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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

und es werden jedem Kandidaten zu den Stimmen, die er an erster Stelle er¬
halten hat, die ihm an zweiter Stelle gegebnen zugezählt. Wer hiernach die höchste
Zahl von Stimmen auf sich vereinigt, ist gewählt, auch dann, wenn er nicht die
absolute Mehrheit hat. Denn wenn sich die an zweiter Stelle abgegebnen Stimmen
anch wieder auf aussichtslose Kandidaten zersplittern, so ist doch wohl meist an¬
zunehmen, daß viele vou deu Wählern sich auch uicht entschlossen hätten, in einer
Stichwahl für einen der aussichtsreicheru Kandidaten zu stimmen, sondern daß sie
sich lieber der Abstimmung enthalten hätten, daß also die absolute Mehrheit in
der Stichwahl kleiner gewesen wäre als im ersten Wahlgänge.

Es ist klar, daß dieses Verfahren nicht immer einem der beiden Kandidaten
zum Siege verhelfen würde, die unter den heutigen Verhältnissen mit einander in
Stichwahl gekommen sein würden. Das scheint mir aber kein Fehler zu sein. Es
ist heute ganz gut möglich, daß zwei rechte Parteistreithähne, von denen außer
ihren Wählern vom ersten Wahlgang niemand etwas wissen mag, mit einander in
Stichwahl kommen, während ein Mann von gemäßigten Anschauungen, mit dem
sich fast alle Wähler des Wahlkreises zur Not befreunden könnten, außer Kampf
gesetzt ist, weil er im ersten Wahlgänge vielleicht eine Stimme weniger gehabt hat
als einer jener Fanatiker. Nach dem hier vorgeschlagneu Verfahren würde dieser
Mann wahrscheinlich gewählt werden, und gewiß wäre er eher der Vertrauensmann
des ganzen Wahlkreises und somit der richtige Abgeordnete für ihn, als einer von
den beiden andern.

Nahe liegt die Frage, ob es überhaupt nötig wäre, die Abstimmung an zweiter
Stelle auf Kandidaten zu beschränken, die schon an erster Stelle Stimmen erhalten
haben. Es wäre ja ganz gut möglich, daß mehrere Parteien von annähernd
gleicher Stärke sämtlich zunächst versuchen wollten, ihre eignen Kandidaten durch-
zubringen, daß sie sich aber von vornherein geeinigt hätten, dann für einen Kom-
promißkandidnten zu stimmen, für einen Manu, für deu keine von ihnen schon
zuerst eintreten wollte. Für solche Fälle würde es aber schon genügen, dem Kom-
promißtandidaten nur eine einzige Stimme an erster Stelle zuzuwenden, um die
an zweiter Stelle für ihn abgegebnen Stimmen giltig zu machen. Die Ab¬
stimmung an zweiter Stelle gänzlich freizugeben würde sich dagegen nicht empfehlen,
denn wenn der Wähler um zweiter Stelle für einen Mann stimmen dürfte, der an
erster Stelle keine Stimmen erhalten hat, so würde das dem eigentlichen Zwecke
der zweiten Stimme, lediglich eine engere Auswahl uuter deu einmal vorhndnen
a
G, !v. Kandidaten zu ermöglichen, doch allzusehr ins Gesicht schlagen.


Verkehrter Bismarckkultus.

Unter dem Eindruck der letzten ReichstagS-
wahl schreibt ein "angesehener Patriot und nationalliberaler Parteiführer seiner
(badischen) Heimat" der Münchner Allgemeinen Zeitung (Ur. 181) eiuen Brief voll
Klagen über den Mangel um Begeisterung und Vertrauen in seinem Bezirk, den
die Stichwahl ans Zentrum gebracht hat. Der Brief ist ein so aufrichtiges Zeugnis
für die Schlvachmiitigleit, die in Deutschland viele Kreise erfaßt habt, und spricht
eine so hoffnungslose politische Naivität aus, daß wir ihm notwendig ein paar
Worte widmen müssen. Er sieht alles Übel in der Entlassung Bismarcks, nur in
ihr. Bismarck allein war es, der die demokratischen, kosmopolitische" Süddeutschen
zu guten Reichsdeutschen gemacht hat. "Mit Bismarck hat mau deu stärksten
Magnet weggenommen, der uns nach dem Norden hingezogen hat." Daher Mangel
an Vertrauen zur Regierung, Mißstimmung, sogar Abnahme der Popularität des
Kaisers.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

und es werden jedem Kandidaten zu den Stimmen, die er an erster Stelle er¬
halten hat, die ihm an zweiter Stelle gegebnen zugezählt. Wer hiernach die höchste
Zahl von Stimmen auf sich vereinigt, ist gewählt, auch dann, wenn er nicht die
absolute Mehrheit hat. Denn wenn sich die an zweiter Stelle abgegebnen Stimmen
anch wieder auf aussichtslose Kandidaten zersplittern, so ist doch wohl meist an¬
zunehmen, daß viele vou deu Wählern sich auch uicht entschlossen hätten, in einer
Stichwahl für einen der aussichtsreicheru Kandidaten zu stimmen, sondern daß sie
sich lieber der Abstimmung enthalten hätten, daß also die absolute Mehrheit in
der Stichwahl kleiner gewesen wäre als im ersten Wahlgänge.

Es ist klar, daß dieses Verfahren nicht immer einem der beiden Kandidaten
zum Siege verhelfen würde, die unter den heutigen Verhältnissen mit einander in
Stichwahl gekommen sein würden. Das scheint mir aber kein Fehler zu sein. Es
ist heute ganz gut möglich, daß zwei rechte Parteistreithähne, von denen außer
ihren Wählern vom ersten Wahlgang niemand etwas wissen mag, mit einander in
Stichwahl kommen, während ein Mann von gemäßigten Anschauungen, mit dem
sich fast alle Wähler des Wahlkreises zur Not befreunden könnten, außer Kampf
gesetzt ist, weil er im ersten Wahlgänge vielleicht eine Stimme weniger gehabt hat
als einer jener Fanatiker. Nach dem hier vorgeschlagneu Verfahren würde dieser
Mann wahrscheinlich gewählt werden, und gewiß wäre er eher der Vertrauensmann
des ganzen Wahlkreises und somit der richtige Abgeordnete für ihn, als einer von
den beiden andern.

Nahe liegt die Frage, ob es überhaupt nötig wäre, die Abstimmung an zweiter
Stelle auf Kandidaten zu beschränken, die schon an erster Stelle Stimmen erhalten
haben. Es wäre ja ganz gut möglich, daß mehrere Parteien von annähernd
gleicher Stärke sämtlich zunächst versuchen wollten, ihre eignen Kandidaten durch-
zubringen, daß sie sich aber von vornherein geeinigt hätten, dann für einen Kom-
promißkandidnten zu stimmen, für einen Manu, für deu keine von ihnen schon
zuerst eintreten wollte. Für solche Fälle würde es aber schon genügen, dem Kom-
promißtandidaten nur eine einzige Stimme an erster Stelle zuzuwenden, um die
an zweiter Stelle für ihn abgegebnen Stimmen giltig zu machen. Die Ab¬
stimmung an zweiter Stelle gänzlich freizugeben würde sich dagegen nicht empfehlen,
denn wenn der Wähler um zweiter Stelle für einen Mann stimmen dürfte, der an
erster Stelle keine Stimmen erhalten hat, so würde das dem eigentlichen Zwecke
der zweiten Stimme, lediglich eine engere Auswahl uuter deu einmal vorhndnen
a
G, !v. Kandidaten zu ermöglichen, doch allzusehr ins Gesicht schlagen.


Verkehrter Bismarckkultus.

Unter dem Eindruck der letzten ReichstagS-
wahl schreibt ein „angesehener Patriot und nationalliberaler Parteiführer seiner
(badischen) Heimat" der Münchner Allgemeinen Zeitung (Ur. 181) eiuen Brief voll
Klagen über den Mangel um Begeisterung und Vertrauen in seinem Bezirk, den
die Stichwahl ans Zentrum gebracht hat. Der Brief ist ein so aufrichtiges Zeugnis
für die Schlvachmiitigleit, die in Deutschland viele Kreise erfaßt habt, und spricht
eine so hoffnungslose politische Naivität aus, daß wir ihm notwendig ein paar
Worte widmen müssen. Er sieht alles Übel in der Entlassung Bismarcks, nur in
ihr. Bismarck allein war es, der die demokratischen, kosmopolitische» Süddeutschen
zu guten Reichsdeutschen gemacht hat. „Mit Bismarck hat mau deu stärksten
Magnet weggenommen, der uns nach dem Norden hingezogen hat." Daher Mangel
an Vertrauen zur Regierung, Mißstimmung, sogar Abnahme der Popularität des
Kaisers.


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[0149] Maßgebliches und Unmaßgebliches und es werden jedem Kandidaten zu den Stimmen, die er an erster Stelle er¬ halten hat, die ihm an zweiter Stelle gegebnen zugezählt. Wer hiernach die höchste Zahl von Stimmen auf sich vereinigt, ist gewählt, auch dann, wenn er nicht die absolute Mehrheit hat. Denn wenn sich die an zweiter Stelle abgegebnen Stimmen anch wieder auf aussichtslose Kandidaten zersplittern, so ist doch wohl meist an¬ zunehmen, daß viele vou deu Wählern sich auch uicht entschlossen hätten, in einer Stichwahl für einen der aussichtsreicheru Kandidaten zu stimmen, sondern daß sie sich lieber der Abstimmung enthalten hätten, daß also die absolute Mehrheit in der Stichwahl kleiner gewesen wäre als im ersten Wahlgänge. Es ist klar, daß dieses Verfahren nicht immer einem der beiden Kandidaten zum Siege verhelfen würde, die unter den heutigen Verhältnissen mit einander in Stichwahl gekommen sein würden. Das scheint mir aber kein Fehler zu sein. Es ist heute ganz gut möglich, daß zwei rechte Parteistreithähne, von denen außer ihren Wählern vom ersten Wahlgang niemand etwas wissen mag, mit einander in Stichwahl kommen, während ein Mann von gemäßigten Anschauungen, mit dem sich fast alle Wähler des Wahlkreises zur Not befreunden könnten, außer Kampf gesetzt ist, weil er im ersten Wahlgänge vielleicht eine Stimme weniger gehabt hat als einer jener Fanatiker. Nach dem hier vorgeschlagneu Verfahren würde dieser Mann wahrscheinlich gewählt werden, und gewiß wäre er eher der Vertrauensmann des ganzen Wahlkreises und somit der richtige Abgeordnete für ihn, als einer von den beiden andern. Nahe liegt die Frage, ob es überhaupt nötig wäre, die Abstimmung an zweiter Stelle auf Kandidaten zu beschränken, die schon an erster Stelle Stimmen erhalten haben. Es wäre ja ganz gut möglich, daß mehrere Parteien von annähernd gleicher Stärke sämtlich zunächst versuchen wollten, ihre eignen Kandidaten durch- zubringen, daß sie sich aber von vornherein geeinigt hätten, dann für einen Kom- promißkandidnten zu stimmen, für einen Manu, für deu keine von ihnen schon zuerst eintreten wollte. Für solche Fälle würde es aber schon genügen, dem Kom- promißtandidaten nur eine einzige Stimme an erster Stelle zuzuwenden, um die an zweiter Stelle für ihn abgegebnen Stimmen giltig zu machen. Die Ab¬ stimmung an zweiter Stelle gänzlich freizugeben würde sich dagegen nicht empfehlen, denn wenn der Wähler um zweiter Stelle für einen Mann stimmen dürfte, der an erster Stelle keine Stimmen erhalten hat, so würde das dem eigentlichen Zwecke der zweiten Stimme, lediglich eine engere Auswahl uuter deu einmal vorhndnen a G, !v. Kandidaten zu ermöglichen, doch allzusehr ins Gesicht schlagen. Verkehrter Bismarckkultus. Unter dem Eindruck der letzten ReichstagS- wahl schreibt ein „angesehener Patriot und nationalliberaler Parteiführer seiner (badischen) Heimat" der Münchner Allgemeinen Zeitung (Ur. 181) eiuen Brief voll Klagen über den Mangel um Begeisterung und Vertrauen in seinem Bezirk, den die Stichwahl ans Zentrum gebracht hat. Der Brief ist ein so aufrichtiges Zeugnis für die Schlvachmiitigleit, die in Deutschland viele Kreise erfaßt habt, und spricht eine so hoffnungslose politische Naivität aus, daß wir ihm notwendig ein paar Worte widmen müssen. Er sieht alles Übel in der Entlassung Bismarcks, nur in ihr. Bismarck allein war es, der die demokratischen, kosmopolitische» Süddeutschen zu guten Reichsdeutschen gemacht hat. „Mit Bismarck hat mau deu stärksten Magnet weggenommen, der uns nach dem Norden hingezogen hat." Daher Mangel an Vertrauen zur Regierung, Mißstimmung, sogar Abnahme der Popularität des Kaisers.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/149>, abgerufen am 23.11.2024.