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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Neue Novellen

wieder nichts andres ist als eine zum Feuilletonartikel "verkürzte" Novelle).
Angesichts der dreitausend und ich weiß nicht wie viel Novellisten, die der
Kürschnersche Litterciturkaleuder erbarmungslos verzeichnet, haben die Herren
ja die Auswahl, und nicht darüber braucht man zu erstaunen, daß unter den
obwaltenden Umständen auf dem Gebiete der Novelle soviel jämmerlich Äußer¬
liches, ganz und gar Lebloses, fratzenhaft Verzerrtes und unheimlich Wider¬
wärtiges zu Tage kommt, sondern eher darüber, daß dazwischen immer
noch soviel Gutes, Frisches und in irgend einer Weise Fesselndes vorhanden
ist. Von dem großen Talent ganz abgesehen, das wohl in Gefahr steht, ge¬
wisse Verirrungen und Launen der Zeit zu teilen, sie aber auch jederzeit
leichter wieder abschüttelt als der mäßiger Begabte, der sich der Manier unter¬
geordnet hat, bleibt es erfreulich, zu sehen, daß sich inmitten all des natür¬
lichen und des künstlich gezüchteten Pessimismus ein Stück Lebensfreude und
Behagen, inmitten des Zuges zum Grellen und Häßlichen ein unausrottbarer
Drang zum Anmutigen, inmitten der Bevorzugung abnormer, krankhafter
Seelenzustände ein lebhaftes Gefühl für das Einfache und Gesunde bei Er¬
zählern erhalten hat, die man keineswegs den ersten Künstlern ihres Gebiets
Anrechnen darf. Sind wir doch mit all dem Geschrei und Getreibe des letzten
Jahrzehnts, mit der reslektirten Aufbauschung einer Genialität, die schon an
lind für sich geschwollen ist, mit dem blasirten Verlangen nach dem Neuen
und Unerhörten, an dessen Stelle dann in der Regel das Absurde und innerlich
Unmögliche tritt, mit der ganzen öden Gleichgiltigkeit gegen ein bischen
warmen Lebenshauch, gegen ein Körnchen gesunden Menschenverstandes und ein
paar Züge echter Natur (die von dem, was man heutzutage wirklich und
wahr zu nennen beliebt, freilich himmelweit verschieden ist) glücklich dahin
gediehen, daß die Frage nach dem künstlerischen Verdienst von Novellen und
Erzählungen sich nur noch schüchtern und ganz zuletzt hervorwagt. Künst¬
lerische Anlage, Stimmung, innere Ruhe, Vollendung des Vortrags -- guter
Gott! wie rigoristisch erscheint die Forderung nach solchen letzten und höchsten
Dingen zu einer Zeit, wo die Grundlagen aller erzählenden Poesie, die
Fabulirluft, die frisch gestaltende Phantasie, der helle Blick für Menschen und
Zustünde in Frage stehen. Und wo wir ihnen doch noch begegnen, da regt
sich zunächst die Freude, daß sie vorhanden sind, und wenn mau einer No¬
vellensammlung oder selbst nur einer einzelnen Novelle auch noch nachrühmen
darf, daß sie von leidlichen Proportionen, weder gestreckt noch abgehackt sei,
so schweigt man einstweilen gern von allem, was darüber hinaus zu wünschen
bleibt.

Künstlerische Vollendung und tiefere Poesie weisen nun allerdings die
Vier Novellen vou V. Mereator (Gotha, Fr. Andreas Perthes, 1892)
uicht auf, aber an dem hellen Auge für den Sonnenschein in dem mühseligen All¬
tagsleben und an frischer Erzählungslust fehlt es dem Verfasser (oder ist es


Neue Novellen

wieder nichts andres ist als eine zum Feuilletonartikel „verkürzte" Novelle).
Angesichts der dreitausend und ich weiß nicht wie viel Novellisten, die der
Kürschnersche Litterciturkaleuder erbarmungslos verzeichnet, haben die Herren
ja die Auswahl, und nicht darüber braucht man zu erstaunen, daß unter den
obwaltenden Umständen auf dem Gebiete der Novelle soviel jämmerlich Äußer¬
liches, ganz und gar Lebloses, fratzenhaft Verzerrtes und unheimlich Wider¬
wärtiges zu Tage kommt, sondern eher darüber, daß dazwischen immer
noch soviel Gutes, Frisches und in irgend einer Weise Fesselndes vorhanden
ist. Von dem großen Talent ganz abgesehen, das wohl in Gefahr steht, ge¬
wisse Verirrungen und Launen der Zeit zu teilen, sie aber auch jederzeit
leichter wieder abschüttelt als der mäßiger Begabte, der sich der Manier unter¬
geordnet hat, bleibt es erfreulich, zu sehen, daß sich inmitten all des natür¬
lichen und des künstlich gezüchteten Pessimismus ein Stück Lebensfreude und
Behagen, inmitten des Zuges zum Grellen und Häßlichen ein unausrottbarer
Drang zum Anmutigen, inmitten der Bevorzugung abnormer, krankhafter
Seelenzustände ein lebhaftes Gefühl für das Einfache und Gesunde bei Er¬
zählern erhalten hat, die man keineswegs den ersten Künstlern ihres Gebiets
Anrechnen darf. Sind wir doch mit all dem Geschrei und Getreibe des letzten
Jahrzehnts, mit der reslektirten Aufbauschung einer Genialität, die schon an
lind für sich geschwollen ist, mit dem blasirten Verlangen nach dem Neuen
und Unerhörten, an dessen Stelle dann in der Regel das Absurde und innerlich
Unmögliche tritt, mit der ganzen öden Gleichgiltigkeit gegen ein bischen
warmen Lebenshauch, gegen ein Körnchen gesunden Menschenverstandes und ein
paar Züge echter Natur (die von dem, was man heutzutage wirklich und
wahr zu nennen beliebt, freilich himmelweit verschieden ist) glücklich dahin
gediehen, daß die Frage nach dem künstlerischen Verdienst von Novellen und
Erzählungen sich nur noch schüchtern und ganz zuletzt hervorwagt. Künst¬
lerische Anlage, Stimmung, innere Ruhe, Vollendung des Vortrags — guter
Gott! wie rigoristisch erscheint die Forderung nach solchen letzten und höchsten
Dingen zu einer Zeit, wo die Grundlagen aller erzählenden Poesie, die
Fabulirluft, die frisch gestaltende Phantasie, der helle Blick für Menschen und
Zustünde in Frage stehen. Und wo wir ihnen doch noch begegnen, da regt
sich zunächst die Freude, daß sie vorhanden sind, und wenn mau einer No¬
vellensammlung oder selbst nur einer einzelnen Novelle auch noch nachrühmen
darf, daß sie von leidlichen Proportionen, weder gestreckt noch abgehackt sei,
so schweigt man einstweilen gern von allem, was darüber hinaus zu wünschen
bleibt.

Künstlerische Vollendung und tiefere Poesie weisen nun allerdings die
Vier Novellen vou V. Mereator (Gotha, Fr. Andreas Perthes, 1892)
uicht auf, aber an dem hellen Auge für den Sonnenschein in dem mühseligen All¬
tagsleben und an frischer Erzählungslust fehlt es dem Verfasser (oder ist es


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[0477] Neue Novellen wieder nichts andres ist als eine zum Feuilletonartikel „verkürzte" Novelle). Angesichts der dreitausend und ich weiß nicht wie viel Novellisten, die der Kürschnersche Litterciturkaleuder erbarmungslos verzeichnet, haben die Herren ja die Auswahl, und nicht darüber braucht man zu erstaunen, daß unter den obwaltenden Umständen auf dem Gebiete der Novelle soviel jämmerlich Äußer¬ liches, ganz und gar Lebloses, fratzenhaft Verzerrtes und unheimlich Wider¬ wärtiges zu Tage kommt, sondern eher darüber, daß dazwischen immer noch soviel Gutes, Frisches und in irgend einer Weise Fesselndes vorhanden ist. Von dem großen Talent ganz abgesehen, das wohl in Gefahr steht, ge¬ wisse Verirrungen und Launen der Zeit zu teilen, sie aber auch jederzeit leichter wieder abschüttelt als der mäßiger Begabte, der sich der Manier unter¬ geordnet hat, bleibt es erfreulich, zu sehen, daß sich inmitten all des natür¬ lichen und des künstlich gezüchteten Pessimismus ein Stück Lebensfreude und Behagen, inmitten des Zuges zum Grellen und Häßlichen ein unausrottbarer Drang zum Anmutigen, inmitten der Bevorzugung abnormer, krankhafter Seelenzustände ein lebhaftes Gefühl für das Einfache und Gesunde bei Er¬ zählern erhalten hat, die man keineswegs den ersten Künstlern ihres Gebiets Anrechnen darf. Sind wir doch mit all dem Geschrei und Getreibe des letzten Jahrzehnts, mit der reslektirten Aufbauschung einer Genialität, die schon an lind für sich geschwollen ist, mit dem blasirten Verlangen nach dem Neuen und Unerhörten, an dessen Stelle dann in der Regel das Absurde und innerlich Unmögliche tritt, mit der ganzen öden Gleichgiltigkeit gegen ein bischen warmen Lebenshauch, gegen ein Körnchen gesunden Menschenverstandes und ein paar Züge echter Natur (die von dem, was man heutzutage wirklich und wahr zu nennen beliebt, freilich himmelweit verschieden ist) glücklich dahin gediehen, daß die Frage nach dem künstlerischen Verdienst von Novellen und Erzählungen sich nur noch schüchtern und ganz zuletzt hervorwagt. Künst¬ lerische Anlage, Stimmung, innere Ruhe, Vollendung des Vortrags — guter Gott! wie rigoristisch erscheint die Forderung nach solchen letzten und höchsten Dingen zu einer Zeit, wo die Grundlagen aller erzählenden Poesie, die Fabulirluft, die frisch gestaltende Phantasie, der helle Blick für Menschen und Zustünde in Frage stehen. Und wo wir ihnen doch noch begegnen, da regt sich zunächst die Freude, daß sie vorhanden sind, und wenn mau einer No¬ vellensammlung oder selbst nur einer einzelnen Novelle auch noch nachrühmen darf, daß sie von leidlichen Proportionen, weder gestreckt noch abgehackt sei, so schweigt man einstweilen gern von allem, was darüber hinaus zu wünschen bleibt. Künstlerische Vollendung und tiefere Poesie weisen nun allerdings die Vier Novellen vou V. Mereator (Gotha, Fr. Andreas Perthes, 1892) uicht auf, aber an dem hellen Auge für den Sonnenschein in dem mühseligen All¬ tagsleben und an frischer Erzählungslust fehlt es dem Verfasser (oder ist es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/477>, abgerufen am 01.07.2024.