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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drams

letzt dem Haß seiner Gegner zum Opfer siel, aber doch erst, nachdem er wohl
dreißig Jahre lang bei einer ganz allein nach freier Willkür und eignem Be¬
lieben gestalteten Lebensweise die bestehenden Zustände und die herrschenden
Personen aufs herbste kritisirt hatte? Und hat es je eine freiere, kühnere,
eigenwilligere Wirkungsweise gegeben als die des Aristophanes, der alle Staats¬
einrichtungen und Staatsmänner lächerlich macht und in den Rittern sein
souveränes Atheuervolk unter der Gestalt eines halb blödsinnigen dämlichen
Greises verspottet, der erst im Wurstkessel aufgekocht werden muß, ehe er sich
wieder mit Austand vor den Menschen sehen lassen kann? Daß aber die
Griechen, mit Ausnahme der Spartaner, im Privatleben, in Eheschließung
und Kindererziehung, in Gewerbe und Handelsverkehr, in dem Betriebe ihrer
Landwirtschaft mehr als wir Heutigen vom Staate beaufsichtigt und beschränkt
worden wären, davon ist doch nichts bekannt, wenn man uicht etwa den Um¬
stand geltend machen will, daß in Athen die hohen Leistungen für den Staat,
die den Reichen aufgebürdet wurden, der Anhäufung großer Reichtümer
hinderlich waren. "Wo das Wohl des einzelnen mit dem des Staates in
Kollision kam oder nur zu kommen schien, da mußte der einzelne weichen und
als Opfer fallen; man schritt über ihn und sein Recht hinweg." Ganz so
wie immer und überall, wo ein kräftiges Gemeinwesen waltet, mag es Stadt,
Staat oder Kirche heißen! "Daher der Ostrazismns in Athen, Megara, Milet,
Argos, der Petalismus*) in Syrakus." Der Ostrazismus war, weil er die
Ehre und deu guten Ruf des Betroffnen nicht schädigte, eine weit anständigere
Art und Weise, sich verhaßter oder dem Gemeinwesen gefährlich scheinender
Personen zu entledigen, als die heute gebräuchlichen Praktiken, zu denen unter
andern auch die strafrechtliche Verfolgung in Ungnade gefallener oder mi߬
liebiger Politiker gehört. "Demnach war der griechische Begriff von Gerech¬
tigkeit: daß alles gerecht sei, was dem Staate fromme. Sittlichkeit und Tugend
bestanden in der Konformität des einzelnen Willens mit dem Staatswillen
und in der Fähigkeit, dem Staate zu dienen, dem Ganzen sich möglichst
nützlich zu erweisen." Dieser Begriff von Sittlichkeit beherrscht zwar heute
die Staatsweisen sowohl Hegelscher als Darwinischer Schule und in der
Praxis, wenn auch uicht in der Theorie, die römischen Katholiken, denen ihre
Kirche als das eigentliche und höchstberechtigte Gemeinwesen gilt, aber bei den
Alten wurde es keineswegs so unbedingt anerkannt. Sogar in Plcitos Staat
gilt als der wahrhaft Gerechte der Mann, der sich um der Gerechtigkeit willen
kreuzigen läßt, der also dem ungerechten Staate bis in den Tod Widerstand
leistet, und im Drama, das ohne Zweifel den Volksgeist treuer wiederspiegelt,
als es die Schriften der Philosophen thun, findet sich, wie wir gesehen haben,
von dieser Auffassung der Sittlichkeit keine Spur.



5) So genannt, weil der Name des zu Verbannenden aus Ölblntter geschrieben wurde.
Die ätherische Volksmoral im Drams

letzt dem Haß seiner Gegner zum Opfer siel, aber doch erst, nachdem er wohl
dreißig Jahre lang bei einer ganz allein nach freier Willkür und eignem Be¬
lieben gestalteten Lebensweise die bestehenden Zustände und die herrschenden
Personen aufs herbste kritisirt hatte? Und hat es je eine freiere, kühnere,
eigenwilligere Wirkungsweise gegeben als die des Aristophanes, der alle Staats¬
einrichtungen und Staatsmänner lächerlich macht und in den Rittern sein
souveränes Atheuervolk unter der Gestalt eines halb blödsinnigen dämlichen
Greises verspottet, der erst im Wurstkessel aufgekocht werden muß, ehe er sich
wieder mit Austand vor den Menschen sehen lassen kann? Daß aber die
Griechen, mit Ausnahme der Spartaner, im Privatleben, in Eheschließung
und Kindererziehung, in Gewerbe und Handelsverkehr, in dem Betriebe ihrer
Landwirtschaft mehr als wir Heutigen vom Staate beaufsichtigt und beschränkt
worden wären, davon ist doch nichts bekannt, wenn man uicht etwa den Um¬
stand geltend machen will, daß in Athen die hohen Leistungen für den Staat,
die den Reichen aufgebürdet wurden, der Anhäufung großer Reichtümer
hinderlich waren. „Wo das Wohl des einzelnen mit dem des Staates in
Kollision kam oder nur zu kommen schien, da mußte der einzelne weichen und
als Opfer fallen; man schritt über ihn und sein Recht hinweg." Ganz so
wie immer und überall, wo ein kräftiges Gemeinwesen waltet, mag es Stadt,
Staat oder Kirche heißen! „Daher der Ostrazismns in Athen, Megara, Milet,
Argos, der Petalismus*) in Syrakus." Der Ostrazismus war, weil er die
Ehre und deu guten Ruf des Betroffnen nicht schädigte, eine weit anständigere
Art und Weise, sich verhaßter oder dem Gemeinwesen gefährlich scheinender
Personen zu entledigen, als die heute gebräuchlichen Praktiken, zu denen unter
andern auch die strafrechtliche Verfolgung in Ungnade gefallener oder mi߬
liebiger Politiker gehört. „Demnach war der griechische Begriff von Gerech¬
tigkeit: daß alles gerecht sei, was dem Staate fromme. Sittlichkeit und Tugend
bestanden in der Konformität des einzelnen Willens mit dem Staatswillen
und in der Fähigkeit, dem Staate zu dienen, dem Ganzen sich möglichst
nützlich zu erweisen." Dieser Begriff von Sittlichkeit beherrscht zwar heute
die Staatsweisen sowohl Hegelscher als Darwinischer Schule und in der
Praxis, wenn auch uicht in der Theorie, die römischen Katholiken, denen ihre
Kirche als das eigentliche und höchstberechtigte Gemeinwesen gilt, aber bei den
Alten wurde es keineswegs so unbedingt anerkannt. Sogar in Plcitos Staat
gilt als der wahrhaft Gerechte der Mann, der sich um der Gerechtigkeit willen
kreuzigen läßt, der also dem ungerechten Staate bis in den Tod Widerstand
leistet, und im Drama, das ohne Zweifel den Volksgeist treuer wiederspiegelt,
als es die Schriften der Philosophen thun, findet sich, wie wir gesehen haben,
von dieser Auffassung der Sittlichkeit keine Spur.



5) So genannt, weil der Name des zu Verbannenden aus Ölblntter geschrieben wurde.
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[0172] Die ätherische Volksmoral im Drams letzt dem Haß seiner Gegner zum Opfer siel, aber doch erst, nachdem er wohl dreißig Jahre lang bei einer ganz allein nach freier Willkür und eignem Be¬ lieben gestalteten Lebensweise die bestehenden Zustände und die herrschenden Personen aufs herbste kritisirt hatte? Und hat es je eine freiere, kühnere, eigenwilligere Wirkungsweise gegeben als die des Aristophanes, der alle Staats¬ einrichtungen und Staatsmänner lächerlich macht und in den Rittern sein souveränes Atheuervolk unter der Gestalt eines halb blödsinnigen dämlichen Greises verspottet, der erst im Wurstkessel aufgekocht werden muß, ehe er sich wieder mit Austand vor den Menschen sehen lassen kann? Daß aber die Griechen, mit Ausnahme der Spartaner, im Privatleben, in Eheschließung und Kindererziehung, in Gewerbe und Handelsverkehr, in dem Betriebe ihrer Landwirtschaft mehr als wir Heutigen vom Staate beaufsichtigt und beschränkt worden wären, davon ist doch nichts bekannt, wenn man uicht etwa den Um¬ stand geltend machen will, daß in Athen die hohen Leistungen für den Staat, die den Reichen aufgebürdet wurden, der Anhäufung großer Reichtümer hinderlich waren. „Wo das Wohl des einzelnen mit dem des Staates in Kollision kam oder nur zu kommen schien, da mußte der einzelne weichen und als Opfer fallen; man schritt über ihn und sein Recht hinweg." Ganz so wie immer und überall, wo ein kräftiges Gemeinwesen waltet, mag es Stadt, Staat oder Kirche heißen! „Daher der Ostrazismns in Athen, Megara, Milet, Argos, der Petalismus*) in Syrakus." Der Ostrazismus war, weil er die Ehre und deu guten Ruf des Betroffnen nicht schädigte, eine weit anständigere Art und Weise, sich verhaßter oder dem Gemeinwesen gefährlich scheinender Personen zu entledigen, als die heute gebräuchlichen Praktiken, zu denen unter andern auch die strafrechtliche Verfolgung in Ungnade gefallener oder mi߬ liebiger Politiker gehört. „Demnach war der griechische Begriff von Gerech¬ tigkeit: daß alles gerecht sei, was dem Staate fromme. Sittlichkeit und Tugend bestanden in der Konformität des einzelnen Willens mit dem Staatswillen und in der Fähigkeit, dem Staate zu dienen, dem Ganzen sich möglichst nützlich zu erweisen." Dieser Begriff von Sittlichkeit beherrscht zwar heute die Staatsweisen sowohl Hegelscher als Darwinischer Schule und in der Praxis, wenn auch uicht in der Theorie, die römischen Katholiken, denen ihre Kirche als das eigentliche und höchstberechtigte Gemeinwesen gilt, aber bei den Alten wurde es keineswegs so unbedingt anerkannt. Sogar in Plcitos Staat gilt als der wahrhaft Gerechte der Mann, der sich um der Gerechtigkeit willen kreuzigen läßt, der also dem ungerechten Staate bis in den Tod Widerstand leistet, und im Drama, das ohne Zweifel den Volksgeist treuer wiederspiegelt, als es die Schriften der Philosophen thun, findet sich, wie wir gesehen haben, von dieser Auffassung der Sittlichkeit keine Spur. 5) So genannt, weil der Name des zu Verbannenden aus Ölblntter geschrieben wurde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/172>, abgerufen am 23.11.2024.