Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Stellung der Chronologie hinaus. Und das sind nur Hilfswissenschaften, sehr
nützliche zwar, aber doch nnr nützlich für den Gelehrten und von höchst ge¬
ringem Werte für den Lehrer und Schriftsteller, also für das praktische Leben,
lind man sollte doch meinen, die Professuren für deutsche Sprache und Litte¬
ratur seien nicht lediglich zu dem Zweck eingerichtet, Privatdozenten auszu¬
bilden. Denn wozu Privatdozenten gut sind, weiß ich nicht; Lehrer und
Schriftsteller aber sind dazu da, das Volk zu bilden. Wenn sie von diesem
ihrem ideale" Berufe heute so weit entfernt sind, das; die wenigsten überhaupt
noch eine Ahnung davon haben, so liegt die Schuld zum größten Teile darau,
daß sie für alles andre eher vorbereitet werden, als für ihren Beruf. Weil
der Schulverwaltung diese Erkenntnis anfgedrüngt wurde -- nicht etwa sich
aufdrängte --, erfand sie das geniale Hilfsmittel der pädagogischen Seminare,
getreu ihrem Grundsatz, daß jedes Element der Bildung dem Zögling sorg¬
fältig gereinigt und in luftdichter Verpackung übergeben werden müsse, damit
doch um Gottes mulier kein einheitlich durchgebildeter Mensch herauskomme.
Und weil sich herausstellte, daß die akademische Bildung dem Schriftsteller fast
gar nichts angiebt, was er für seinen Beruf gebrauchen kann, so drängte sich
in diesen Beruf alles Gesindel hinein, das für einen andern zu dumm oder
zu faul war.

Damit man mir nicht vorwerfe, ich redete ins Blaue hinein, muß ich
Thatsache" anführen und Namen nenne". Ich betone ausdrücklich, nur aus
diesem Grnnde "e""e ich Namen, nicht etwa um den Trägern der Namen eine
Schuld aufzubürden, die in den Zeitverhältnissen liegt. Der Geist, der die
wissenschaftliche Behandlung der deutschen Litteratur beherrscht, ist der Geist
Wilhelm Scherers. Scherer war sehr befähigt zur philologischen Hilfsnrbeit
für die Litteraturgeschichte, aber er beging den Fehler, diese Hilfsarbeit für
die eigentliche Aufgabe der litterarischen Forschung zu erklären. Die Ver¬
suchung lag für ihn sehr nahe, da er aus Landmanns Schule kam, und da
diese Hilfsarbeit eine ganz andre Bedeutung hat für die ältern Dichtwerke,
deren Überlieferung mangelhaft ist. Aber schon Lachmnun hatte der Philo¬
logie zu viel vertraut, und Scherers Fehler hatte die verderblichste" Folge",
weil Scherer auf dem erste" Lehrstuhl des neue" Reiches saß. So wurde
der Ort, der eine Pflegstätte des gute" Geschmacks hätte sei" solle", die Brut¬
stätte der wüsteste" Gleichmacherei in der Litteratur. Wen" je ein Mann zur
rechten Zeit sür seine" Ruhm gestorben ist, so war es Scherer. Denn seine
"Poetik" Hütte sein Ruhm nicht la"ge überlebt. Er behauptet darin: "Die
Poetik ist vorzugsweise die Lehre von der gebundenen Rede; außerdem aber
von einigen Anwendungen der ungebundenen, die mit den Anwendungen der
gebundene" in näher Verwandtschaft stehen." Als ich diese Erklärung zum
erstenmal las, traute ich meinen Augen nicht; das hätte ein Ghmnasialpriinaner
eben so gut sagen können. Also Scherer ist bereit, kritiklos alles sür Poesie


Stellung der Chronologie hinaus. Und das sind nur Hilfswissenschaften, sehr
nützliche zwar, aber doch nnr nützlich für den Gelehrten und von höchst ge¬
ringem Werte für den Lehrer und Schriftsteller, also für das praktische Leben,
lind man sollte doch meinen, die Professuren für deutsche Sprache und Litte¬
ratur seien nicht lediglich zu dem Zweck eingerichtet, Privatdozenten auszu¬
bilden. Denn wozu Privatdozenten gut sind, weiß ich nicht; Lehrer und
Schriftsteller aber sind dazu da, das Volk zu bilden. Wenn sie von diesem
ihrem ideale» Berufe heute so weit entfernt sind, das; die wenigsten überhaupt
noch eine Ahnung davon haben, so liegt die Schuld zum größten Teile darau,
daß sie für alles andre eher vorbereitet werden, als für ihren Beruf. Weil
der Schulverwaltung diese Erkenntnis anfgedrüngt wurde — nicht etwa sich
aufdrängte —, erfand sie das geniale Hilfsmittel der pädagogischen Seminare,
getreu ihrem Grundsatz, daß jedes Element der Bildung dem Zögling sorg¬
fältig gereinigt und in luftdichter Verpackung übergeben werden müsse, damit
doch um Gottes mulier kein einheitlich durchgebildeter Mensch herauskomme.
Und weil sich herausstellte, daß die akademische Bildung dem Schriftsteller fast
gar nichts angiebt, was er für seinen Beruf gebrauchen kann, so drängte sich
in diesen Beruf alles Gesindel hinein, das für einen andern zu dumm oder
zu faul war.

Damit man mir nicht vorwerfe, ich redete ins Blaue hinein, muß ich
Thatsache« anführen und Namen nenne». Ich betone ausdrücklich, nur aus
diesem Grnnde »e»»e ich Namen, nicht etwa um den Trägern der Namen eine
Schuld aufzubürden, die in den Zeitverhältnissen liegt. Der Geist, der die
wissenschaftliche Behandlung der deutschen Litteratur beherrscht, ist der Geist
Wilhelm Scherers. Scherer war sehr befähigt zur philologischen Hilfsnrbeit
für die Litteraturgeschichte, aber er beging den Fehler, diese Hilfsarbeit für
die eigentliche Aufgabe der litterarischen Forschung zu erklären. Die Ver¬
suchung lag für ihn sehr nahe, da er aus Landmanns Schule kam, und da
diese Hilfsarbeit eine ganz andre Bedeutung hat für die ältern Dichtwerke,
deren Überlieferung mangelhaft ist. Aber schon Lachmnun hatte der Philo¬
logie zu viel vertraut, und Scherers Fehler hatte die verderblichste» Folge»,
weil Scherer auf dem erste» Lehrstuhl des neue» Reiches saß. So wurde
der Ort, der eine Pflegstätte des gute» Geschmacks hätte sei» solle», die Brut¬
stätte der wüsteste« Gleichmacherei in der Litteratur. Wen» je ein Mann zur
rechten Zeit sür seine» Ruhm gestorben ist, so war es Scherer. Denn seine
„Poetik" Hütte sein Ruhm nicht la»ge überlebt. Er behauptet darin: „Die
Poetik ist vorzugsweise die Lehre von der gebundenen Rede; außerdem aber
von einigen Anwendungen der ungebundenen, die mit den Anwendungen der
gebundene» in näher Verwandtschaft stehen." Als ich diese Erklärung zum
erstenmal las, traute ich meinen Augen nicht; das hätte ein Ghmnasialpriinaner
eben so gut sagen können. Also Scherer ist bereit, kritiklos alles sür Poesie


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0607" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215062"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2321" prev="#ID_2320"> Stellung der Chronologie hinaus. Und das sind nur Hilfswissenschaften, sehr<lb/>
nützliche zwar, aber doch nnr nützlich für den Gelehrten und von höchst ge¬<lb/>
ringem Werte für den Lehrer und Schriftsteller, also für das praktische Leben,<lb/>
lind man sollte doch meinen, die Professuren für deutsche Sprache und Litte¬<lb/>
ratur seien nicht lediglich zu dem Zweck eingerichtet, Privatdozenten auszu¬<lb/>
bilden. Denn wozu Privatdozenten gut sind, weiß ich nicht; Lehrer und<lb/>
Schriftsteller aber sind dazu da, das Volk zu bilden. Wenn sie von diesem<lb/>
ihrem ideale» Berufe heute so weit entfernt sind, das; die wenigsten überhaupt<lb/>
noch eine Ahnung davon haben, so liegt die Schuld zum größten Teile darau,<lb/>
daß sie für alles andre eher vorbereitet werden, als für ihren Beruf. Weil<lb/>
der Schulverwaltung diese Erkenntnis anfgedrüngt wurde &#x2014; nicht etwa sich<lb/>
aufdrängte &#x2014;, erfand sie das geniale Hilfsmittel der pädagogischen Seminare,<lb/>
getreu ihrem Grundsatz, daß jedes Element der Bildung dem Zögling sorg¬<lb/>
fältig gereinigt und in luftdichter Verpackung übergeben werden müsse, damit<lb/>
doch um Gottes mulier kein einheitlich durchgebildeter Mensch herauskomme.<lb/>
Und weil sich herausstellte, daß die akademische Bildung dem Schriftsteller fast<lb/>
gar nichts angiebt, was er für seinen Beruf gebrauchen kann, so drängte sich<lb/>
in diesen Beruf alles Gesindel hinein, das für einen andern zu dumm oder<lb/>
zu faul war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2322" next="#ID_2323"> Damit man mir nicht vorwerfe, ich redete ins Blaue hinein, muß ich<lb/>
Thatsache« anführen und Namen nenne». Ich betone ausdrücklich, nur aus<lb/>
diesem Grnnde »e»»e ich Namen, nicht etwa um den Trägern der Namen eine<lb/>
Schuld aufzubürden, die in den Zeitverhältnissen liegt. Der Geist, der die<lb/>
wissenschaftliche Behandlung der deutschen Litteratur beherrscht, ist der Geist<lb/>
Wilhelm Scherers. Scherer war sehr befähigt zur philologischen Hilfsnrbeit<lb/>
für die Litteraturgeschichte, aber er beging den Fehler, diese Hilfsarbeit für<lb/>
die eigentliche Aufgabe der litterarischen Forschung zu erklären. Die Ver¬<lb/>
suchung lag für ihn sehr nahe, da er aus Landmanns Schule kam, und da<lb/>
diese Hilfsarbeit eine ganz andre Bedeutung hat für die ältern Dichtwerke,<lb/>
deren Überlieferung mangelhaft ist. Aber schon Lachmnun hatte der Philo¬<lb/>
logie zu viel vertraut, und Scherers Fehler hatte die verderblichste» Folge»,<lb/>
weil Scherer auf dem erste» Lehrstuhl des neue» Reiches saß. So wurde<lb/>
der Ort, der eine Pflegstätte des gute» Geschmacks hätte sei» solle», die Brut¬<lb/>
stätte der wüsteste« Gleichmacherei in der Litteratur. Wen» je ein Mann zur<lb/>
rechten Zeit sür seine» Ruhm gestorben ist, so war es Scherer. Denn seine<lb/>
&#x201E;Poetik" Hütte sein Ruhm nicht la»ge überlebt. Er behauptet darin: &#x201E;Die<lb/>
Poetik ist vorzugsweise die Lehre von der gebundenen Rede; außerdem aber<lb/>
von einigen Anwendungen der ungebundenen, die mit den Anwendungen der<lb/>
gebundene» in näher Verwandtschaft stehen." Als ich diese Erklärung zum<lb/>
erstenmal las, traute ich meinen Augen nicht; das hätte ein Ghmnasialpriinaner<lb/>
eben so gut sagen können.  Also Scherer ist bereit, kritiklos alles sür Poesie</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0607] Stellung der Chronologie hinaus. Und das sind nur Hilfswissenschaften, sehr nützliche zwar, aber doch nnr nützlich für den Gelehrten und von höchst ge¬ ringem Werte für den Lehrer und Schriftsteller, also für das praktische Leben, lind man sollte doch meinen, die Professuren für deutsche Sprache und Litte¬ ratur seien nicht lediglich zu dem Zweck eingerichtet, Privatdozenten auszu¬ bilden. Denn wozu Privatdozenten gut sind, weiß ich nicht; Lehrer und Schriftsteller aber sind dazu da, das Volk zu bilden. Wenn sie von diesem ihrem ideale» Berufe heute so weit entfernt sind, das; die wenigsten überhaupt noch eine Ahnung davon haben, so liegt die Schuld zum größten Teile darau, daß sie für alles andre eher vorbereitet werden, als für ihren Beruf. Weil der Schulverwaltung diese Erkenntnis anfgedrüngt wurde — nicht etwa sich aufdrängte —, erfand sie das geniale Hilfsmittel der pädagogischen Seminare, getreu ihrem Grundsatz, daß jedes Element der Bildung dem Zögling sorg¬ fältig gereinigt und in luftdichter Verpackung übergeben werden müsse, damit doch um Gottes mulier kein einheitlich durchgebildeter Mensch herauskomme. Und weil sich herausstellte, daß die akademische Bildung dem Schriftsteller fast gar nichts angiebt, was er für seinen Beruf gebrauchen kann, so drängte sich in diesen Beruf alles Gesindel hinein, das für einen andern zu dumm oder zu faul war. Damit man mir nicht vorwerfe, ich redete ins Blaue hinein, muß ich Thatsache« anführen und Namen nenne». Ich betone ausdrücklich, nur aus diesem Grnnde »e»»e ich Namen, nicht etwa um den Trägern der Namen eine Schuld aufzubürden, die in den Zeitverhältnissen liegt. Der Geist, der die wissenschaftliche Behandlung der deutschen Litteratur beherrscht, ist der Geist Wilhelm Scherers. Scherer war sehr befähigt zur philologischen Hilfsnrbeit für die Litteraturgeschichte, aber er beging den Fehler, diese Hilfsarbeit für die eigentliche Aufgabe der litterarischen Forschung zu erklären. Die Ver¬ suchung lag für ihn sehr nahe, da er aus Landmanns Schule kam, und da diese Hilfsarbeit eine ganz andre Bedeutung hat für die ältern Dichtwerke, deren Überlieferung mangelhaft ist. Aber schon Lachmnun hatte der Philo¬ logie zu viel vertraut, und Scherers Fehler hatte die verderblichste» Folge», weil Scherer auf dem erste» Lehrstuhl des neue» Reiches saß. So wurde der Ort, der eine Pflegstätte des gute» Geschmacks hätte sei» solle», die Brut¬ stätte der wüsteste« Gleichmacherei in der Litteratur. Wen» je ein Mann zur rechten Zeit sür seine» Ruhm gestorben ist, so war es Scherer. Denn seine „Poetik" Hütte sein Ruhm nicht la»ge überlebt. Er behauptet darin: „Die Poetik ist vorzugsweise die Lehre von der gebundenen Rede; außerdem aber von einigen Anwendungen der ungebundenen, die mit den Anwendungen der gebundene» in näher Verwandtschaft stehen." Als ich diese Erklärung zum erstenmal las, traute ich meinen Augen nicht; das hätte ein Ghmnasialpriinaner eben so gut sagen können. Also Scherer ist bereit, kritiklos alles sür Poesie

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/607
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/607>, abgerufen am 23.07.2024.