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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Erziehung

Buche Fr. Schultzes*) bildet, der sich damit an Herbart und an Ziller, den
energischen Vertreter der Herbartischen Gedanken, anschließt. Sein Buch ist
als ein neues Zeichen für die Lebenskraft dieser Gedanken zu betrachten, als ein
neuer Beweis dafür, daß fie immer mehr die erzieherischen Kreise zu beherr¬
schen und damit das geistige Leben des heranwachsenden Geschlechts zu be¬
stimmen anfangen.

Ganz im Sinne der Herbartischen Pädagogik stellt Fr. Schultze an die
Spitze seines Buches die Bestimmung über das Hauptziel aller Erziehungs¬
thätigkeit. Wie dieses Ziel bestimmt wird, davon hängt der Charakter der
gesamten Erziehung ab. Im allgemeinen kann man sagen, sind die Zwecke,
die sich die Erzieher setzen, so verschieden, wie sie selbst. Sie werden dabei
von den Ansichten geleitet über das, was dem Leben seinen Wert giebt. Gut,
wenn sich diese Ansichten wenigstens zu voller Klarheit durchgerungen haben.
Aber bei nicht wenigen besteht' das Erziehungsziel in einem allgemeinen Ge¬
danken, dem es an scharfer Gliederung und Ausarbeitung im einzelnen fehlt,
der in einem unbestimmten Komplex alles dessen besteht, was ihnen als
wünschenswert und erreichbar erscheint.

Der Versasser der "Deutschen Erziehung" gehört nicht zu diesen. Mit
Herbart hat er einen klaren, fest umrissenen Erziehungszweck vor Augen. Er
ist sich deutlich bewußt, daß die Erziehung, ohne ein bestimmtes, scharf ge¬
zeichnetes Ziel vor Augen zu haben, in der Irre schweifen muß. Er weiß,
daß das Ziel der Erziehung nicht außerhalb des Zöglings gesucht werden
darf, sondern in diesem selbst, also in einer bestimmten Gestaltung des ünßern
und innern Lebens, die sich durch bewußte Thätigkeit hervorbringen läßt.

Der Verfasser verurteilt deshalb in den schärfsten Ausdrücken deu Stand¬
punkt des platten Militarismus, da mit ihm notwendig die Entwicklung der
Selbstsucht verbunden ist. Weiter kann er auch nicht das Heil erblicken in
dein Einleben in ein kirchliches Shstem. So sehr er einer echten Frömmigkeit
das Wort redet, so energisch wendet er sich gegen jede theologische Verüußer-
lichung, gegen jede dogmatische Engherzigkeit. Ebenso weist er eine politische
Erziehung zurück, wie sie im Altertum bei den Spartanern verwirklicht, von
Plato theoretisch in seiner Staatslehre entwickelt worden ist. Die Folgerungen
dieses Standpunktes hat die heutige Sozialdemokratie gezogen: die Kinder,
das Erzeugnis freier Liebe, sollen den Eltern gleich nach der Geburt ge¬
nommen und in großen Staatsanstalten ausgezogen werden. Ohne daß sie zu
wissen nötig hätten, wer ihre Eltern sind, haben sie den Staat als Vater, die
Gesellschaft als Mutter zu verehren. Hat jemand Lust zu solcher Staats¬
dressur?



*) Deutsche Erziehung von Fritz Schultze, ort. Professor der Philosophie
Pädagogik an der technischen Hochschule zu Dresden. Leipzig, E. Günther, 1893.
Deutsche Erziehung

Buche Fr. Schultzes*) bildet, der sich damit an Herbart und an Ziller, den
energischen Vertreter der Herbartischen Gedanken, anschließt. Sein Buch ist
als ein neues Zeichen für die Lebenskraft dieser Gedanken zu betrachten, als ein
neuer Beweis dafür, daß fie immer mehr die erzieherischen Kreise zu beherr¬
schen und damit das geistige Leben des heranwachsenden Geschlechts zu be¬
stimmen anfangen.

Ganz im Sinne der Herbartischen Pädagogik stellt Fr. Schultze an die
Spitze seines Buches die Bestimmung über das Hauptziel aller Erziehungs¬
thätigkeit. Wie dieses Ziel bestimmt wird, davon hängt der Charakter der
gesamten Erziehung ab. Im allgemeinen kann man sagen, sind die Zwecke,
die sich die Erzieher setzen, so verschieden, wie sie selbst. Sie werden dabei
von den Ansichten geleitet über das, was dem Leben seinen Wert giebt. Gut,
wenn sich diese Ansichten wenigstens zu voller Klarheit durchgerungen haben.
Aber bei nicht wenigen besteht' das Erziehungsziel in einem allgemeinen Ge¬
danken, dem es an scharfer Gliederung und Ausarbeitung im einzelnen fehlt,
der in einem unbestimmten Komplex alles dessen besteht, was ihnen als
wünschenswert und erreichbar erscheint.

Der Versasser der „Deutschen Erziehung" gehört nicht zu diesen. Mit
Herbart hat er einen klaren, fest umrissenen Erziehungszweck vor Augen. Er
ist sich deutlich bewußt, daß die Erziehung, ohne ein bestimmtes, scharf ge¬
zeichnetes Ziel vor Augen zu haben, in der Irre schweifen muß. Er weiß,
daß das Ziel der Erziehung nicht außerhalb des Zöglings gesucht werden
darf, sondern in diesem selbst, also in einer bestimmten Gestaltung des ünßern
und innern Lebens, die sich durch bewußte Thätigkeit hervorbringen läßt.

Der Verfasser verurteilt deshalb in den schärfsten Ausdrücken deu Stand¬
punkt des platten Militarismus, da mit ihm notwendig die Entwicklung der
Selbstsucht verbunden ist. Weiter kann er auch nicht das Heil erblicken in
dein Einleben in ein kirchliches Shstem. So sehr er einer echten Frömmigkeit
das Wort redet, so energisch wendet er sich gegen jede theologische Verüußer-
lichung, gegen jede dogmatische Engherzigkeit. Ebenso weist er eine politische
Erziehung zurück, wie sie im Altertum bei den Spartanern verwirklicht, von
Plato theoretisch in seiner Staatslehre entwickelt worden ist. Die Folgerungen
dieses Standpunktes hat die heutige Sozialdemokratie gezogen: die Kinder,
das Erzeugnis freier Liebe, sollen den Eltern gleich nach der Geburt ge¬
nommen und in großen Staatsanstalten ausgezogen werden. Ohne daß sie zu
wissen nötig hätten, wer ihre Eltern sind, haben sie den Staat als Vater, die
Gesellschaft als Mutter zu verehren. Hat jemand Lust zu solcher Staats¬
dressur?



*) Deutsche Erziehung von Fritz Schultze, ort. Professor der Philosophie
Pädagogik an der technischen Hochschule zu Dresden. Leipzig, E. Günther, 1893.
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[0029] Deutsche Erziehung Buche Fr. Schultzes*) bildet, der sich damit an Herbart und an Ziller, den energischen Vertreter der Herbartischen Gedanken, anschließt. Sein Buch ist als ein neues Zeichen für die Lebenskraft dieser Gedanken zu betrachten, als ein neuer Beweis dafür, daß fie immer mehr die erzieherischen Kreise zu beherr¬ schen und damit das geistige Leben des heranwachsenden Geschlechts zu be¬ stimmen anfangen. Ganz im Sinne der Herbartischen Pädagogik stellt Fr. Schultze an die Spitze seines Buches die Bestimmung über das Hauptziel aller Erziehungs¬ thätigkeit. Wie dieses Ziel bestimmt wird, davon hängt der Charakter der gesamten Erziehung ab. Im allgemeinen kann man sagen, sind die Zwecke, die sich die Erzieher setzen, so verschieden, wie sie selbst. Sie werden dabei von den Ansichten geleitet über das, was dem Leben seinen Wert giebt. Gut, wenn sich diese Ansichten wenigstens zu voller Klarheit durchgerungen haben. Aber bei nicht wenigen besteht' das Erziehungsziel in einem allgemeinen Ge¬ danken, dem es an scharfer Gliederung und Ausarbeitung im einzelnen fehlt, der in einem unbestimmten Komplex alles dessen besteht, was ihnen als wünschenswert und erreichbar erscheint. Der Versasser der „Deutschen Erziehung" gehört nicht zu diesen. Mit Herbart hat er einen klaren, fest umrissenen Erziehungszweck vor Augen. Er ist sich deutlich bewußt, daß die Erziehung, ohne ein bestimmtes, scharf ge¬ zeichnetes Ziel vor Augen zu haben, in der Irre schweifen muß. Er weiß, daß das Ziel der Erziehung nicht außerhalb des Zöglings gesucht werden darf, sondern in diesem selbst, also in einer bestimmten Gestaltung des ünßern und innern Lebens, die sich durch bewußte Thätigkeit hervorbringen läßt. Der Verfasser verurteilt deshalb in den schärfsten Ausdrücken deu Stand¬ punkt des platten Militarismus, da mit ihm notwendig die Entwicklung der Selbstsucht verbunden ist. Weiter kann er auch nicht das Heil erblicken in dein Einleben in ein kirchliches Shstem. So sehr er einer echten Frömmigkeit das Wort redet, so energisch wendet er sich gegen jede theologische Verüußer- lichung, gegen jede dogmatische Engherzigkeit. Ebenso weist er eine politische Erziehung zurück, wie sie im Altertum bei den Spartanern verwirklicht, von Plato theoretisch in seiner Staatslehre entwickelt worden ist. Die Folgerungen dieses Standpunktes hat die heutige Sozialdemokratie gezogen: die Kinder, das Erzeugnis freier Liebe, sollen den Eltern gleich nach der Geburt ge¬ nommen und in großen Staatsanstalten ausgezogen werden. Ohne daß sie zu wissen nötig hätten, wer ihre Eltern sind, haben sie den Staat als Vater, die Gesellschaft als Mutter zu verehren. Hat jemand Lust zu solcher Staats¬ dressur? *) Deutsche Erziehung von Fritz Schultze, ort. Professor der Philosophie Pädagogik an der technischen Hochschule zu Dresden. Leipzig, E. Günther, 1893.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/29>, abgerufen am 01.09.2024.