideal der Persön¬
lichkeit, die alle guten menschlichen Eigenschaften bis zur Vollendung har¬
monisch in sich entwickelt hat, die, wie sie die Welt in ihrem Sein und Wirken
mit allem Verständnis erfaßt, so anch mit ganzer Kraft auf sie zurückzuwirken
strebt. So wie Herbart, der hierin ganz Kantianer ist, erblickt auch der Ver¬
fasser das Rückgrat der Persönlichkeit in der Hauptrichtung, die der Wille des
Meuscheu verfolgt. Diese Hauptrichtung ist stets maßgebend für alle übrigen
Interesse» und bestimmt all sein Denken und Handeln. Welche besondre
Richtung nnn unser Wille einschlagen möge, ob er sich künstlerisch oder ge¬
lehrt oder kaufmännisch interessire, eines wird von jedem gefordert, daß sein
Wille wahrhaft sittlich sei. daß er ein sittlicher Charakter sei. so verschieden
auch sonst seine Beschäftigung sein möge. Die sittliche Reinheit des Willens,
die wahrhafte Lauterkeit unsrer Gesinnung, das allein ist in der Welt das
schlechthin Nchtuugswerte. Demnach ist sittliche Charakterbildung auf Grund
vielseitiger geistiger Befruchtung das Hauptziel aller wahrhaft menschlichen Er¬
ziehung. Unsre'Zöglinge dem Ideal der Persönlichkeit möglichst anzunähern.
das muß als die eigentliche und wahre Aufgabe aller pädagogischen Bestre¬
bungen betrachtet werden.
Damit stellt sich der Verfasser auf den Boden der idealistischen Ethik.
Und als Erzieher kann er auch nicht anders, sobald er von der Überzeugung
durchdrungen ist, daß das nachwachsende Geschlecht höhern Zielen zuzuführen
sei- Zwar soll heute die idealistische Ethik abgewirtschaftet haben, aber doch
Wohl nur in den Köpfen von Leuten, die von der Phrase des naturwissen¬
schaftlichen Zeitalters geblendet keinen absoluten Maßstab gelten lassen wollen,
sondern den jeweiligen Entwicklungsstnndpnnkt der Gesellschaft als maßgebend
betrachten; oder die dem Neoeyniker Nietzsche nachlaufen, berauscht von den
frechen Worten, die er deu Zeitgenossen in die Ohren gießt. Schon hat man
auch eine physiologische Pädagogik verkündigt, aber, wie uns scheint, mit mehr
Enthusiasmus als Besonnenheit. Oder bedeutet etwa die Spencersche Päda¬
gogik für uns Deutsche einen Fortschritt? Gott soll uns davor bewahren,
unser höchstes erzieherisches Streben darin zu erblicke», daß man dem Zögling
beibringe, wie er am besten seine Kapitalien anlegen und am feinsten kochen
könne. Denn das sind doch schließlich die Folgerungen eines Standpunktes.
dem eine normative Ethik eitel Thorheit ist.
Da das vorliegende Buch für weitere Kreise bestimmt ist, so hat der
Verfasser das Ideal der Persönlichkeit in mehr populärer Weise umschrieben
und namentlich in negativer Hinsicht das hervorgehoben, was einer sittlich
gerichteten Persönlichkeit fern liegen soll. Daß dabei die sittlichen Verirrungen
unsers Geschlechts eine große Rolle spielen, ist nur natürlich, dn ein Päda¬
gogischer Schrifsteller unsrer Tage, der ans Veredlung des heranwachsenden
Geschlechts hinwirken will, nicht an ihnen vorüber gehen kann. Bei Herbart
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