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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Auch ein Lehrplan

man auf der Mittelstufe das Ende und holt den Anfang auf der Oberstufe
nach, oder auch nicht. Man bringt dem sekundärer bei, was ein Loga¬
rithmus ist, läßt ihn ein paar Regeln aus der Erklärung ableiten und giebt
ihm dann ein dickes Buch in die Hand, worin lauter Zahlen stehen. "Siehst
du, mein Sohn -- sagt der Lehrer --, hier findest du zu jeder Zahl den Loga¬
rithmus und zu jedem Logarithmus die Zahl. Du hast zwar keine Ahnung,
wie der Verfasser dieses schönen Buches zu den Logarithmen gekommen ist,
denn wollte ich dir das auseinandersetzen, so würdest du in deinem jugend¬
lichen Unverstand das nicht begreifen. Aber ich, dein Lehrer, sage dir, das
sind die richtigen Logarithmen. Du wirst das also glauben, widrigenfalls
du so lange nachsitzen wirst, bis dein Glaube die nötige Kraft erlangt hat."
Und dem Primaner wird eines schönen Tages eröffnet: "Wir werden jetzt die
Funktion in eine unendliche Reihe entwickeln. Wundere dich nicht, mein
Sohn, wie uns diese unendliche Reihe hier hereinschneit. Es wird dir gehen
wie Saul, der ausging, seines Vaters Eselin zu suchen, und der ein Königreich
fand. Du gehst aus, eine unendliche Reihe zu entwickeln, und wirst plötzlich
die Logarithmen finden, mit denen du nun schon so lange und so willig ge¬
rechnet hast." Nicht wahr, diese Pädagogik hat Methode? Und wie herrlich
muß sich diese Methode nicht erst bewähren, wenn der Tragikomödie zweiter
Teil, der an das Ende den Anfang knüpft, gar nicht aufgeführt wird, wie es
meines Wissens auf den meisten Gymnasien geschieht.

Wenn eine Wissenschaft nach einer Methode gelehrt wird, die ihrem
Wesen schnurstracks zuwiderläuft, so kann sie in dem unentwickelten Verstände
natürlich mir Unheil anrichten. Wollen wir nun eine vernünftige Methode
für den Unterricht finden, so müssen wir auf das Wesen der Mathematik
etwas näher eingehen. Stellen wir aus demselben festen Stoff verschiedne
Körper her von gleichem Gewicht, gleicher Oberfläche und gleicher Farbe, so
unterscheiden wir an diesen Körpern, abgesehen von Geruch oder Geschmack,
noch eine Eigenschaft: ihre Form. Diese Eigenschaft allein ist für die Mathe¬
matik von Bedeutung. Aus der Betrachtung verschiedner Formen gewinnt
der menschliche Verstand den Begriff der Nanmgröße, den einzigen, den die
anschauende Mathematik stillschweigend voraussetzt. Gesetzt nun, wir Hütten
jene Körper von gleicher Schwere, Oberfläche und Farbe auch von gleicher
Form hergestellt, so bleibt uns außer der gemeinsamen Eigenschaft ihrer Form
doch noch ein andres bewußt, ihre Anzahl. So gewinnen wir aus der Be¬
trachtung gleicher Formen den Begriff der Zahlgröße, und diesen allein setzt
die rechnende Mathematik voraus. Wenn ich nun umgekehrt der Einheit einer
Zahlgröße eine bestimmte Form beilegen darf, so kann ich dnrch die Zahl¬
größe eine Raumgröße darstellen. Gebe ich der positiven Einheit z. B. die
Form eines Würfels von einem Meter Länge, so bestimmt die Zahl 27 einen
Würfel von drei Metern Länge, oder auch eine Säule von einem Quadrat-


Auch ein Lehrplan

man auf der Mittelstufe das Ende und holt den Anfang auf der Oberstufe
nach, oder auch nicht. Man bringt dem sekundärer bei, was ein Loga¬
rithmus ist, läßt ihn ein paar Regeln aus der Erklärung ableiten und giebt
ihm dann ein dickes Buch in die Hand, worin lauter Zahlen stehen. „Siehst
du, mein Sohn — sagt der Lehrer —, hier findest du zu jeder Zahl den Loga¬
rithmus und zu jedem Logarithmus die Zahl. Du hast zwar keine Ahnung,
wie der Verfasser dieses schönen Buches zu den Logarithmen gekommen ist,
denn wollte ich dir das auseinandersetzen, so würdest du in deinem jugend¬
lichen Unverstand das nicht begreifen. Aber ich, dein Lehrer, sage dir, das
sind die richtigen Logarithmen. Du wirst das also glauben, widrigenfalls
du so lange nachsitzen wirst, bis dein Glaube die nötige Kraft erlangt hat."
Und dem Primaner wird eines schönen Tages eröffnet: „Wir werden jetzt die
Funktion in eine unendliche Reihe entwickeln. Wundere dich nicht, mein
Sohn, wie uns diese unendliche Reihe hier hereinschneit. Es wird dir gehen
wie Saul, der ausging, seines Vaters Eselin zu suchen, und der ein Königreich
fand. Du gehst aus, eine unendliche Reihe zu entwickeln, und wirst plötzlich
die Logarithmen finden, mit denen du nun schon so lange und so willig ge¬
rechnet hast." Nicht wahr, diese Pädagogik hat Methode? Und wie herrlich
muß sich diese Methode nicht erst bewähren, wenn der Tragikomödie zweiter
Teil, der an das Ende den Anfang knüpft, gar nicht aufgeführt wird, wie es
meines Wissens auf den meisten Gymnasien geschieht.

Wenn eine Wissenschaft nach einer Methode gelehrt wird, die ihrem
Wesen schnurstracks zuwiderläuft, so kann sie in dem unentwickelten Verstände
natürlich mir Unheil anrichten. Wollen wir nun eine vernünftige Methode
für den Unterricht finden, so müssen wir auf das Wesen der Mathematik
etwas näher eingehen. Stellen wir aus demselben festen Stoff verschiedne
Körper her von gleichem Gewicht, gleicher Oberfläche und gleicher Farbe, so
unterscheiden wir an diesen Körpern, abgesehen von Geruch oder Geschmack,
noch eine Eigenschaft: ihre Form. Diese Eigenschaft allein ist für die Mathe¬
matik von Bedeutung. Aus der Betrachtung verschiedner Formen gewinnt
der menschliche Verstand den Begriff der Nanmgröße, den einzigen, den die
anschauende Mathematik stillschweigend voraussetzt. Gesetzt nun, wir Hütten
jene Körper von gleicher Schwere, Oberfläche und Farbe auch von gleicher
Form hergestellt, so bleibt uns außer der gemeinsamen Eigenschaft ihrer Form
doch noch ein andres bewußt, ihre Anzahl. So gewinnen wir aus der Be¬
trachtung gleicher Formen den Begriff der Zahlgröße, und diesen allein setzt
die rechnende Mathematik voraus. Wenn ich nun umgekehrt der Einheit einer
Zahlgröße eine bestimmte Form beilegen darf, so kann ich dnrch die Zahl¬
größe eine Raumgröße darstellen. Gebe ich der positiven Einheit z. B. die
Form eines Würfels von einem Meter Länge, so bestimmt die Zahl 27 einen
Würfel von drei Metern Länge, oder auch eine Säule von einem Quadrat-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/119>, abgerufen am 27.11.2024.