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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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vom Mittelpunkte des Unterrichts

den eigentlichen Märtyrern unsrer erbaulichen Schulzustände anch wieder ein¬
mal einen Blick zu gönnen.

Also das Deutsche gehört von Rechts wegen seit mehr als zwei Jahren
schon in den Mittelpunkt des Unterrichts. Anscheinend hat es jedoch seine
Schwierigkeiten, es da hineinzubringen. Wie fangen wir das an? Nun,
L0nilUönoö5i xg,r 1s oommsnoöinöut, meine Herren Kultusminister, beginnen
Sie mit dem, was man im engern Sinne unter Deutsch versteht, mit der
deutschen Sprache. Erlassen Sie eine "diesbezügliche Verfügung," meinet¬
wegen einen neuen revidirten Lehrplan, der alte revidirte hat lange genug
gehalten, und schreiben Sie da hinein unter Deutsch: Gegenstand des deutschen
Unterrichts ist die ganz unglaubliche Verwilderung der deutschen Sprache;
als Hilfsmittel für den Unterricht werden empfohlen: Ministerialerlasfe, Thron¬
reden, Entscheidungen des Reichsgerichts, Reden der Volksvertreter, Leitartikel
der Tagesblätter und andre stilistische Scheußlichkeiten.

Dies ist kein Scherz. Soll bei der Reform des deutschen Unterrichts
ersprießliches herauskommen, so muß er hier einsetzen. Ich blättere da in
einem Ghmnnsialprogramm, in dem zur Verzierung der trocknen Nachrichten
gar gelehrte Sachen abgehandelt werden über die Erklärung deutscher Schrift¬
werke auf den obern Klassen; da steht gleich zu Anfang in zehn Zeilen zwei
mal "des bezüglichen Schriftwerkes" und "der bezüglichen klassischen
Schriften." Nicht wahr, der "bezügliche" Herr ist jedenfalls hervorragend
befähigt, in den obern Klaffen deutsche Schriftwerke zu erklären? Das ist
nur ein Beispiel, und da ich nicht von der Zahlenwut besessen, vielmehr der
Meinung bin, in der richtigen Auswahl der Belege stecke mehr Beweiskraft
als in der großen Zahl, so mag es genügen. Schwerlich auch wird jemand
die Behauptung dagegen setzen wollen, die Programmarbeiten unsrer Lehrer
seien Muster deutschen Stils. Und sie sollten es doch sein, mindestens wenn
sie vom Lehrer des Deutschen geschrieben sind.

Nun können wir an lauter abschreckenden Beispielen wohl lernen, wie
man nicht schreiben, aber nicht wie man schreiben soll. Wo nehmen wir
mustergiltige Vorbilder her? Bon unsern Klassikern? Die sind selbst schon
angesteckt, wenn auch nicht sehr, so doch zu sehr, um als "einwandfreie"
Muster zu gelten. Nein, wir müssen weiter zurück, in die Zeit, da sich zwischen
Redner und Hörer noch kein papierner Wisch gedrängt hatte, der sich anfühlt
wie schlecht getrocknete Wäsche und nicht einmal dazu taugt, ein Butterbrot
einzuwickeln; denn gar mancher, der, mehr der Not gehorchend als dem eignen
Triebe, sein Brot mit Thränen ißt, verzichtet doch auf Druckerschwärze als
Beilage. Als das Lied noch Flügel hatte und noch nicht auf grauem Papier
dahinkroch, in der schimmernden Stauferzeit, wo die Sprache noch frei flutete
von den Lippen zum Ohr, dort müssen wir uns Genesung holen für unsern
kranken Stil. Denn, meine Herren Kultusminister, diese fahrenden Ritter


vom Mittelpunkte des Unterrichts

den eigentlichen Märtyrern unsrer erbaulichen Schulzustände anch wieder ein¬
mal einen Blick zu gönnen.

Also das Deutsche gehört von Rechts wegen seit mehr als zwei Jahren
schon in den Mittelpunkt des Unterrichts. Anscheinend hat es jedoch seine
Schwierigkeiten, es da hineinzubringen. Wie fangen wir das an? Nun,
L0nilUönoö5i xg,r 1s oommsnoöinöut, meine Herren Kultusminister, beginnen
Sie mit dem, was man im engern Sinne unter Deutsch versteht, mit der
deutschen Sprache. Erlassen Sie eine „diesbezügliche Verfügung," meinet¬
wegen einen neuen revidirten Lehrplan, der alte revidirte hat lange genug
gehalten, und schreiben Sie da hinein unter Deutsch: Gegenstand des deutschen
Unterrichts ist die ganz unglaubliche Verwilderung der deutschen Sprache;
als Hilfsmittel für den Unterricht werden empfohlen: Ministerialerlasfe, Thron¬
reden, Entscheidungen des Reichsgerichts, Reden der Volksvertreter, Leitartikel
der Tagesblätter und andre stilistische Scheußlichkeiten.

Dies ist kein Scherz. Soll bei der Reform des deutschen Unterrichts
ersprießliches herauskommen, so muß er hier einsetzen. Ich blättere da in
einem Ghmnnsialprogramm, in dem zur Verzierung der trocknen Nachrichten
gar gelehrte Sachen abgehandelt werden über die Erklärung deutscher Schrift¬
werke auf den obern Klassen; da steht gleich zu Anfang in zehn Zeilen zwei
mal „des bezüglichen Schriftwerkes" und „der bezüglichen klassischen
Schriften." Nicht wahr, der „bezügliche" Herr ist jedenfalls hervorragend
befähigt, in den obern Klaffen deutsche Schriftwerke zu erklären? Das ist
nur ein Beispiel, und da ich nicht von der Zahlenwut besessen, vielmehr der
Meinung bin, in der richtigen Auswahl der Belege stecke mehr Beweiskraft
als in der großen Zahl, so mag es genügen. Schwerlich auch wird jemand
die Behauptung dagegen setzen wollen, die Programmarbeiten unsrer Lehrer
seien Muster deutschen Stils. Und sie sollten es doch sein, mindestens wenn
sie vom Lehrer des Deutschen geschrieben sind.

Nun können wir an lauter abschreckenden Beispielen wohl lernen, wie
man nicht schreiben, aber nicht wie man schreiben soll. Wo nehmen wir
mustergiltige Vorbilder her? Bon unsern Klassikern? Die sind selbst schon
angesteckt, wenn auch nicht sehr, so doch zu sehr, um als „einwandfreie"
Muster zu gelten. Nein, wir müssen weiter zurück, in die Zeit, da sich zwischen
Redner und Hörer noch kein papierner Wisch gedrängt hatte, der sich anfühlt
wie schlecht getrocknete Wäsche und nicht einmal dazu taugt, ein Butterbrot
einzuwickeln; denn gar mancher, der, mehr der Not gehorchend als dem eignen
Triebe, sein Brot mit Thränen ißt, verzichtet doch auf Druckerschwärze als
Beilage. Als das Lied noch Flügel hatte und noch nicht auf grauem Papier
dahinkroch, in der schimmernden Stauferzeit, wo die Sprache noch frei flutete
von den Lippen zum Ohr, dort müssen wir uns Genesung holen für unsern
kranken Stil. Denn, meine Herren Kultusminister, diese fahrenden Ritter


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[0223] vom Mittelpunkte des Unterrichts den eigentlichen Märtyrern unsrer erbaulichen Schulzustände anch wieder ein¬ mal einen Blick zu gönnen. Also das Deutsche gehört von Rechts wegen seit mehr als zwei Jahren schon in den Mittelpunkt des Unterrichts. Anscheinend hat es jedoch seine Schwierigkeiten, es da hineinzubringen. Wie fangen wir das an? Nun, L0nilUönoö5i xg,r 1s oommsnoöinöut, meine Herren Kultusminister, beginnen Sie mit dem, was man im engern Sinne unter Deutsch versteht, mit der deutschen Sprache. Erlassen Sie eine „diesbezügliche Verfügung," meinet¬ wegen einen neuen revidirten Lehrplan, der alte revidirte hat lange genug gehalten, und schreiben Sie da hinein unter Deutsch: Gegenstand des deutschen Unterrichts ist die ganz unglaubliche Verwilderung der deutschen Sprache; als Hilfsmittel für den Unterricht werden empfohlen: Ministerialerlasfe, Thron¬ reden, Entscheidungen des Reichsgerichts, Reden der Volksvertreter, Leitartikel der Tagesblätter und andre stilistische Scheußlichkeiten. Dies ist kein Scherz. Soll bei der Reform des deutschen Unterrichts ersprießliches herauskommen, so muß er hier einsetzen. Ich blättere da in einem Ghmnnsialprogramm, in dem zur Verzierung der trocknen Nachrichten gar gelehrte Sachen abgehandelt werden über die Erklärung deutscher Schrift¬ werke auf den obern Klassen; da steht gleich zu Anfang in zehn Zeilen zwei mal „des bezüglichen Schriftwerkes" und „der bezüglichen klassischen Schriften." Nicht wahr, der „bezügliche" Herr ist jedenfalls hervorragend befähigt, in den obern Klaffen deutsche Schriftwerke zu erklären? Das ist nur ein Beispiel, und da ich nicht von der Zahlenwut besessen, vielmehr der Meinung bin, in der richtigen Auswahl der Belege stecke mehr Beweiskraft als in der großen Zahl, so mag es genügen. Schwerlich auch wird jemand die Behauptung dagegen setzen wollen, die Programmarbeiten unsrer Lehrer seien Muster deutschen Stils. Und sie sollten es doch sein, mindestens wenn sie vom Lehrer des Deutschen geschrieben sind. Nun können wir an lauter abschreckenden Beispielen wohl lernen, wie man nicht schreiben, aber nicht wie man schreiben soll. Wo nehmen wir mustergiltige Vorbilder her? Bon unsern Klassikern? Die sind selbst schon angesteckt, wenn auch nicht sehr, so doch zu sehr, um als „einwandfreie" Muster zu gelten. Nein, wir müssen weiter zurück, in die Zeit, da sich zwischen Redner und Hörer noch kein papierner Wisch gedrängt hatte, der sich anfühlt wie schlecht getrocknete Wäsche und nicht einmal dazu taugt, ein Butterbrot einzuwickeln; denn gar mancher, der, mehr der Not gehorchend als dem eignen Triebe, sein Brot mit Thränen ißt, verzichtet doch auf Druckerschwärze als Beilage. Als das Lied noch Flügel hatte und noch nicht auf grauem Papier dahinkroch, in der schimmernden Stauferzeit, wo die Sprache noch frei flutete von den Lippen zum Ohr, dort müssen wir uns Genesung holen für unsern kranken Stil. Denn, meine Herren Kultusminister, diese fahrenden Ritter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/223>, abgerufen am 27.11.2024.