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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

schweren Schaden für die christlichen Staaten, die sich in gefährlichen Zeiten vieler
Tausende von Vertretern des erhaltenden Prinzips berankt haben. Das neue
Reich erfreut sich auch allgemeiner Beliebtheit. Selbst Rußland regt endlich
die Anknüpfung regelrechter diplomatischer Beziehungen an, freilich zunächst weil
es -- eine Anleihe braucht. Das Anerbieten wird angenommen nnter der Be¬
dingung, daß die Russen künftig nach den Grundsätzen der Toleranz handeln. Alles
ist Wonne und Freude. Der Kronprinz ist der glückliche Bräutigam der Hohen¬
priesterstochter Dina. Da kommt, wie ans der Pistole geschossen, das Schlu߬
kapitel: wieder ist längere Zeit vergangen, da flammt plötzlich von neuem der
christliche Fanatismus auf; das Abendland rüstet sich zum achten Kreuzzug.

Die Sprache ist natürlich des Inhalts würdig. Der Kronprinz erklärt seiner
Mutter: "Dina zu lieben, das ist selbstredend." Dina antwortet dem Geliebten
ans die Frage, ob sie mit dem Bekanntwerden ihres Licbesbnndes einverstanden
sei: "Voll und ganz!"


Das Volkslied.

Als der Großvater die Großmutter nahm und die Welt
noch nicht so verzweifelt praktisch War, als man die Wiener Oberkellner noch nicht
erfunden hatte und es noch biedre Hausknechte gab, als man noch nicht bis in
die Nacht hinein mit Kind und Kegel in verqualmten Kneipen saß und bei acht
Gläsern Bier über die traurigen gesellschaftlichen Zustände schimpfte, da soll es
noch ein Volkslied gegeben haben, lustige und traurige Weisen, die von Mund zu
Munde und vom Munde zum Herzen gingen. Wo sind sie hin, diese kleinen
Lieder? Sie sind verklungen und fristen nur noch in Sammelwerken und in ge¬
lehrten Untersuchungen ein papiernes Dnsein. Sie verschwanden zugleich mit dem
alten Spinett, mit der guten alten Hausmusik. Als man die Pianinos auf Ab¬
zahlung zu kaufen begann, zog sich das Volkslied zum unmodischen Volk in die
Berge zurück. Was soll es auch bei uus in einer Zeit, wo jeder Hans und jede
Grete ein Urteil über Mozart und Beethoven, Wagner und Mascagni fix und
sertig in der Tasche hat, und wo man für zwanzig Pfennige wöchentlich vom
Mnsikalienverleiher soviel "Salonmnsik" beziehen kann, daß es bequem ausreichen
würde,' musikalische Mitmenschen vom Leben zum Tode zu befördern? Armes
Volkslied, dn warst den Strapazen der "Wagnerabende" und der "Eliteabende"
nicht gewachsen nud hauchtest deine zarte Seele aus.

Aber siehe da: das Volkslied ist tot. es lebe das Volkslied! Doch ach, wie
sieht dein Ersatz aus! Wenn dn gleich einem schlicht gekleideten Mädchen über
grüne Wiesenflnchen schrittest, so tanzt das moderne Volkslied im frechen Röckchen
der Tingeltangelsängerin seine Kaukanweise, durch und durch Geschmacklosigkeit und
Verlogenheit. Du armes totes Volkslied konntest so schön "von Lenz und Liebe,
vou seliger, goldner Zeit" singen, und wenn es auch kein feiner Kunstgesang war
und deine Tondichter nur selten den Kontrapunkt studirt hatten, so wußtest du
doch zu erfreuen und zu ergreifen. Das moderne Volkslied, ein echtes Kind seiner
Zeit, verschmäht die verschlungnen Pfade der Romantik, es will den Menschen
nichts zu fühlen, zu denken und zu raten geben, sondern nur Ohren und Sinne
kitzeln. Gerades Wegs geht es auf sein Ziel los, und das Ziel ist fast immer
die unverhüllte Gemeinheit oder die banale "Aktualität."

Das moderne Volkslied, oder sagen wir gleich: der Gassenhauer, greift um
so schneller um sich, je blödsinniger oder zotiger sein Text und je dürftiger seine
Weise ist. In sentimentaler Vermummung erzählt er: "Denke dir, mein Liebchen,
was ich im Traume gesehn --," dann warnt er: "Fischerin, du kleine, fahre nicht


Maßgebliches und Unmaßgebliches

schweren Schaden für die christlichen Staaten, die sich in gefährlichen Zeiten vieler
Tausende von Vertretern des erhaltenden Prinzips berankt haben. Das neue
Reich erfreut sich auch allgemeiner Beliebtheit. Selbst Rußland regt endlich
die Anknüpfung regelrechter diplomatischer Beziehungen an, freilich zunächst weil
es — eine Anleihe braucht. Das Anerbieten wird angenommen nnter der Be¬
dingung, daß die Russen künftig nach den Grundsätzen der Toleranz handeln. Alles
ist Wonne und Freude. Der Kronprinz ist der glückliche Bräutigam der Hohen¬
priesterstochter Dina. Da kommt, wie ans der Pistole geschossen, das Schlu߬
kapitel: wieder ist längere Zeit vergangen, da flammt plötzlich von neuem der
christliche Fanatismus auf; das Abendland rüstet sich zum achten Kreuzzug.

Die Sprache ist natürlich des Inhalts würdig. Der Kronprinz erklärt seiner
Mutter: „Dina zu lieben, das ist selbstredend." Dina antwortet dem Geliebten
ans die Frage, ob sie mit dem Bekanntwerden ihres Licbesbnndes einverstanden
sei: „Voll und ganz!"


Das Volkslied.

Als der Großvater die Großmutter nahm und die Welt
noch nicht so verzweifelt praktisch War, als man die Wiener Oberkellner noch nicht
erfunden hatte und es noch biedre Hausknechte gab, als man noch nicht bis in
die Nacht hinein mit Kind und Kegel in verqualmten Kneipen saß und bei acht
Gläsern Bier über die traurigen gesellschaftlichen Zustände schimpfte, da soll es
noch ein Volkslied gegeben haben, lustige und traurige Weisen, die von Mund zu
Munde und vom Munde zum Herzen gingen. Wo sind sie hin, diese kleinen
Lieder? Sie sind verklungen und fristen nur noch in Sammelwerken und in ge¬
lehrten Untersuchungen ein papiernes Dnsein. Sie verschwanden zugleich mit dem
alten Spinett, mit der guten alten Hausmusik. Als man die Pianinos auf Ab¬
zahlung zu kaufen begann, zog sich das Volkslied zum unmodischen Volk in die
Berge zurück. Was soll es auch bei uus in einer Zeit, wo jeder Hans und jede
Grete ein Urteil über Mozart und Beethoven, Wagner und Mascagni fix und
sertig in der Tasche hat, und wo man für zwanzig Pfennige wöchentlich vom
Mnsikalienverleiher soviel „Salonmnsik" beziehen kann, daß es bequem ausreichen
würde,' musikalische Mitmenschen vom Leben zum Tode zu befördern? Armes
Volkslied, dn warst den Strapazen der „Wagnerabende" und der „Eliteabende"
nicht gewachsen nud hauchtest deine zarte Seele aus.

Aber siehe da: das Volkslied ist tot. es lebe das Volkslied! Doch ach, wie
sieht dein Ersatz aus! Wenn dn gleich einem schlicht gekleideten Mädchen über
grüne Wiesenflnchen schrittest, so tanzt das moderne Volkslied im frechen Röckchen
der Tingeltangelsängerin seine Kaukanweise, durch und durch Geschmacklosigkeit und
Verlogenheit. Du armes totes Volkslied konntest so schön „von Lenz und Liebe,
vou seliger, goldner Zeit" singen, und wenn es auch kein feiner Kunstgesang war
und deine Tondichter nur selten den Kontrapunkt studirt hatten, so wußtest du
doch zu erfreuen und zu ergreifen. Das moderne Volkslied, ein echtes Kind seiner
Zeit, verschmäht die verschlungnen Pfade der Romantik, es will den Menschen
nichts zu fühlen, zu denken und zu raten geben, sondern nur Ohren und Sinne
kitzeln. Gerades Wegs geht es auf sein Ziel los, und das Ziel ist fast immer
die unverhüllte Gemeinheit oder die banale „Aktualität."

Das moderne Volkslied, oder sagen wir gleich: der Gassenhauer, greift um
so schneller um sich, je blödsinniger oder zotiger sein Text und je dürftiger seine
Weise ist. In sentimentaler Vermummung erzählt er: „Denke dir, mein Liebchen,
was ich im Traume gesehn —," dann warnt er: „Fischerin, du kleine, fahre nicht


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[0293] Maßgebliches und Unmaßgebliches schweren Schaden für die christlichen Staaten, die sich in gefährlichen Zeiten vieler Tausende von Vertretern des erhaltenden Prinzips berankt haben. Das neue Reich erfreut sich auch allgemeiner Beliebtheit. Selbst Rußland regt endlich die Anknüpfung regelrechter diplomatischer Beziehungen an, freilich zunächst weil es — eine Anleihe braucht. Das Anerbieten wird angenommen nnter der Be¬ dingung, daß die Russen künftig nach den Grundsätzen der Toleranz handeln. Alles ist Wonne und Freude. Der Kronprinz ist der glückliche Bräutigam der Hohen¬ priesterstochter Dina. Da kommt, wie ans der Pistole geschossen, das Schlu߬ kapitel: wieder ist längere Zeit vergangen, da flammt plötzlich von neuem der christliche Fanatismus auf; das Abendland rüstet sich zum achten Kreuzzug. Die Sprache ist natürlich des Inhalts würdig. Der Kronprinz erklärt seiner Mutter: „Dina zu lieben, das ist selbstredend." Dina antwortet dem Geliebten ans die Frage, ob sie mit dem Bekanntwerden ihres Licbesbnndes einverstanden sei: „Voll und ganz!" Das Volkslied. Als der Großvater die Großmutter nahm und die Welt noch nicht so verzweifelt praktisch War, als man die Wiener Oberkellner noch nicht erfunden hatte und es noch biedre Hausknechte gab, als man noch nicht bis in die Nacht hinein mit Kind und Kegel in verqualmten Kneipen saß und bei acht Gläsern Bier über die traurigen gesellschaftlichen Zustände schimpfte, da soll es noch ein Volkslied gegeben haben, lustige und traurige Weisen, die von Mund zu Munde und vom Munde zum Herzen gingen. Wo sind sie hin, diese kleinen Lieder? Sie sind verklungen und fristen nur noch in Sammelwerken und in ge¬ lehrten Untersuchungen ein papiernes Dnsein. Sie verschwanden zugleich mit dem alten Spinett, mit der guten alten Hausmusik. Als man die Pianinos auf Ab¬ zahlung zu kaufen begann, zog sich das Volkslied zum unmodischen Volk in die Berge zurück. Was soll es auch bei uus in einer Zeit, wo jeder Hans und jede Grete ein Urteil über Mozart und Beethoven, Wagner und Mascagni fix und sertig in der Tasche hat, und wo man für zwanzig Pfennige wöchentlich vom Mnsikalienverleiher soviel „Salonmnsik" beziehen kann, daß es bequem ausreichen würde,' musikalische Mitmenschen vom Leben zum Tode zu befördern? Armes Volkslied, dn warst den Strapazen der „Wagnerabende" und der „Eliteabende" nicht gewachsen nud hauchtest deine zarte Seele aus. Aber siehe da: das Volkslied ist tot. es lebe das Volkslied! Doch ach, wie sieht dein Ersatz aus! Wenn dn gleich einem schlicht gekleideten Mädchen über grüne Wiesenflnchen schrittest, so tanzt das moderne Volkslied im frechen Röckchen der Tingeltangelsängerin seine Kaukanweise, durch und durch Geschmacklosigkeit und Verlogenheit. Du armes totes Volkslied konntest so schön „von Lenz und Liebe, vou seliger, goldner Zeit" singen, und wenn es auch kein feiner Kunstgesang war und deine Tondichter nur selten den Kontrapunkt studirt hatten, so wußtest du doch zu erfreuen und zu ergreifen. Das moderne Volkslied, ein echtes Kind seiner Zeit, verschmäht die verschlungnen Pfade der Romantik, es will den Menschen nichts zu fühlen, zu denken und zu raten geben, sondern nur Ohren und Sinne kitzeln. Gerades Wegs geht es auf sein Ziel los, und das Ziel ist fast immer die unverhüllte Gemeinheit oder die banale „Aktualität." Das moderne Volkslied, oder sagen wir gleich: der Gassenhauer, greift um so schneller um sich, je blödsinniger oder zotiger sein Text und je dürftiger seine Weise ist. In sentimentaler Vermummung erzählt er: „Denke dir, mein Liebchen, was ich im Traume gesehn —," dann warnt er: „Fischerin, du kleine, fahre nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/293>, abgerufen am 23.11.2024.