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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Griechen an Griechen, nicht in der vorübergehenden Wild einer durch den Kampf
aufgeregten Leidenschaft, sondern nach dem Siege mit kaltblütiger Überlegung
und nach einem berechneten Plane verübt; Demokratien und Aristokratien, Athen
und Sparta wetteiferten darin mit einander." Dagegen wäre zunächst zu be¬
merken, daß uns aus der athemscheu Geschichte doch eigentlich nur ein Fall
einer großen Abschlachtung bekannt ist. Als sich im peloponnesischen Kriege
427 die abgefallne Insel Lesbos auf Gnade und Ungnade ergeben hatte, da
sprachen die Athener, auf des Demagogen Kleon Rat, das Todesurteil über
alle Männer von Mitylene aus, bereuten aber sofort ihre Übereilung und
schränkten am andern Tage das Urteil auf die Anstifter der Verschwörung ein.
Freilich betrug die Zahl der Hingerichteten auch so immer noch gegen tausend.
Sodann aber ist im allgemeinen zu bemerken, daß im öffentlichen Leben von
Moral überhaupt nichts sichtbar wird; wer den Menschen nicht im Privat¬
leben, sondern auf dem weltgeschichtlichen Schauplatze sucht, der findet gar keine
Menschen, sondern nur eine Bande von Narren, Bestien und Teufeln. Was
wollen die Kämpfe der Griechen unter einander bedeuten gegenüber der Selbst-
zerfleischung der christliche" Völker Europas! Von der Völkerwanderung bis
zum zweiten Pariser Frieden 1815 ein fast ununterbrochnes Gemetzel, verschärft
durch Augenausstechen, Verstümmeln, Foltern, Verbrennen, Schwedentrank und
andre unsagbare Greuel, deren sich die vorbyzantinischen Griechen niemals
schuldig gemacht haben! Daß es seit 1815 besser geworden ist, haben wir ge¬
wissen politischen Verhältnissen zu verdanken, deren Erörterung nicht hierher
gehört, sowie der Umwandlung der Kriegführung durch die Vervollkommnung
der Zerstörungswerkzeuge; ein wenig auch der Humanitätsbewegung, die aber
in der letzten Zeit wieder zurückgestaut worden ist. Dazu, meint Döllinger,
seien dann noch die Parteikämpfe in jeder einzelnen Stadt gekommen. "Da
war es dann noch ein Glück, wenn die unterliegende Partei bloß verbannt
und beraubt, nicht ermordet wurde, denn auch dies geschah nicht selten. Aus
einer einzigen Stadt, klagte Jsvlrates, gebe es mehr Verbannte und Flüchtige,
als in alten Zeiten aus der ganzen Peloponnes. So ward Griechenland mit
heimatlosen Geächteten, welche sich in plündernde und verwüstende Söldner¬
scharen znsammenthaten und jedem um Geld dienten, erfüllt." Genau so wie
das mittelalterliche Italien, das dreihundert Jahre lang von tuoru8<ziti und
blmciiU wimmelte, wodurch die Entstehung des Kondottierentums nicht wenig
befördert wurde.

Noch eins sei erwähnt, was aus deu griechischen Dramen und aus der
Wirkung, die sie aufs Volk übten, ohne weiteres hervorgeht, daß das Hä߬
liche und Schreckliche jeder Unthat tief empfunden wurde und die Gemüter
heftig erschütterte. Bei uns Heutigen kann wegen der Masse von Unthaten,
die wir aus den Zeitungen täglich erfahren, kaum noch von einem tiefern Ein¬
druck die Rede sein. Wir fangen an stumpfsinnig zu werden. Ja, der Philister


Die ätherische Volksmoral im Drama

Griechen an Griechen, nicht in der vorübergehenden Wild einer durch den Kampf
aufgeregten Leidenschaft, sondern nach dem Siege mit kaltblütiger Überlegung
und nach einem berechneten Plane verübt; Demokratien und Aristokratien, Athen
und Sparta wetteiferten darin mit einander." Dagegen wäre zunächst zu be¬
merken, daß uns aus der athemscheu Geschichte doch eigentlich nur ein Fall
einer großen Abschlachtung bekannt ist. Als sich im peloponnesischen Kriege
427 die abgefallne Insel Lesbos auf Gnade und Ungnade ergeben hatte, da
sprachen die Athener, auf des Demagogen Kleon Rat, das Todesurteil über
alle Männer von Mitylene aus, bereuten aber sofort ihre Übereilung und
schränkten am andern Tage das Urteil auf die Anstifter der Verschwörung ein.
Freilich betrug die Zahl der Hingerichteten auch so immer noch gegen tausend.
Sodann aber ist im allgemeinen zu bemerken, daß im öffentlichen Leben von
Moral überhaupt nichts sichtbar wird; wer den Menschen nicht im Privat¬
leben, sondern auf dem weltgeschichtlichen Schauplatze sucht, der findet gar keine
Menschen, sondern nur eine Bande von Narren, Bestien und Teufeln. Was
wollen die Kämpfe der Griechen unter einander bedeuten gegenüber der Selbst-
zerfleischung der christliche« Völker Europas! Von der Völkerwanderung bis
zum zweiten Pariser Frieden 1815 ein fast ununterbrochnes Gemetzel, verschärft
durch Augenausstechen, Verstümmeln, Foltern, Verbrennen, Schwedentrank und
andre unsagbare Greuel, deren sich die vorbyzantinischen Griechen niemals
schuldig gemacht haben! Daß es seit 1815 besser geworden ist, haben wir ge¬
wissen politischen Verhältnissen zu verdanken, deren Erörterung nicht hierher
gehört, sowie der Umwandlung der Kriegführung durch die Vervollkommnung
der Zerstörungswerkzeuge; ein wenig auch der Humanitätsbewegung, die aber
in der letzten Zeit wieder zurückgestaut worden ist. Dazu, meint Döllinger,
seien dann noch die Parteikämpfe in jeder einzelnen Stadt gekommen. „Da
war es dann noch ein Glück, wenn die unterliegende Partei bloß verbannt
und beraubt, nicht ermordet wurde, denn auch dies geschah nicht selten. Aus
einer einzigen Stadt, klagte Jsvlrates, gebe es mehr Verbannte und Flüchtige,
als in alten Zeiten aus der ganzen Peloponnes. So ward Griechenland mit
heimatlosen Geächteten, welche sich in plündernde und verwüstende Söldner¬
scharen znsammenthaten und jedem um Geld dienten, erfüllt." Genau so wie
das mittelalterliche Italien, das dreihundert Jahre lang von tuoru8<ziti und
blmciiU wimmelte, wodurch die Entstehung des Kondottierentums nicht wenig
befördert wurde.

Noch eins sei erwähnt, was aus deu griechischen Dramen und aus der
Wirkung, die sie aufs Volk übten, ohne weiteres hervorgeht, daß das Hä߬
liche und Schreckliche jeder Unthat tief empfunden wurde und die Gemüter
heftig erschütterte. Bei uns Heutigen kann wegen der Masse von Unthaten,
die wir aus den Zeitungen täglich erfahren, kaum noch von einem tiefern Ein¬
druck die Rede sein. Wir fangen an stumpfsinnig zu werden. Ja, der Philister


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[0174] Die ätherische Volksmoral im Drama Griechen an Griechen, nicht in der vorübergehenden Wild einer durch den Kampf aufgeregten Leidenschaft, sondern nach dem Siege mit kaltblütiger Überlegung und nach einem berechneten Plane verübt; Demokratien und Aristokratien, Athen und Sparta wetteiferten darin mit einander." Dagegen wäre zunächst zu be¬ merken, daß uns aus der athemscheu Geschichte doch eigentlich nur ein Fall einer großen Abschlachtung bekannt ist. Als sich im peloponnesischen Kriege 427 die abgefallne Insel Lesbos auf Gnade und Ungnade ergeben hatte, da sprachen die Athener, auf des Demagogen Kleon Rat, das Todesurteil über alle Männer von Mitylene aus, bereuten aber sofort ihre Übereilung und schränkten am andern Tage das Urteil auf die Anstifter der Verschwörung ein. Freilich betrug die Zahl der Hingerichteten auch so immer noch gegen tausend. Sodann aber ist im allgemeinen zu bemerken, daß im öffentlichen Leben von Moral überhaupt nichts sichtbar wird; wer den Menschen nicht im Privat¬ leben, sondern auf dem weltgeschichtlichen Schauplatze sucht, der findet gar keine Menschen, sondern nur eine Bande von Narren, Bestien und Teufeln. Was wollen die Kämpfe der Griechen unter einander bedeuten gegenüber der Selbst- zerfleischung der christliche« Völker Europas! Von der Völkerwanderung bis zum zweiten Pariser Frieden 1815 ein fast ununterbrochnes Gemetzel, verschärft durch Augenausstechen, Verstümmeln, Foltern, Verbrennen, Schwedentrank und andre unsagbare Greuel, deren sich die vorbyzantinischen Griechen niemals schuldig gemacht haben! Daß es seit 1815 besser geworden ist, haben wir ge¬ wissen politischen Verhältnissen zu verdanken, deren Erörterung nicht hierher gehört, sowie der Umwandlung der Kriegführung durch die Vervollkommnung der Zerstörungswerkzeuge; ein wenig auch der Humanitätsbewegung, die aber in der letzten Zeit wieder zurückgestaut worden ist. Dazu, meint Döllinger, seien dann noch die Parteikämpfe in jeder einzelnen Stadt gekommen. „Da war es dann noch ein Glück, wenn die unterliegende Partei bloß verbannt und beraubt, nicht ermordet wurde, denn auch dies geschah nicht selten. Aus einer einzigen Stadt, klagte Jsvlrates, gebe es mehr Verbannte und Flüchtige, als in alten Zeiten aus der ganzen Peloponnes. So ward Griechenland mit heimatlosen Geächteten, welche sich in plündernde und verwüstende Söldner¬ scharen znsammenthaten und jedem um Geld dienten, erfüllt." Genau so wie das mittelalterliche Italien, das dreihundert Jahre lang von tuoru8<ziti und blmciiU wimmelte, wodurch die Entstehung des Kondottierentums nicht wenig befördert wurde. Noch eins sei erwähnt, was aus deu griechischen Dramen und aus der Wirkung, die sie aufs Volk übten, ohne weiteres hervorgeht, daß das Hä߬ liche und Schreckliche jeder Unthat tief empfunden wurde und die Gemüter heftig erschütterte. Bei uns Heutigen kann wegen der Masse von Unthaten, die wir aus den Zeitungen täglich erfahren, kaum noch von einem tiefern Ein¬ druck die Rede sein. Wir fangen an stumpfsinnig zu werden. Ja, der Philister

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/174>, abgerufen am 23.11.2024.