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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Da kommt "im Buttcustedt und belehrt uns: der Vogel fliegt so ge¬
schickt, nicht obgleich, sondern weil er so schwer wiegt. Erst das Gewicht,
also die Anziehungskraft der Erde, ist das geheimnisvolle Etwas, dus den
ganzen Flugapparat wirkungsvoll macht; der unaufhörliche Kampf, der zwischen
der Schwerkraft des Vogels und der Widerstandsfähigkeit der unter seinem
Gefieder befindlichen wechselnden Luftschichten stattfindet, ist das A und das O
des Fluges und des Schwedens. Der Vogel ist im Grnnde ein lebendiger
Fallschirm, Wie der wirkliche Fallschirm des in den letzten Jahren wieder in
Mode gekommnen Abstnrzkünstlers erst dann zur Anwendung kommt, nachdem
der Absturz begonnen hat, nachdem also belastete Luft dein Schirm die Form
gegeben hat, die die größte je mich der Bauart erreichbare Tragfähigkeit dar¬
stellt, so erhält auch das Gefieder des Vogels erst dann die nötige Form,
wenn das volle Gewicht des Tieres in den Flügeln hängt. Aber während
der Fallschirm des Meuscheu ein traurig unbeholfnes Ding ist und bleibt,
bietet das Gefieder ein technisch so hochvolllvmmnes Werkzeug, wie es eben
nur Mutter Natur hervorbringen kaun. Da ist es nun Butteustedts Verdienst,
mit großer Liebe und unendlicher Ausdauer schon vor Jahren, als noch nie¬
mand an Augeublicksbilder dachte, so scharf beobachtet zu habe", daß alle seine
Beobachtungen später von den Anschützschen AngcnblickSanfnahmen xur"z be¬
stätigt worden sind.

Der Flügel deS leblosem Vogels in unsrer Hand lehrt uns so gut wie
nichts, wenn wir nicht imstande sind, uns im Geiste das Bild herzustellen,
wie es im Leben nud im Fluge gewesen ist. Da wird es uns dann klar,
daß Flügel und Schwanz ausgebreitet und belastet so meisterhafte Trag- und
Fvrtbewegnugsmittel sind, daß der glückliche Besitzer, der Vogel, zunächst nichts
weiter zu thun hat, als das ihm verliehne elastische Material aufzuspannen.
Die Ansprüche, die unter gewöhnlichen Umständen an seine Kräfte gemacht
werden, sind höchst gering. Also nicht Krnftleistnng, sondern angeborne Ge-
schicklichkeit ist die Quintessenz des Schwebefluges! Die ganze Aufgabe ist:
balanciren!

Ähnlich wie der Papierpfeil deS Knaben in seiner schiefen Ebene vorwärts
gedrängt wird, lange noch, nachdem die ihm ursprünglich von der Hand er¬
teilte Schlenderkraft erstorben ist, so wird der Vogel dnrch die Schwerkraft
infolge der Gesamtgestalt seines Gefieders vorwärts getrieben in der Richtung
seines Kopfes. Aber damit ist es noch lange nicht genug. Nicht "ur die
Gesamtgestalt, nein die Beschaffenheit fast jeder einzelnen Feder wirkt mit zur
Vorwärtsbewegung. Die Federn sind so angebracht, das; die lange Fahne
stets nach hinten, die kurze Seite aber vor dem Kiel, also nach vorn sitzt;
die Folge ist, daß die belastete Luft die lauge Fahne in die Höhe biegt und
sie somit von selbst zu einem Motor macht. Dies zeigt sich um deutlichsten
bei den äußern Spitzen der Schwungfedern. Jede einzelne Federspitze nimmt°°


Grenzte" II 1893 !!

Da kommt »im Buttcustedt und belehrt uns: der Vogel fliegt so ge¬
schickt, nicht obgleich, sondern weil er so schwer wiegt. Erst das Gewicht,
also die Anziehungskraft der Erde, ist das geheimnisvolle Etwas, dus den
ganzen Flugapparat wirkungsvoll macht; der unaufhörliche Kampf, der zwischen
der Schwerkraft des Vogels und der Widerstandsfähigkeit der unter seinem
Gefieder befindlichen wechselnden Luftschichten stattfindet, ist das A und das O
des Fluges und des Schwedens. Der Vogel ist im Grnnde ein lebendiger
Fallschirm, Wie der wirkliche Fallschirm des in den letzten Jahren wieder in
Mode gekommnen Abstnrzkünstlers erst dann zur Anwendung kommt, nachdem
der Absturz begonnen hat, nachdem also belastete Luft dein Schirm die Form
gegeben hat, die die größte je mich der Bauart erreichbare Tragfähigkeit dar¬
stellt, so erhält auch das Gefieder des Vogels erst dann die nötige Form,
wenn das volle Gewicht des Tieres in den Flügeln hängt. Aber während
der Fallschirm des Meuscheu ein traurig unbeholfnes Ding ist und bleibt,
bietet das Gefieder ein technisch so hochvolllvmmnes Werkzeug, wie es eben
nur Mutter Natur hervorbringen kaun. Da ist es nun Butteustedts Verdienst,
mit großer Liebe und unendlicher Ausdauer schon vor Jahren, als noch nie¬
mand an Augeublicksbilder dachte, so scharf beobachtet zu habe», daß alle seine
Beobachtungen später von den Anschützschen AngcnblickSanfnahmen xur«z be¬
stätigt worden sind.

Der Flügel deS leblosem Vogels in unsrer Hand lehrt uns so gut wie
nichts, wenn wir nicht imstande sind, uns im Geiste das Bild herzustellen,
wie es im Leben nud im Fluge gewesen ist. Da wird es uns dann klar,
daß Flügel und Schwanz ausgebreitet und belastet so meisterhafte Trag- und
Fvrtbewegnugsmittel sind, daß der glückliche Besitzer, der Vogel, zunächst nichts
weiter zu thun hat, als das ihm verliehne elastische Material aufzuspannen.
Die Ansprüche, die unter gewöhnlichen Umständen an seine Kräfte gemacht
werden, sind höchst gering. Also nicht Krnftleistnng, sondern angeborne Ge-
schicklichkeit ist die Quintessenz des Schwebefluges! Die ganze Aufgabe ist:
balanciren!

Ähnlich wie der Papierpfeil deS Knaben in seiner schiefen Ebene vorwärts
gedrängt wird, lange noch, nachdem die ihm ursprünglich von der Hand er¬
teilte Schlenderkraft erstorben ist, so wird der Vogel dnrch die Schwerkraft
infolge der Gesamtgestalt seines Gefieders vorwärts getrieben in der Richtung
seines Kopfes. Aber damit ist es noch lange nicht genug. Nicht »ur die
Gesamtgestalt, nein die Beschaffenheit fast jeder einzelnen Feder wirkt mit zur
Vorwärtsbewegung. Die Federn sind so angebracht, das; die lange Fahne
stets nach hinten, die kurze Seite aber vor dem Kiel, also nach vorn sitzt;
die Folge ist, daß die belastete Luft die lauge Fahne in die Höhe biegt und
sie somit von selbst zu einem Motor macht. Dies zeigt sich um deutlichsten
bei den äußern Spitzen der Schwungfedern. Jede einzelne Federspitze nimmt°°


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[0075] Da kommt »im Buttcustedt und belehrt uns: der Vogel fliegt so ge¬ schickt, nicht obgleich, sondern weil er so schwer wiegt. Erst das Gewicht, also die Anziehungskraft der Erde, ist das geheimnisvolle Etwas, dus den ganzen Flugapparat wirkungsvoll macht; der unaufhörliche Kampf, der zwischen der Schwerkraft des Vogels und der Widerstandsfähigkeit der unter seinem Gefieder befindlichen wechselnden Luftschichten stattfindet, ist das A und das O des Fluges und des Schwedens. Der Vogel ist im Grnnde ein lebendiger Fallschirm, Wie der wirkliche Fallschirm des in den letzten Jahren wieder in Mode gekommnen Abstnrzkünstlers erst dann zur Anwendung kommt, nachdem der Absturz begonnen hat, nachdem also belastete Luft dein Schirm die Form gegeben hat, die die größte je mich der Bauart erreichbare Tragfähigkeit dar¬ stellt, so erhält auch das Gefieder des Vogels erst dann die nötige Form, wenn das volle Gewicht des Tieres in den Flügeln hängt. Aber während der Fallschirm des Meuscheu ein traurig unbeholfnes Ding ist und bleibt, bietet das Gefieder ein technisch so hochvolllvmmnes Werkzeug, wie es eben nur Mutter Natur hervorbringen kaun. Da ist es nun Butteustedts Verdienst, mit großer Liebe und unendlicher Ausdauer schon vor Jahren, als noch nie¬ mand an Augeublicksbilder dachte, so scharf beobachtet zu habe», daß alle seine Beobachtungen später von den Anschützschen AngcnblickSanfnahmen xur«z be¬ stätigt worden sind. Der Flügel deS leblosem Vogels in unsrer Hand lehrt uns so gut wie nichts, wenn wir nicht imstande sind, uns im Geiste das Bild herzustellen, wie es im Leben nud im Fluge gewesen ist. Da wird es uns dann klar, daß Flügel und Schwanz ausgebreitet und belastet so meisterhafte Trag- und Fvrtbewegnugsmittel sind, daß der glückliche Besitzer, der Vogel, zunächst nichts weiter zu thun hat, als das ihm verliehne elastische Material aufzuspannen. Die Ansprüche, die unter gewöhnlichen Umständen an seine Kräfte gemacht werden, sind höchst gering. Also nicht Krnftleistnng, sondern angeborne Ge- schicklichkeit ist die Quintessenz des Schwebefluges! Die ganze Aufgabe ist: balanciren! Ähnlich wie der Papierpfeil deS Knaben in seiner schiefen Ebene vorwärts gedrängt wird, lange noch, nachdem die ihm ursprünglich von der Hand er¬ teilte Schlenderkraft erstorben ist, so wird der Vogel dnrch die Schwerkraft infolge der Gesamtgestalt seines Gefieders vorwärts getrieben in der Richtung seines Kopfes. Aber damit ist es noch lange nicht genug. Nicht »ur die Gesamtgestalt, nein die Beschaffenheit fast jeder einzelnen Feder wirkt mit zur Vorwärtsbewegung. Die Federn sind so angebracht, das; die lange Fahne stets nach hinten, die kurze Seite aber vor dem Kiel, also nach vorn sitzt; die Folge ist, daß die belastete Luft die lauge Fahne in die Höhe biegt und sie somit von selbst zu einem Motor macht. Dies zeigt sich um deutlichsten bei den äußern Spitzen der Schwungfedern. Jede einzelne Federspitze nimmt°° Grenzte» II 1893 !!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/75>, abgerufen am 03.07.2024.