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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

thun, ohne das andre zu lassen, wenn man etwas weniger pedantisch verführe.
Endlich fand ich, daß sich der Gelehrte, der die griechischen Sittenzustünde und
sittlichen Anschauungen so erschöpfend darzustellen unternähme, wie es Fried¬
länder mit denen des römischen Kaiserreichs gethan hat, um unser heutiges
Geschlecht verdient machen würde. Möchte der nachstehende Versuch, die Moral
der Athener, wie sie sich in ihrem Dram" spiegelt, in einigen lückenhaften Um¬
rissen zu zeichnen, als Anregung zu einem solchen Unternehmen dienen!

Unter Volksmoral kann man das einem hergebrachten oder obrigkeitlich
verordneten Sittenkodex entsprechende Verhalten verstehen, oder ein Verhalten,
das einer moralischen Gesinnung entspringt. Unsre Theologen sind im allge¬
meinen der Ansicht, Moral im zweiten Sinne habe erst das Christentum ge¬
bracht, während die jüdische wie die heidnische Moral nnr konventionell und
erzwungen sei. Für die Athener trifft das, soweit uns das Drama ihre Art
erkennen läßt, nicht zu: ihr Handeln, ihre Volkssitte entspringt einer ganz
eigentümlichen Sinnesart und ist deren ungezwungner natürlicher Ausdruck.
Um die Bedeutung der noch vorhandnen Dramen für die Beurteilung des
Volkscharakters richtig zu würdigen, muß man bedenken, daß es keine Buch¬
dramen waren, nicht ungelesene Werke unvcrstandner einsamer Dichter und
Denker, sondern daß sie unter der lebhaften Beteiligung und unter dem Beifall
des ganzen Volkes aufgeführt wurden und ihre Autoren zu gefeierten Männern
machten. Auch standen die drei großen Tragiker der Athener, wenn sie ihr
Volk zu allem Guten und Edeln ernährten, diesem ganz anders gegenüber als
die jüdischen Propheten dem ihrigen. Sie standen ihm eigentlich gar nicht
gegenüber, sondern mitten in ihm drin und sprachen seine innersten Empfin¬
dungen aus, während die Propheten der Juden eine Religion und eine Sitten¬
lehre verkündigten, die ihrem "am Herzen uubeschnittnen" Volke zuwider war,
sodaß sie gewöhnlich Verfolgung und manche von ihnen einen gewaltsamen
Tod erlitten. In der Rede des Stephanus, im siebenten Kapitel der Apostel¬
geschichte, wird dieses ungemütliche Verhältnis beschrieben. "Welchen der Pro¬
pheten -- ruft der feurige Diakon -- haben eure Väter nicht verfolgt!" und
beschwört so das Prophetenschicksal auf sein eignes Haupt herab. Auch den
Tragikern und Komikern Athens begegnete es Wohl, daß eines ihrer Stücke
abgelehnt wurde, weil eZ den Anschauungen des Volkes widersprach, oder daß
ihnen gar eine Geldstrafe auferlegt wurde; aber eben weil das uur ausnahms¬
weise vorkam, so folgt daraus, daß die Auschauungs- und Empfindungsweise
dieser Männer der ihres Volkes im ganzen entsprochen haben muß. Die
jüdischen Propheten verkündigten ein religiös-sittliches Ideal, das der großen
Mehrheit ihres Volkes unverständlich und zuwider war; daher erscheint ihre
Predigt uicht als Erguß der Volksseele, sondern als Offenbarung von oben.
Die griechischen Tragiker zeigten dem Volke sein eignes Ideal im Bilde; daß
das Leben dem Ideal nur sehr unvollkommen entsprach, versteht sich von selbst,


Die ätherische Volksmoral im Drama

thun, ohne das andre zu lassen, wenn man etwas weniger pedantisch verführe.
Endlich fand ich, daß sich der Gelehrte, der die griechischen Sittenzustünde und
sittlichen Anschauungen so erschöpfend darzustellen unternähme, wie es Fried¬
länder mit denen des römischen Kaiserreichs gethan hat, um unser heutiges
Geschlecht verdient machen würde. Möchte der nachstehende Versuch, die Moral
der Athener, wie sie sich in ihrem Dram« spiegelt, in einigen lückenhaften Um¬
rissen zu zeichnen, als Anregung zu einem solchen Unternehmen dienen!

Unter Volksmoral kann man das einem hergebrachten oder obrigkeitlich
verordneten Sittenkodex entsprechende Verhalten verstehen, oder ein Verhalten,
das einer moralischen Gesinnung entspringt. Unsre Theologen sind im allge¬
meinen der Ansicht, Moral im zweiten Sinne habe erst das Christentum ge¬
bracht, während die jüdische wie die heidnische Moral nnr konventionell und
erzwungen sei. Für die Athener trifft das, soweit uns das Drama ihre Art
erkennen läßt, nicht zu: ihr Handeln, ihre Volkssitte entspringt einer ganz
eigentümlichen Sinnesart und ist deren ungezwungner natürlicher Ausdruck.
Um die Bedeutung der noch vorhandnen Dramen für die Beurteilung des
Volkscharakters richtig zu würdigen, muß man bedenken, daß es keine Buch¬
dramen waren, nicht ungelesene Werke unvcrstandner einsamer Dichter und
Denker, sondern daß sie unter der lebhaften Beteiligung und unter dem Beifall
des ganzen Volkes aufgeführt wurden und ihre Autoren zu gefeierten Männern
machten. Auch standen die drei großen Tragiker der Athener, wenn sie ihr
Volk zu allem Guten und Edeln ernährten, diesem ganz anders gegenüber als
die jüdischen Propheten dem ihrigen. Sie standen ihm eigentlich gar nicht
gegenüber, sondern mitten in ihm drin und sprachen seine innersten Empfin¬
dungen aus, während die Propheten der Juden eine Religion und eine Sitten¬
lehre verkündigten, die ihrem „am Herzen uubeschnittnen" Volke zuwider war,
sodaß sie gewöhnlich Verfolgung und manche von ihnen einen gewaltsamen
Tod erlitten. In der Rede des Stephanus, im siebenten Kapitel der Apostel¬
geschichte, wird dieses ungemütliche Verhältnis beschrieben. „Welchen der Pro¬
pheten — ruft der feurige Diakon — haben eure Väter nicht verfolgt!" und
beschwört so das Prophetenschicksal auf sein eignes Haupt herab. Auch den
Tragikern und Komikern Athens begegnete es Wohl, daß eines ihrer Stücke
abgelehnt wurde, weil eZ den Anschauungen des Volkes widersprach, oder daß
ihnen gar eine Geldstrafe auferlegt wurde; aber eben weil das uur ausnahms¬
weise vorkam, so folgt daraus, daß die Auschauungs- und Empfindungsweise
dieser Männer der ihres Volkes im ganzen entsprochen haben muß. Die
jüdischen Propheten verkündigten ein religiös-sittliches Ideal, das der großen
Mehrheit ihres Volkes unverständlich und zuwider war; daher erscheint ihre
Predigt uicht als Erguß der Volksseele, sondern als Offenbarung von oben.
Die griechischen Tragiker zeigten dem Volke sein eignes Ideal im Bilde; daß
das Leben dem Ideal nur sehr unvollkommen entsprach, versteht sich von selbst,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/130>, abgerufen am 27.07.2024.