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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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j)roletarierdichter und Proletarierlieder

die Proletarier nicht glauben. Ihre eignen Söhne, die Plebejerkinder, werden
"schneidig-scharf drei Jahre lang erzogen,"

Es ist eben im Sinne der Prvletarieranschannng nicht wahr, daß jedem, der
lernen will und kann, die Gelegenheit zur Bildung geboten sei. Der Besuch
der Bildungsstätten und die Anschaffung der Vildnngsmittel ist kostspielig,
das Schulgeld ist hoch, für den Armen unerschwinglich. Man fragt nicht
nach den Neigungen und Anlagen der Schüler, sondern darnach, ob der Vater
die Summen, die es kostet, für den Sohn bestreikn kann. Die Besitzenden
haben die Bildung wie alles andre zu einem Monopol für den Besitz gemacht,
sie ist eine Geldfrage. Es ist auch nicht wahr, daß die Beförderung in Amt
und Stellung von dem Talent und der Würdigkeit abhänge. Die Höhe des
Gehalts eines Beamten wird bestimmt durch seiue "Vorbildung" und durch
sein "Dienstalter." Wer die vorgeschriebnen Berechtigungsscheine hat, wer
den, Nachweis von so und soviel Schul- und Universitätssemestern führen
kann, wird zu der großen Staatsprüfung zugelassen, "definitiv" oder "etat¬
mäßig" angestellt und rückt dann mit den Jahren auf; ein Unterschied zwischen
den Arbeitsbienen nud den Drohnen wird nicht genügend gemacht. "Deu
Ausschlag giebt -- und das ist klar: Schablone." Es ist der reine Hohn,
zu sagen, daß es nur dem gut gehe, der etwas Tüchtiges leistet.

Es ist auch nicht wahr, daß man dnrch Arbeiten und Sparen reich
werden könne, man kann dadurch uicht einmal vermögend werden, man kann
sich dadurch nicht zum Unternehmer, Eigentümer oder Grundbesitzer auf¬
schwingen. Die Armut ist der größte Fehler, der einem Menschen anhaften
kann; es ist eine Ansnnhme, die die Regel bestätigt, wenn es jemand, der in
der Wahl seiner Eltern und Schwiegereltern nicht vorsichtig gewesen ist, den¬
noch zu etwas bringt. Lepp ist "zur Strafe enterbe" worden, weil er "so
unpraktisch war, sich einen braven Proletar statt eines Millionärs zum Vater
zu wählen." Kurz, es ist heutzutage uicht mehr wahr, daß jeder seines
Glückes Schmied sei, das Kapital ist zu allmächtig, Geld geht vor Talent
und Kunst, vor Wissen und Weisheit, vor Fleiß und Tugend.

Auch die vielgerühmte "freie Selbstbestimmung" ist für den Besitzlosen
uicht vorhanden. Für ihn gilt der "garstige Spruch": "Weh Brot ich eß, des
Lied ich sing." Er wird gezwungen, vor dem Geldsack deu Hut zu ziehen.


j)roletarierdichter und Proletarierlieder

die Proletarier nicht glauben. Ihre eignen Söhne, die Plebejerkinder, werden
„schneidig-scharf drei Jahre lang erzogen,"

Es ist eben im Sinne der Prvletarieranschannng nicht wahr, daß jedem, der
lernen will und kann, die Gelegenheit zur Bildung geboten sei. Der Besuch
der Bildungsstätten und die Anschaffung der Vildnngsmittel ist kostspielig,
das Schulgeld ist hoch, für den Armen unerschwinglich. Man fragt nicht
nach den Neigungen und Anlagen der Schüler, sondern darnach, ob der Vater
die Summen, die es kostet, für den Sohn bestreikn kann. Die Besitzenden
haben die Bildung wie alles andre zu einem Monopol für den Besitz gemacht,
sie ist eine Geldfrage. Es ist auch nicht wahr, daß die Beförderung in Amt
und Stellung von dem Talent und der Würdigkeit abhänge. Die Höhe des
Gehalts eines Beamten wird bestimmt durch seiue „Vorbildung" und durch
sein „Dienstalter." Wer die vorgeschriebnen Berechtigungsscheine hat, wer
den, Nachweis von so und soviel Schul- und Universitätssemestern führen
kann, wird zu der großen Staatsprüfung zugelassen, „definitiv" oder „etat¬
mäßig" angestellt und rückt dann mit den Jahren auf; ein Unterschied zwischen
den Arbeitsbienen nud den Drohnen wird nicht genügend gemacht. „Deu
Ausschlag giebt — und das ist klar: Schablone." Es ist der reine Hohn,
zu sagen, daß es nur dem gut gehe, der etwas Tüchtiges leistet.

Es ist auch nicht wahr, daß man dnrch Arbeiten und Sparen reich
werden könne, man kann dadurch uicht einmal vermögend werden, man kann
sich dadurch nicht zum Unternehmer, Eigentümer oder Grundbesitzer auf¬
schwingen. Die Armut ist der größte Fehler, der einem Menschen anhaften
kann; es ist eine Ansnnhme, die die Regel bestätigt, wenn es jemand, der in
der Wahl seiner Eltern und Schwiegereltern nicht vorsichtig gewesen ist, den¬
noch zu etwas bringt. Lepp ist „zur Strafe enterbe" worden, weil er „so
unpraktisch war, sich einen braven Proletar statt eines Millionärs zum Vater
zu wählen." Kurz, es ist heutzutage uicht mehr wahr, daß jeder seines
Glückes Schmied sei, das Kapital ist zu allmächtig, Geld geht vor Talent
und Kunst, vor Wissen und Weisheit, vor Fleiß und Tugend.

Auch die vielgerühmte „freie Selbstbestimmung" ist für den Besitzlosen
uicht vorhanden. Für ihn gilt der „garstige Spruch": „Weh Brot ich eß, des
Lied ich sing." Er wird gezwungen, vor dem Geldsack deu Hut zu ziehen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/78>, abgerufen am 23.07.2024.