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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Dichtende Frauen

Haus und Straße, ins Gesellschafts- und Krankenzimmer, wo sie in Welt¬
gewühl und Einsamkeit stets ganz und stets nur sie selbst ist, mit Hellem Auge
die Mißstände des Lebeus erfassend und mit gütigem Herzen einfältig schlichtend.
Gern denken wir uns solche Geister als ihre Berater und Tröster, wie sie
hier in dankbaren Strophen als wahre Genien dieser weiblichen Dichtung ge¬
priesen werden, Walther, Händel, Goethe.

Neben Angelika von Hormann steht Alberta von Puttkamer") wie
die Dame der großen Welt neben der schlichten Hausfrau. Wenn man den
Gegensatz von Kunst- und Naturpoesie, der freilich wie die meisten Unter¬
scheidungen immer etwas schiefes hat, hier anwende" wollte, so wäre
Frau Alberta die Kunstdichterin. Sie hat sich ein weidmännisches Motto
des Platonischen, besser des Aenvphontischen Sokrates ausgelesen: "Sprich,
damit ich dich sehe." Sie zeigt eine hohe Bildung. Quintilian, Tasso,
Alfred de Musset, Se. Beuve, Taine sind ihre Gewährsmänner. Sie be¬
singt Sapphvs Liebesleid in der sapphischen Odeuform und giebt über zwei
Gedichten das Maß der Aleäischen Strophe mit allen Licenzen trotz einem
antiken Metriker. Überschriften wie "Fisdur," "Nveturuo," "Herbstakkord"
weisen auf die Musikbeflissene hin. Solche Bildung giebt sich weder auf¬
dringlich, noch verworren, noch gar überspannt. Was die Dichterin vorbringt,
ist durchdacht, klar, korrekt. Die Frau vou Geist gewinnt ja dadurch, aber
die Dichterin büßt doch gelegentlich etwas an Wirkung ein. Verse wie die
mit der Aufschrift "Dennoch pessimistisch" und "Idealismus und Realismus"
berühren selbst unter der epigrammatischen Rubrik mehr wie gereimte Debatte.
Auch in historischen Gedichten, in der Schilderung erinnern Wendungen wie
"Das Rom des Nero," stereotypen wie der "wilde Tag" (zweimal hinter
einander S. 11 und 1,'Z) an Vortrag und Essay. Unter dieser Einschränkung
aber besitzt die Dichterin die Kunst, lebhaft, ja glänzend zu schildern und dabei
durch energische Rhythmik und tönende Worte zu erregen. Da ihr Welt¬
geschichte und Weltlitteratur geläufig sind, so fehlt es ihr nicht an bedeutenden
Borwürfen, uuter denen uus der am längsten ausgesponnene "Nero weint"
(nämlich über den Heldenmut einer christlichen Märtyrerin, die sich vor seiner
Liebe unter die Bestien des Zirkus rettet) freilich am wenigste" die Kosten
der poetischen Ausgestaltung zu decken scheint. Die Heilslegende selbst gewährt
ihrem christlichen Sinne reinere und reichere Motive, und hier bietet sich ihr
ein schön gewendetes Symbol wie "Jesus am Dornbusch." Das Parabolisch-
Lehrhafte ist natürlich die hervorstechende Seite ihrer Poesie. Sie findet ihren
Ausdruck in tiefsinnigen, wenn anch gelegentlich (wie im "Mysterium") etwas
weitläufigen "Gesängen." Auch das Kinder- und Hausmärchen, wie die land¬
schaftliche ielsässische> Sage weiß sie in diesem Sinne zu wenden. Daneben



Akkorde und Gesänge. Straßbnrg, Heitz, o. I.
Dichtende Frauen

Haus und Straße, ins Gesellschafts- und Krankenzimmer, wo sie in Welt¬
gewühl und Einsamkeit stets ganz und stets nur sie selbst ist, mit Hellem Auge
die Mißstände des Lebeus erfassend und mit gütigem Herzen einfältig schlichtend.
Gern denken wir uns solche Geister als ihre Berater und Tröster, wie sie
hier in dankbaren Strophen als wahre Genien dieser weiblichen Dichtung ge¬
priesen werden, Walther, Händel, Goethe.

Neben Angelika von Hormann steht Alberta von Puttkamer") wie
die Dame der großen Welt neben der schlichten Hausfrau. Wenn man den
Gegensatz von Kunst- und Naturpoesie, der freilich wie die meisten Unter¬
scheidungen immer etwas schiefes hat, hier anwende» wollte, so wäre
Frau Alberta die Kunstdichterin. Sie hat sich ein weidmännisches Motto
des Platonischen, besser des Aenvphontischen Sokrates ausgelesen: „Sprich,
damit ich dich sehe." Sie zeigt eine hohe Bildung. Quintilian, Tasso,
Alfred de Musset, Se. Beuve, Taine sind ihre Gewährsmänner. Sie be¬
singt Sapphvs Liebesleid in der sapphischen Odeuform und giebt über zwei
Gedichten das Maß der Aleäischen Strophe mit allen Licenzen trotz einem
antiken Metriker. Überschriften wie „Fisdur," „Nveturuo," „Herbstakkord"
weisen auf die Musikbeflissene hin. Solche Bildung giebt sich weder auf¬
dringlich, noch verworren, noch gar überspannt. Was die Dichterin vorbringt,
ist durchdacht, klar, korrekt. Die Frau vou Geist gewinnt ja dadurch, aber
die Dichterin büßt doch gelegentlich etwas an Wirkung ein. Verse wie die
mit der Aufschrift „Dennoch pessimistisch" und „Idealismus und Realismus"
berühren selbst unter der epigrammatischen Rubrik mehr wie gereimte Debatte.
Auch in historischen Gedichten, in der Schilderung erinnern Wendungen wie
„Das Rom des Nero," stereotypen wie der „wilde Tag" (zweimal hinter
einander S. 11 und 1,'Z) an Vortrag und Essay. Unter dieser Einschränkung
aber besitzt die Dichterin die Kunst, lebhaft, ja glänzend zu schildern und dabei
durch energische Rhythmik und tönende Worte zu erregen. Da ihr Welt¬
geschichte und Weltlitteratur geläufig sind, so fehlt es ihr nicht an bedeutenden
Borwürfen, uuter denen uus der am längsten ausgesponnene „Nero weint"
(nämlich über den Heldenmut einer christlichen Märtyrerin, die sich vor seiner
Liebe unter die Bestien des Zirkus rettet) freilich am wenigste» die Kosten
der poetischen Ausgestaltung zu decken scheint. Die Heilslegende selbst gewährt
ihrem christlichen Sinne reinere und reichere Motive, und hier bietet sich ihr
ein schön gewendetes Symbol wie „Jesus am Dornbusch." Das Parabolisch-
Lehrhafte ist natürlich die hervorstechende Seite ihrer Poesie. Sie findet ihren
Ausdruck in tiefsinnigen, wenn anch gelegentlich (wie im „Mysterium") etwas
weitläufigen „Gesängen." Auch das Kinder- und Hausmärchen, wie die land¬
schaftliche ielsässische> Sage weiß sie in diesem Sinne zu wenden. Daneben



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[0525] Dichtende Frauen Haus und Straße, ins Gesellschafts- und Krankenzimmer, wo sie in Welt¬ gewühl und Einsamkeit stets ganz und stets nur sie selbst ist, mit Hellem Auge die Mißstände des Lebeus erfassend und mit gütigem Herzen einfältig schlichtend. Gern denken wir uns solche Geister als ihre Berater und Tröster, wie sie hier in dankbaren Strophen als wahre Genien dieser weiblichen Dichtung ge¬ priesen werden, Walther, Händel, Goethe. Neben Angelika von Hormann steht Alberta von Puttkamer") wie die Dame der großen Welt neben der schlichten Hausfrau. Wenn man den Gegensatz von Kunst- und Naturpoesie, der freilich wie die meisten Unter¬ scheidungen immer etwas schiefes hat, hier anwende» wollte, so wäre Frau Alberta die Kunstdichterin. Sie hat sich ein weidmännisches Motto des Platonischen, besser des Aenvphontischen Sokrates ausgelesen: „Sprich, damit ich dich sehe." Sie zeigt eine hohe Bildung. Quintilian, Tasso, Alfred de Musset, Se. Beuve, Taine sind ihre Gewährsmänner. Sie be¬ singt Sapphvs Liebesleid in der sapphischen Odeuform und giebt über zwei Gedichten das Maß der Aleäischen Strophe mit allen Licenzen trotz einem antiken Metriker. Überschriften wie „Fisdur," „Nveturuo," „Herbstakkord" weisen auf die Musikbeflissene hin. Solche Bildung giebt sich weder auf¬ dringlich, noch verworren, noch gar überspannt. Was die Dichterin vorbringt, ist durchdacht, klar, korrekt. Die Frau vou Geist gewinnt ja dadurch, aber die Dichterin büßt doch gelegentlich etwas an Wirkung ein. Verse wie die mit der Aufschrift „Dennoch pessimistisch" und „Idealismus und Realismus" berühren selbst unter der epigrammatischen Rubrik mehr wie gereimte Debatte. Auch in historischen Gedichten, in der Schilderung erinnern Wendungen wie „Das Rom des Nero," stereotypen wie der „wilde Tag" (zweimal hinter einander S. 11 und 1,'Z) an Vortrag und Essay. Unter dieser Einschränkung aber besitzt die Dichterin die Kunst, lebhaft, ja glänzend zu schildern und dabei durch energische Rhythmik und tönende Worte zu erregen. Da ihr Welt¬ geschichte und Weltlitteratur geläufig sind, so fehlt es ihr nicht an bedeutenden Borwürfen, uuter denen uus der am längsten ausgesponnene „Nero weint" (nämlich über den Heldenmut einer christlichen Märtyrerin, die sich vor seiner Liebe unter die Bestien des Zirkus rettet) freilich am wenigste» die Kosten der poetischen Ausgestaltung zu decken scheint. Die Heilslegende selbst gewährt ihrem christlichen Sinne reinere und reichere Motive, und hier bietet sich ihr ein schön gewendetes Symbol wie „Jesus am Dornbusch." Das Parabolisch- Lehrhafte ist natürlich die hervorstechende Seite ihrer Poesie. Sie findet ihren Ausdruck in tiefsinnigen, wenn anch gelegentlich (wie im „Mysterium") etwas weitläufigen „Gesängen." Auch das Kinder- und Hausmärchen, wie die land¬ schaftliche ielsässische> Sage weiß sie in diesem Sinne zu wenden. Daneben Akkorde und Gesänge. Straßbnrg, Heitz, o. I.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/525>, abgerufen am 23.07.2024.