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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Odysseus

Dein Wort erschreckt mich. Welcher Schuld klagst du dich an?

Nevptolemos

Daß ich nach deinem und des Heeres Willen that.

Odysseus

Von welcher Handlung sprichst du, die dir nicht geziemt?

Nevptolemos

Mit schnöder Arglist hab ich diesen Mann umgarnt.


Nun wolle er ihm die widerrechtlich geraubten Waffen wiedergeben.


Odysseus

Du aber bist in Worten nicht noch Werken klug.

Nevptolemos

Doch Wenns gerecht ist, gilt dies höher mir als klug.

Odysseus

Und fürchtest du, so handelnd, die Achaier nicht?

Ncoptolcmos

Nicht fürcht ich deine Drohung, wenn das Recht mich schützt.


Nevptolemos setzt seinen Willen durch und übergiebt dem Philoktet seine
Waffen. Lange bemüht er sich noch, den verbitterten und eigensinnigen Kranken
durch verständiges Zureden zum Mitgehen zu bewegen; er möge doch seinen be¬
greiflichen Widerwillen überwinden; vor Troja werde er zuerst Heilung finden,
dann hohen Ruhm gewinnen. Es nützt alles nichts. Da spricht Nevptolemos
endlich:


Was soll ich noch beginnen, wenn ein jedes Wort,
Das dich zu überzeugen sucht, vergeblich ist?
Am leichtsten wird mirs, geb' ich weitres Reden ans;
Du lebst dann ungerettct, wie zuvor.

Philoktet erinnert ihn an sein anfängliches Versprechen, ihn in seine, des
Neoptvlcmos Heimat mitzunehmen; dahin möge er segeln und an Troja nicht
mehr denken. Gehn wir denn, Wenns dir so gut scheint, spricht der Jüngling
und schickt sich an, den stinkenden Krüppel fortzuschleppen, als Herakles er¬
scheint und anders entscheidet.

Was würde Schiller für einen schönen laugen Monolog geschrieben haben,
um breit auseinander zu legen, auf was alles der junge Held verzichtet, indem
er jenem Elenden sein Wort hält, und welche Last er sich aufbürdet! Viel¬
leicht schwebte diese Stelle aus Philoktet Goethen vor, als er seinem Thoas
das große Schlußwort: "So geht, lebt wohl!" in den Mund legte; aber des
Nevptolemos: "Gehn wir denn" ist größer. Hier haben wir also einen jungen
Mann, wahrhaftig und treu, lauter und einfältig, ehrliebend und heldenmütig,
aber zugleich mild und barmherzig, dem das Gute so natürlich ist, daß ihn
nicht das Gute Überwindung kostet"'), sondern vielmehr das Böse, wozu ihn



"Soll Sittlichkeit durchaus nnr in der Selbstbestimmung zum Guten gelegen sein,
so ist für diejenigen Naturen, die "von selbst," ohne Zweifel, ohne Wahl das Gute thun.
Die ätherische Volksmoral im Drama

Odysseus

Dein Wort erschreckt mich. Welcher Schuld klagst du dich an?

Nevptolemos

Daß ich nach deinem und des Heeres Willen that.

Odysseus

Von welcher Handlung sprichst du, die dir nicht geziemt?

Nevptolemos

Mit schnöder Arglist hab ich diesen Mann umgarnt.


Nun wolle er ihm die widerrechtlich geraubten Waffen wiedergeben.


Odysseus

Du aber bist in Worten nicht noch Werken klug.

Nevptolemos

Doch Wenns gerecht ist, gilt dies höher mir als klug.

Odysseus

Und fürchtest du, so handelnd, die Achaier nicht?

Ncoptolcmos

Nicht fürcht ich deine Drohung, wenn das Recht mich schützt.


Nevptolemos setzt seinen Willen durch und übergiebt dem Philoktet seine
Waffen. Lange bemüht er sich noch, den verbitterten und eigensinnigen Kranken
durch verständiges Zureden zum Mitgehen zu bewegen; er möge doch seinen be¬
greiflichen Widerwillen überwinden; vor Troja werde er zuerst Heilung finden,
dann hohen Ruhm gewinnen. Es nützt alles nichts. Da spricht Nevptolemos
endlich:


Was soll ich noch beginnen, wenn ein jedes Wort,
Das dich zu überzeugen sucht, vergeblich ist?
Am leichtsten wird mirs, geb' ich weitres Reden ans;
Du lebst dann ungerettct, wie zuvor.

Philoktet erinnert ihn an sein anfängliches Versprechen, ihn in seine, des
Neoptvlcmos Heimat mitzunehmen; dahin möge er segeln und an Troja nicht
mehr denken. Gehn wir denn, Wenns dir so gut scheint, spricht der Jüngling
und schickt sich an, den stinkenden Krüppel fortzuschleppen, als Herakles er¬
scheint und anders entscheidet.

Was würde Schiller für einen schönen laugen Monolog geschrieben haben,
um breit auseinander zu legen, auf was alles der junge Held verzichtet, indem
er jenem Elenden sein Wort hält, und welche Last er sich aufbürdet! Viel¬
leicht schwebte diese Stelle aus Philoktet Goethen vor, als er seinem Thoas
das große Schlußwort: „So geht, lebt wohl!" in den Mund legte; aber des
Nevptolemos: „Gehn wir denn" ist größer. Hier haben wir also einen jungen
Mann, wahrhaftig und treu, lauter und einfältig, ehrliebend und heldenmütig,
aber zugleich mild und barmherzig, dem das Gute so natürlich ist, daß ihn
nicht das Gute Überwindung kostet"'), sondern vielmehr das Böse, wozu ihn



„Soll Sittlichkeit durchaus nnr in der Selbstbestimmung zum Guten gelegen sein,
so ist für diejenigen Naturen, die »von selbst,« ohne Zweifel, ohne Wahl das Gute thun.
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[0166] Die ätherische Volksmoral im Drama Odysseus Dein Wort erschreckt mich. Welcher Schuld klagst du dich an? Nevptolemos Daß ich nach deinem und des Heeres Willen that. Odysseus Von welcher Handlung sprichst du, die dir nicht geziemt? Nevptolemos Mit schnöder Arglist hab ich diesen Mann umgarnt. Nun wolle er ihm die widerrechtlich geraubten Waffen wiedergeben. Odysseus Du aber bist in Worten nicht noch Werken klug. Nevptolemos Doch Wenns gerecht ist, gilt dies höher mir als klug. Odysseus Und fürchtest du, so handelnd, die Achaier nicht? Ncoptolcmos Nicht fürcht ich deine Drohung, wenn das Recht mich schützt. Nevptolemos setzt seinen Willen durch und übergiebt dem Philoktet seine Waffen. Lange bemüht er sich noch, den verbitterten und eigensinnigen Kranken durch verständiges Zureden zum Mitgehen zu bewegen; er möge doch seinen be¬ greiflichen Widerwillen überwinden; vor Troja werde er zuerst Heilung finden, dann hohen Ruhm gewinnen. Es nützt alles nichts. Da spricht Nevptolemos endlich: Was soll ich noch beginnen, wenn ein jedes Wort, Das dich zu überzeugen sucht, vergeblich ist? Am leichtsten wird mirs, geb' ich weitres Reden ans; Du lebst dann ungerettct, wie zuvor. Philoktet erinnert ihn an sein anfängliches Versprechen, ihn in seine, des Neoptvlcmos Heimat mitzunehmen; dahin möge er segeln und an Troja nicht mehr denken. Gehn wir denn, Wenns dir so gut scheint, spricht der Jüngling und schickt sich an, den stinkenden Krüppel fortzuschleppen, als Herakles er¬ scheint und anders entscheidet. Was würde Schiller für einen schönen laugen Monolog geschrieben haben, um breit auseinander zu legen, auf was alles der junge Held verzichtet, indem er jenem Elenden sein Wort hält, und welche Last er sich aufbürdet! Viel¬ leicht schwebte diese Stelle aus Philoktet Goethen vor, als er seinem Thoas das große Schlußwort: „So geht, lebt wohl!" in den Mund legte; aber des Nevptolemos: „Gehn wir denn" ist größer. Hier haben wir also einen jungen Mann, wahrhaftig und treu, lauter und einfältig, ehrliebend und heldenmütig, aber zugleich mild und barmherzig, dem das Gute so natürlich ist, daß ihn nicht das Gute Überwindung kostet"'), sondern vielmehr das Böse, wozu ihn „Soll Sittlichkeit durchaus nnr in der Selbstbestimmung zum Guten gelegen sein, so ist für diejenigen Naturen, die »von selbst,« ohne Zweifel, ohne Wahl das Gute thun.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/166>, abgerufen am 23.11.2024.