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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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wo stehn die wollen?

wäre doch durch Deutschlands Sturz der Wall zwischen Westeuropa und Ru߬
land vernichtet. Hat man eine Sicherheit, daß nicht Deutschland im schlimmsten
Falle den Dreibund verraten und Rußland auffordern wird, Konstantinopel zu
besetzen? Dem alten Kanzler traute der Vroschürenschreiber solche "düstere
Schliche" zu, nicht aber dem Kaiser und Kanzler von heute. Die Gefahr ist
verschoben, besonders durch die augenblicklichen Mißstände in Nußland. Aber
warum bleibt die Beunruhigung zurück? Die Quelle alles Übels ist Elsaß-
Lothringen. Wilhelm II., der die deutsche Politik seit seiner Thronbesteigung
in ausgezeichneter Weise umgewandelt hat, hat nicht alles geändert, was er
hätte ändern sollen. Die Frage des Reichslnndes ist nicht geregelt. Und
doch ist es sicherlich unrichtig, daß Frankreich nicht seine Revanchegelüste ge¬
dämpft hätte, wenn man ihm Elsaß-Lothringen zurückgegeben Hütte. Nicht
nur von großem Selbstbewußtsein, sondern auch von dem Hange nach Er¬
oberungen sind die Franzosen beseelt. "Sie wollen ihr Gebiet ausdehnen, um
stärker zu werden, das liegt ihnen mehr am Herzen als der Kriegsruhm, den
sie im Übermaß genossen haben." Der Gedanke an den Revanchekrieg wird
also weniger durch die erlittenen Niederlagen als durch den Verlust Elsaß-
Lothringens und die seitherige Politik Deutschlands genährt. Hat doch selbst die
öffentliche Meinung Europas gegen Deutschland Partei ergriffen, das es im neun¬
zehnten Jahrhundert wagt, hier wie in Schleswig Bevölkerungen gegen ihren
Willen sich einzuverleiben. "Auf der von uns erreichten Kulturstufe sehen
wir in der Annexion eine Unterdrückung, und zwar die schlimmste aller Unter¬
drückungen, die zum Himmel schreit und einst auf den Unterdrücker zurückfallen
kann." Elsaß-Lothringen ist eine Quelle der Schwäche für Deutschland ge¬
worden. Wenn Deutschland in Europa ein Reich des Rechtes und der
Gerechtigkeit begründen und den Krieg abschaffen will, giebt es kein besseres
Mittel als den freiwilligen Verzicht auf seiue Eroberungen, als die feierliche
Anerkennung der neuen Prinzipien durch einen Kongreß, auf dem alle Völker
vertreten wären.

Dies der Gedankengang der etwas langen und weitschweifigen Darlegungen
des schweizerischen Broschürenschreibers. Deutschland soll eine neue Epoche
der Geschichte beginnen, indem es sich erniedrigt, um Frankreich zu erheben.
Jeder klar denkende Deutsche kann daraus wieder keinen andern Schluß ziehen,
als daß unsre Sicherheit nur in der Stärke liegt. Dieser politische Dilettant,
der alle der deutschen Politik ungünstigen Gerüchte und Klatschbasereien zu¬
sammenträgt, um Deutschland als die Unruhe und Mißtrauen verbreitende
Macht des letzten Vierteljahrhunderts darzustellen, während er Frankreich nur
mit leichtem, liebevollem Tadel bedenkt, der sich die Miene giebt, als glaubte
er, daß in ganz Deutschland nur der junge Kaiser und Caprivi Friedens¬
gedanken hegten, der Frankreich alles Gute und Deutschland alles Uhle zu¬
traut, enthüllt uns, ohne es zu wollen, eine Auffassung und Richtung, deren


wo stehn die wollen?

wäre doch durch Deutschlands Sturz der Wall zwischen Westeuropa und Ru߬
land vernichtet. Hat man eine Sicherheit, daß nicht Deutschland im schlimmsten
Falle den Dreibund verraten und Rußland auffordern wird, Konstantinopel zu
besetzen? Dem alten Kanzler traute der Vroschürenschreiber solche „düstere
Schliche" zu, nicht aber dem Kaiser und Kanzler von heute. Die Gefahr ist
verschoben, besonders durch die augenblicklichen Mißstände in Nußland. Aber
warum bleibt die Beunruhigung zurück? Die Quelle alles Übels ist Elsaß-
Lothringen. Wilhelm II., der die deutsche Politik seit seiner Thronbesteigung
in ausgezeichneter Weise umgewandelt hat, hat nicht alles geändert, was er
hätte ändern sollen. Die Frage des Reichslnndes ist nicht geregelt. Und
doch ist es sicherlich unrichtig, daß Frankreich nicht seine Revanchegelüste ge¬
dämpft hätte, wenn man ihm Elsaß-Lothringen zurückgegeben Hütte. Nicht
nur von großem Selbstbewußtsein, sondern auch von dem Hange nach Er¬
oberungen sind die Franzosen beseelt. „Sie wollen ihr Gebiet ausdehnen, um
stärker zu werden, das liegt ihnen mehr am Herzen als der Kriegsruhm, den
sie im Übermaß genossen haben." Der Gedanke an den Revanchekrieg wird
also weniger durch die erlittenen Niederlagen als durch den Verlust Elsaß-
Lothringens und die seitherige Politik Deutschlands genährt. Hat doch selbst die
öffentliche Meinung Europas gegen Deutschland Partei ergriffen, das es im neun¬
zehnten Jahrhundert wagt, hier wie in Schleswig Bevölkerungen gegen ihren
Willen sich einzuverleiben. „Auf der von uns erreichten Kulturstufe sehen
wir in der Annexion eine Unterdrückung, und zwar die schlimmste aller Unter¬
drückungen, die zum Himmel schreit und einst auf den Unterdrücker zurückfallen
kann." Elsaß-Lothringen ist eine Quelle der Schwäche für Deutschland ge¬
worden. Wenn Deutschland in Europa ein Reich des Rechtes und der
Gerechtigkeit begründen und den Krieg abschaffen will, giebt es kein besseres
Mittel als den freiwilligen Verzicht auf seiue Eroberungen, als die feierliche
Anerkennung der neuen Prinzipien durch einen Kongreß, auf dem alle Völker
vertreten wären.

Dies der Gedankengang der etwas langen und weitschweifigen Darlegungen
des schweizerischen Broschürenschreibers. Deutschland soll eine neue Epoche
der Geschichte beginnen, indem es sich erniedrigt, um Frankreich zu erheben.
Jeder klar denkende Deutsche kann daraus wieder keinen andern Schluß ziehen,
als daß unsre Sicherheit nur in der Stärke liegt. Dieser politische Dilettant,
der alle der deutschen Politik ungünstigen Gerüchte und Klatschbasereien zu¬
sammenträgt, um Deutschland als die Unruhe und Mißtrauen verbreitende
Macht des letzten Vierteljahrhunderts darzustellen, während er Frankreich nur
mit leichtem, liebevollem Tadel bedenkt, der sich die Miene giebt, als glaubte
er, daß in ganz Deutschland nur der junge Kaiser und Caprivi Friedens¬
gedanken hegten, der Frankreich alles Gute und Deutschland alles Uhle zu¬
traut, enthüllt uns, ohne es zu wollen, eine Auffassung und Richtung, deren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/576>, abgerufen am 23.07.2024.