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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Der Mangel an geschichtlichem Sinn

unmittelbare göttliche Offenbarung, oder die Nationen schickten, als dieser
fromme Betrug nicht mehr möglich war, Gesandtschaften in fremde Länder,
um sich über den Geist in den Gesetzen andrer zu vergewissern und damit der
eignen Weisheit zu Hilfe zu kommen. Wenn Kriege geführt werden sollten,
so wandte man sich fragend an die Orakel, und während der Führung selbst
standen die Vorgänge einer frühern Zeit und die Beispiele, die hervorragende
Männer der Vergangenheit gegeben hatten, im höchsten Ansehen. In unsrer
Zeit ist das sehr anders geworden, und das hängt aufs engste mit dem un¬
geheuern Umfang zusammen, den unser Wissen angenommen hat. Je wissens-
stolzcr wir sind, um so weniger bekümmern wir uns um das Gesetz, das dem
Wechsel der Erscheinung zu Grunde liegt. Die gegenwärtige Zeit steht unter
der Herrschaft des Verstandes: vorwärts auf den Spuren, die die sinnliche
Erfahrung und die Beobachtung im einzelnen machen! In größter Verach¬
tung dagegen steht bei den Geschlechtern der Gegenwart die reine Anschauung,
die den Fortschritt der Ideen zum Gegenstände hat.

Man begegnet dieser Verachtung überall. Sie ist nicht bloß in der
Wissenschaft und schlägt dort den Geist mit Keulen tot, sondern droht auch
mit dem Naturalismus die Kunst zu ersticken, sie beherrscht eben so sehr die
Parlamente wie die sie paraphrasirende Journalistik. Nehmen wir einen der
jüngsten Kämpfer auf diesem Tummelplatze der Gedanken, der zu schönen
Hoffnungen berechtigte; ist nicht Grund zu fürchten, daß sich diese Hoffnungen
in ebeu so viele Irrtümer verkehren werden? Wenn der Herausgeber der
neu gegründeten "Zukunft" noch immer in Christus nichts andres sehen kann
als den Gründer eines Sozialismus, der seineu Hauptzweck in der Ansehnung
irdischer Ungleichheiten erblickt, wenn er bei aller Begeisterung für den Fürsten
Vismarck und aller Erkenntnis seines Wesens am Schluß aus diesem großen
Manne wenig andres herauslesen kann, als den Beweis für die Nietzschische
Theorie des aristokratischen Radikalismus, so ist das, so weit man bis jetzt
sehen kann, kaum mehr, als was die andern auch leisten, nur'daß hier zur
Abwechslung die Fanfaren von der andern Seite her ertönen. Der viel¬
genannte Apostata hat eine scharfe Dialektik und einen ungewöhnlich glänzenden
Witz, Eigenschaften, die in seiner Nasse nicht selten sind, aber es wäre zu
wünschen, daß er neben beiden eine etwas größere Dosis von historischer An¬
schauung hätte. Man sollte es nicht glauben, aber es steht in einer der
Mürznummern der "Zukunft" wirklich zu lesen, daß Graf Caprivi die Siche¬
rung des deutschen Reiches statt in der Steigerung der Wehrkraft der Nation,
die doch nicht ins unendliche fortgeführt werden könne, lieber in der jedesmal
geeigneten Schließung von Bündnissen suchen solle. O heiliger Cornelius
Nepos vom deutschen Gymnasium, der du schon dem Quartaner Mießnick das
Wissen beibringst, daß auf Koalitionen so viel Wert zu legen ist wie auf den
Stab Pharaos, der, wenn er ihn nicht ganz fest hält, dem Trüger in die


Der Mangel an geschichtlichem Sinn

unmittelbare göttliche Offenbarung, oder die Nationen schickten, als dieser
fromme Betrug nicht mehr möglich war, Gesandtschaften in fremde Länder,
um sich über den Geist in den Gesetzen andrer zu vergewissern und damit der
eignen Weisheit zu Hilfe zu kommen. Wenn Kriege geführt werden sollten,
so wandte man sich fragend an die Orakel, und während der Führung selbst
standen die Vorgänge einer frühern Zeit und die Beispiele, die hervorragende
Männer der Vergangenheit gegeben hatten, im höchsten Ansehen. In unsrer
Zeit ist das sehr anders geworden, und das hängt aufs engste mit dem un¬
geheuern Umfang zusammen, den unser Wissen angenommen hat. Je wissens-
stolzcr wir sind, um so weniger bekümmern wir uns um das Gesetz, das dem
Wechsel der Erscheinung zu Grunde liegt. Die gegenwärtige Zeit steht unter
der Herrschaft des Verstandes: vorwärts auf den Spuren, die die sinnliche
Erfahrung und die Beobachtung im einzelnen machen! In größter Verach¬
tung dagegen steht bei den Geschlechtern der Gegenwart die reine Anschauung,
die den Fortschritt der Ideen zum Gegenstände hat.

Man begegnet dieser Verachtung überall. Sie ist nicht bloß in der
Wissenschaft und schlägt dort den Geist mit Keulen tot, sondern droht auch
mit dem Naturalismus die Kunst zu ersticken, sie beherrscht eben so sehr die
Parlamente wie die sie paraphrasirende Journalistik. Nehmen wir einen der
jüngsten Kämpfer auf diesem Tummelplatze der Gedanken, der zu schönen
Hoffnungen berechtigte; ist nicht Grund zu fürchten, daß sich diese Hoffnungen
in ebeu so viele Irrtümer verkehren werden? Wenn der Herausgeber der
neu gegründeten „Zukunft" noch immer in Christus nichts andres sehen kann
als den Gründer eines Sozialismus, der seineu Hauptzweck in der Ansehnung
irdischer Ungleichheiten erblickt, wenn er bei aller Begeisterung für den Fürsten
Vismarck und aller Erkenntnis seines Wesens am Schluß aus diesem großen
Manne wenig andres herauslesen kann, als den Beweis für die Nietzschische
Theorie des aristokratischen Radikalismus, so ist das, so weit man bis jetzt
sehen kann, kaum mehr, als was die andern auch leisten, nur'daß hier zur
Abwechslung die Fanfaren von der andern Seite her ertönen. Der viel¬
genannte Apostata hat eine scharfe Dialektik und einen ungewöhnlich glänzenden
Witz, Eigenschaften, die in seiner Nasse nicht selten sind, aber es wäre zu
wünschen, daß er neben beiden eine etwas größere Dosis von historischer An¬
schauung hätte. Man sollte es nicht glauben, aber es steht in einer der
Mürznummern der „Zukunft" wirklich zu lesen, daß Graf Caprivi die Siche¬
rung des deutschen Reiches statt in der Steigerung der Wehrkraft der Nation,
die doch nicht ins unendliche fortgeführt werden könne, lieber in der jedesmal
geeigneten Schließung von Bündnissen suchen solle. O heiliger Cornelius
Nepos vom deutschen Gymnasium, der du schon dem Quartaner Mießnick das
Wissen beibringst, daß auf Koalitionen so viel Wert zu legen ist wie auf den
Stab Pharaos, der, wenn er ihn nicht ganz fest hält, dem Trüger in die


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[0492] Der Mangel an geschichtlichem Sinn unmittelbare göttliche Offenbarung, oder die Nationen schickten, als dieser fromme Betrug nicht mehr möglich war, Gesandtschaften in fremde Länder, um sich über den Geist in den Gesetzen andrer zu vergewissern und damit der eignen Weisheit zu Hilfe zu kommen. Wenn Kriege geführt werden sollten, so wandte man sich fragend an die Orakel, und während der Führung selbst standen die Vorgänge einer frühern Zeit und die Beispiele, die hervorragende Männer der Vergangenheit gegeben hatten, im höchsten Ansehen. In unsrer Zeit ist das sehr anders geworden, und das hängt aufs engste mit dem un¬ geheuern Umfang zusammen, den unser Wissen angenommen hat. Je wissens- stolzcr wir sind, um so weniger bekümmern wir uns um das Gesetz, das dem Wechsel der Erscheinung zu Grunde liegt. Die gegenwärtige Zeit steht unter der Herrschaft des Verstandes: vorwärts auf den Spuren, die die sinnliche Erfahrung und die Beobachtung im einzelnen machen! In größter Verach¬ tung dagegen steht bei den Geschlechtern der Gegenwart die reine Anschauung, die den Fortschritt der Ideen zum Gegenstände hat. Man begegnet dieser Verachtung überall. Sie ist nicht bloß in der Wissenschaft und schlägt dort den Geist mit Keulen tot, sondern droht auch mit dem Naturalismus die Kunst zu ersticken, sie beherrscht eben so sehr die Parlamente wie die sie paraphrasirende Journalistik. Nehmen wir einen der jüngsten Kämpfer auf diesem Tummelplatze der Gedanken, der zu schönen Hoffnungen berechtigte; ist nicht Grund zu fürchten, daß sich diese Hoffnungen in ebeu so viele Irrtümer verkehren werden? Wenn der Herausgeber der neu gegründeten „Zukunft" noch immer in Christus nichts andres sehen kann als den Gründer eines Sozialismus, der seineu Hauptzweck in der Ansehnung irdischer Ungleichheiten erblickt, wenn er bei aller Begeisterung für den Fürsten Vismarck und aller Erkenntnis seines Wesens am Schluß aus diesem großen Manne wenig andres herauslesen kann, als den Beweis für die Nietzschische Theorie des aristokratischen Radikalismus, so ist das, so weit man bis jetzt sehen kann, kaum mehr, als was die andern auch leisten, nur'daß hier zur Abwechslung die Fanfaren von der andern Seite her ertönen. Der viel¬ genannte Apostata hat eine scharfe Dialektik und einen ungewöhnlich glänzenden Witz, Eigenschaften, die in seiner Nasse nicht selten sind, aber es wäre zu wünschen, daß er neben beiden eine etwas größere Dosis von historischer An¬ schauung hätte. Man sollte es nicht glauben, aber es steht in einer der Mürznummern der „Zukunft" wirklich zu lesen, daß Graf Caprivi die Siche¬ rung des deutschen Reiches statt in der Steigerung der Wehrkraft der Nation, die doch nicht ins unendliche fortgeführt werden könne, lieber in der jedesmal geeigneten Schließung von Bündnissen suchen solle. O heiliger Cornelius Nepos vom deutschen Gymnasium, der du schon dem Quartaner Mießnick das Wissen beibringst, daß auf Koalitionen so viel Wert zu legen ist wie auf den Stab Pharaos, der, wenn er ihn nicht ganz fest hält, dem Trüger in die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/492>, abgerufen am 23.07.2024.