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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Dichtende Frauen

neigung zu dem Wesen ihrer "starkgeistigen" Schwester in Apoll. Auch sie
fühlt sich nicht sonderlich wohl in diesem Jammerthal und giebt dem alsbald
etwas unverhältnismüßigen Ausdruck. Das Bild vom Herzen als ,.krankem
Kinde" kehrt hier bedeutsam für die Fraucndichtung wieder (181). Die "Er¬
kenntnis" (177), die sie sich ans dem Leben abgezogen hat, ist die denkbar
finsterste. Sie beklagt das an ihrer Mutter Grab an ihrem Geburtstag (189).
Sie kann es nicht ändern. Die Mutter wenigstens ist nicht schuld daran. Zwei
rührende Blätter (153 f.) gelten diesem großen Verlust ihres Daseins. Die Be¬
ziehung auf freudlose, abgestorbne Einsamkeit kehrt mehrfach wieder, zuweilen
rein in einem Bilde, wie in dem der Dichterin augenscheinlich vertrauten von
dem im Rodeland vergessen stehen gebliebner Eichbaum. Gedichte wie "Nir¬
gends," ,,Am Kreuz" vervollständigen diese Bekenntnisse nach Seiten der
Heimat und der Erlebnisse des Herzens:

Das liebende Weib mag immerhin am Kreuze flehen, ein treuloses Herz ihr
wieder zuzuwenden. Muß sie denn deshalb aber gleich vom "Fluch der Liebe"
sprechen, wenn es ihr versagt ward, und nun bloß noch eins vom Kreuz er¬
flehen: "die Kraft zum Haffe" (105)? Das sind doch, so gestellt, nur billige
frauenhafte Antithesen. Im ganzen versöhnt doch hier die Beschränkung auf
den Gefühlsausdruck des eigensten Erlebens und das mitunter wohlgelungne
Stimmungs- und Traumbild. Die Überschreitung dieser Grenzen ist glück¬
licherweise nicht häufig. Die Tvtenklagen um den unglücklichen Baiernlönig
kann man dem Landeskinde wohl nachempfinden. Aber was sollen noch so
gut gemeinte soziale Drob- und Mahnrufe, wenn sie in einem schiefen Bilde
ausgedrückt sind, wie im "Almosen" (71), oder nichtssagend, wie in den "Phi¬
listern" (160), oder gar lächerlich, wie bei der in "der Christin Sohn" ledig¬
lich verliebten "Jüdin" (129)!

Um wie viel sonniger geben sich diese poetischen Lebensbilder bei Ange¬
lika von Hörmann,*) einer Dame, die freilich den Altersdnrchschnitt der
"Moderne" schon überschritten zu haben scheint; sie spricht wenigstens in einem
"Rückblick" von "längst verrauschten Jugendtagen." Aber so gar lange kann
es doch nicht her sein. Denn selten ist uns in letzter Zeit etwas gleich
Frisches, Ursprüngliches, naiv Umfassendes begegnet, als diese lieblichen und
anmutigen Lieder. Der Fran aus all ihren Lebensstufen, vom Kinde bis zur
liebenden Jungfrau, von der jungen Mutter bis zur leiderprobten Matrone
wüßte ich kein freundlicheres, vertrauteres poetisches Brevier als dies im besten



*) Neue Gedichte. Leipzig, LiebeSkiud, 1893.
Grenzboten II 1893 65
Dichtende Frauen

neigung zu dem Wesen ihrer „starkgeistigen" Schwester in Apoll. Auch sie
fühlt sich nicht sonderlich wohl in diesem Jammerthal und giebt dem alsbald
etwas unverhältnismüßigen Ausdruck. Das Bild vom Herzen als ,.krankem
Kinde" kehrt hier bedeutsam für die Fraucndichtung wieder (181). Die „Er¬
kenntnis" (177), die sie sich ans dem Leben abgezogen hat, ist die denkbar
finsterste. Sie beklagt das an ihrer Mutter Grab an ihrem Geburtstag (189).
Sie kann es nicht ändern. Die Mutter wenigstens ist nicht schuld daran. Zwei
rührende Blätter (153 f.) gelten diesem großen Verlust ihres Daseins. Die Be¬
ziehung auf freudlose, abgestorbne Einsamkeit kehrt mehrfach wieder, zuweilen
rein in einem Bilde, wie in dem der Dichterin augenscheinlich vertrauten von
dem im Rodeland vergessen stehen gebliebner Eichbaum. Gedichte wie „Nir¬
gends," ,,Am Kreuz" vervollständigen diese Bekenntnisse nach Seiten der
Heimat und der Erlebnisse des Herzens:

Das liebende Weib mag immerhin am Kreuze flehen, ein treuloses Herz ihr
wieder zuzuwenden. Muß sie denn deshalb aber gleich vom „Fluch der Liebe"
sprechen, wenn es ihr versagt ward, und nun bloß noch eins vom Kreuz er¬
flehen: „die Kraft zum Haffe" (105)? Das sind doch, so gestellt, nur billige
frauenhafte Antithesen. Im ganzen versöhnt doch hier die Beschränkung auf
den Gefühlsausdruck des eigensten Erlebens und das mitunter wohlgelungne
Stimmungs- und Traumbild. Die Überschreitung dieser Grenzen ist glück¬
licherweise nicht häufig. Die Tvtenklagen um den unglücklichen Baiernlönig
kann man dem Landeskinde wohl nachempfinden. Aber was sollen noch so
gut gemeinte soziale Drob- und Mahnrufe, wenn sie in einem schiefen Bilde
ausgedrückt sind, wie im „Almosen" (71), oder nichtssagend, wie in den „Phi¬
listern" (160), oder gar lächerlich, wie bei der in „der Christin Sohn" ledig¬
lich verliebten „Jüdin" (129)!

Um wie viel sonniger geben sich diese poetischen Lebensbilder bei Ange¬
lika von Hörmann,*) einer Dame, die freilich den Altersdnrchschnitt der
„Moderne" schon überschritten zu haben scheint; sie spricht wenigstens in einem
„Rückblick" von „längst verrauschten Jugendtagen." Aber so gar lange kann
es doch nicht her sein. Denn selten ist uns in letzter Zeit etwas gleich
Frisches, Ursprüngliches, naiv Umfassendes begegnet, als diese lieblichen und
anmutigen Lieder. Der Fran aus all ihren Lebensstufen, vom Kinde bis zur
liebenden Jungfrau, von der jungen Mutter bis zur leiderprobten Matrone
wüßte ich kein freundlicheres, vertrauteres poetisches Brevier als dies im besten



*) Neue Gedichte. Leipzig, LiebeSkiud, 1893.
Grenzboten II 1893 65
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/522>, abgerufen am 24.07.2024.