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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Anstandsgefühl vom angelernten dadurch unterscheidet, daß es jedermann in
höflichen Formen entgegenkommt, so unterscheidet sich das echte Sprachgefühl
von der Schönrednerei dadurch, daß es sich jederzeit so klarer und gefälliger
Ausdrücke bedient, als ihm möglich ist. Der unberechenbare Schaden, den
jener verlvdderte Stil anrichtet, kommt aber daher, daß die Herren in ihren
Kollegien genau so nachlässig sprechen wie sie schreiben, wenn sie nicht gerade
für die Unsterblichkeit zu schreiben glauben. Denn im Kolleg sitzen vor ihnen
einige hundert Vertreter des heranwachsenden Geschlechts, die für der Weis¬
heit letzten Schluß halten und für deutsche Redeweise, was von den Lippen
des verehrten Lehrers fließt. Wenn die nur zuhörten, wäre die Gefahr noch
nicht so groß. Aber sie sitzen da mit krummem Rücken and schreiben, "als
diktirt' ihnen der heilig Geist." Denn unsre Studenten, die sich so gern als
die Trüger einer frischen, lebensfroher Zukunft fühlen, sind in ihrem wissen¬
schaftlichen Streben genau solche Waisenknaben, wie der Schüler, dem der
brave Mephisto die Wege weist, die zu den Quellen führen. Und nebst der
Pseudolitteraturgeschichte, die sie schwarz auf weiß nach Hause tragen, bringen
sie auch den gichtbrüchigen Stil mit heim und gewöhnen sich, ihre eignen
Gedanken in dieselbe gallertartige Form zu kleiden. Wie die Professoren zu
ihrem verwahrlosten Vortrag gekommen sind, ist leicht erklärlich: sie haben kein
unabhängiges Publikum. Ihren Studenten können sie bieten, was sie wollen,
denn einst wird kommen der Tag des Examens, wo diese wiederkäuen müssen,
was sie ihnen vorgekaut haben. Aber eine Entschuldigung für die Professoren
ist das nicht. Arthur Schopenhauer hatte gar kein Publikum, als er schrieb.
Auch er griff wie Scherer in die Litteratur aller Zeiten und Völker, aber der
geistesstolze Schopenhauer drückte nicht die ungewaschne Hand jedes littera¬
rischen Landstreichers. Nur mit den Besten Pflegte er Verkehr, und darum ist
das dritte Buch der Welt als Wille und Vorstellung nebst seinen Ergänzungen
eine Fundgrube fruchtbarer Gedanken, wenn es auch als Ganzes verfehlt sein
mag. Und gekleidet sind diese Gedanken in ein krystallklnres, sprachgewaltiges
Deutsch. Schopenhauer verschmähte es nicht, aus der Weisheit uralter Bücher
zu schöpfen, aber er blieb auch in Berührung mit dem geistigen Leben seiner
Zeit. Er wußte, was er wollte, und er würde es sich schwerlich vergeben
haben, hätte er einen Gedanken geschwätzig in dreifacher Form niedergeschrieben,
wie es Scherer achtlos thut: "wurden wir schon vielfach auf die Aufgaben,
welche die Poesie zu erfüllen sucht, auf die Funktionen, die Ämter, welche die
Poesie übernimmt, geführt." Aber auch Leute, die ganz dasselbe Publikum
haben, wie jene ersten Vertreter der Litteraturgeschichte, deutsche Professoren,
verfügen über einen klaren deutschen Vortrag. Ein notwendiges Übel also ist
die Nachlässigkeit nicht. Der genialste der lebenden Chemiker, Professor August
Kekulv in Bonn, hält es ganz und gar für unter seiner Würde, den Studenten
die Wissenschaft in Brocken vorzuwerfen, wie das Futter, das man dem Vieh


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Anstandsgefühl vom angelernten dadurch unterscheidet, daß es jedermann in
höflichen Formen entgegenkommt, so unterscheidet sich das echte Sprachgefühl
von der Schönrednerei dadurch, daß es sich jederzeit so klarer und gefälliger
Ausdrücke bedient, als ihm möglich ist. Der unberechenbare Schaden, den
jener verlvdderte Stil anrichtet, kommt aber daher, daß die Herren in ihren
Kollegien genau so nachlässig sprechen wie sie schreiben, wenn sie nicht gerade
für die Unsterblichkeit zu schreiben glauben. Denn im Kolleg sitzen vor ihnen
einige hundert Vertreter des heranwachsenden Geschlechts, die für der Weis¬
heit letzten Schluß halten und für deutsche Redeweise, was von den Lippen
des verehrten Lehrers fließt. Wenn die nur zuhörten, wäre die Gefahr noch
nicht so groß. Aber sie sitzen da mit krummem Rücken and schreiben, „als
diktirt' ihnen der heilig Geist." Denn unsre Studenten, die sich so gern als
die Trüger einer frischen, lebensfroher Zukunft fühlen, sind in ihrem wissen¬
schaftlichen Streben genau solche Waisenknaben, wie der Schüler, dem der
brave Mephisto die Wege weist, die zu den Quellen führen. Und nebst der
Pseudolitteraturgeschichte, die sie schwarz auf weiß nach Hause tragen, bringen
sie auch den gichtbrüchigen Stil mit heim und gewöhnen sich, ihre eignen
Gedanken in dieselbe gallertartige Form zu kleiden. Wie die Professoren zu
ihrem verwahrlosten Vortrag gekommen sind, ist leicht erklärlich: sie haben kein
unabhängiges Publikum. Ihren Studenten können sie bieten, was sie wollen,
denn einst wird kommen der Tag des Examens, wo diese wiederkäuen müssen,
was sie ihnen vorgekaut haben. Aber eine Entschuldigung für die Professoren
ist das nicht. Arthur Schopenhauer hatte gar kein Publikum, als er schrieb.
Auch er griff wie Scherer in die Litteratur aller Zeiten und Völker, aber der
geistesstolze Schopenhauer drückte nicht die ungewaschne Hand jedes littera¬
rischen Landstreichers. Nur mit den Besten Pflegte er Verkehr, und darum ist
das dritte Buch der Welt als Wille und Vorstellung nebst seinen Ergänzungen
eine Fundgrube fruchtbarer Gedanken, wenn es auch als Ganzes verfehlt sein
mag. Und gekleidet sind diese Gedanken in ein krystallklnres, sprachgewaltiges
Deutsch. Schopenhauer verschmähte es nicht, aus der Weisheit uralter Bücher
zu schöpfen, aber er blieb auch in Berührung mit dem geistigen Leben seiner
Zeit. Er wußte, was er wollte, und er würde es sich schwerlich vergeben
haben, hätte er einen Gedanken geschwätzig in dreifacher Form niedergeschrieben,
wie es Scherer achtlos thut: „wurden wir schon vielfach auf die Aufgaben,
welche die Poesie zu erfüllen sucht, auf die Funktionen, die Ämter, welche die
Poesie übernimmt, geführt." Aber auch Leute, die ganz dasselbe Publikum
haben, wie jene ersten Vertreter der Litteraturgeschichte, deutsche Professoren,
verfügen über einen klaren deutschen Vortrag. Ein notwendiges Übel also ist
die Nachlässigkeit nicht. Der genialste der lebenden Chemiker, Professor August
Kekulv in Bonn, hält es ganz und gar für unter seiner Würde, den Studenten
die Wissenschaft in Brocken vorzuwerfen, wie das Futter, das man dem Vieh


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[0612] Laokoon, Kapitel !s<-i Anstandsgefühl vom angelernten dadurch unterscheidet, daß es jedermann in höflichen Formen entgegenkommt, so unterscheidet sich das echte Sprachgefühl von der Schönrednerei dadurch, daß es sich jederzeit so klarer und gefälliger Ausdrücke bedient, als ihm möglich ist. Der unberechenbare Schaden, den jener verlvdderte Stil anrichtet, kommt aber daher, daß die Herren in ihren Kollegien genau so nachlässig sprechen wie sie schreiben, wenn sie nicht gerade für die Unsterblichkeit zu schreiben glauben. Denn im Kolleg sitzen vor ihnen einige hundert Vertreter des heranwachsenden Geschlechts, die für der Weis¬ heit letzten Schluß halten und für deutsche Redeweise, was von den Lippen des verehrten Lehrers fließt. Wenn die nur zuhörten, wäre die Gefahr noch nicht so groß. Aber sie sitzen da mit krummem Rücken and schreiben, „als diktirt' ihnen der heilig Geist." Denn unsre Studenten, die sich so gern als die Trüger einer frischen, lebensfroher Zukunft fühlen, sind in ihrem wissen¬ schaftlichen Streben genau solche Waisenknaben, wie der Schüler, dem der brave Mephisto die Wege weist, die zu den Quellen führen. Und nebst der Pseudolitteraturgeschichte, die sie schwarz auf weiß nach Hause tragen, bringen sie auch den gichtbrüchigen Stil mit heim und gewöhnen sich, ihre eignen Gedanken in dieselbe gallertartige Form zu kleiden. Wie die Professoren zu ihrem verwahrlosten Vortrag gekommen sind, ist leicht erklärlich: sie haben kein unabhängiges Publikum. Ihren Studenten können sie bieten, was sie wollen, denn einst wird kommen der Tag des Examens, wo diese wiederkäuen müssen, was sie ihnen vorgekaut haben. Aber eine Entschuldigung für die Professoren ist das nicht. Arthur Schopenhauer hatte gar kein Publikum, als er schrieb. Auch er griff wie Scherer in die Litteratur aller Zeiten und Völker, aber der geistesstolze Schopenhauer drückte nicht die ungewaschne Hand jedes littera¬ rischen Landstreichers. Nur mit den Besten Pflegte er Verkehr, und darum ist das dritte Buch der Welt als Wille und Vorstellung nebst seinen Ergänzungen eine Fundgrube fruchtbarer Gedanken, wenn es auch als Ganzes verfehlt sein mag. Und gekleidet sind diese Gedanken in ein krystallklnres, sprachgewaltiges Deutsch. Schopenhauer verschmähte es nicht, aus der Weisheit uralter Bücher zu schöpfen, aber er blieb auch in Berührung mit dem geistigen Leben seiner Zeit. Er wußte, was er wollte, und er würde es sich schwerlich vergeben haben, hätte er einen Gedanken geschwätzig in dreifacher Form niedergeschrieben, wie es Scherer achtlos thut: „wurden wir schon vielfach auf die Aufgaben, welche die Poesie zu erfüllen sucht, auf die Funktionen, die Ämter, welche die Poesie übernimmt, geführt." Aber auch Leute, die ganz dasselbe Publikum haben, wie jene ersten Vertreter der Litteraturgeschichte, deutsche Professoren, verfügen über einen klaren deutschen Vortrag. Ein notwendiges Übel also ist die Nachlässigkeit nicht. Der genialste der lebenden Chemiker, Professor August Kekulv in Bonn, hält es ganz und gar für unter seiner Würde, den Studenten die Wissenschaft in Brocken vorzuwerfen, wie das Futter, das man dem Vieh

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/612>, abgerufen am 23.07.2024.