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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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hinaus gehindert, darum scheint ihnen sogar der deutsch-schweizerische Gastwirt
sympathischer als der Italiener und der, so weit er nicht gerade manifestirt oder
Zeitungsartikel schreibt, grundliebenswürdige Franzose. Gegessen haben sie fast
nur in dem "von Deutschen frequentirten" Gasthofe und nur hie und da
einmal etwas landesübliches probirt, um sich darüber lustig zu machen. Die
Weine Italiens hatten sie sich in der Art der süßen griechischen Weine vor¬
gestellt und haben sie nun mit Verwunderung "sauer" gefunden, was sie gar
uicht sind (diese Weinenttäuschung erlebt übrigens der an die süße, suselige
Weinpanscherei gewöhnte norddeutsche schon am Rhein und in Baden). Von
den Sehenswürdigkeiten, die sie massenhaft zu sich genommen haben, haften ein
Paar Glanznummern der Natur, wie die blaue Grotte, der Rheinfall -- wenn
der Rhein nämlich tüchtig Wasser hat, sonst war auch da ihre Erwartung in
falsche Bahn gelenkt -- oder die Bastei, von menschlichen Leistungen die
augenfälligsten, wie der Troeadero, kühne Vahnbauten, glänzende Ver¬
gnügungsorte, der schiefe Turm in Pisa und -- der Mailänder Dom, sonst
vielleicht noch Juliens Grab in Verona und das Nürnberger Bratwurstglöckle.
Die Bauten, Denkmäler, Kleinodien dagegen, deren Ruhm noch aus älterer,
feinsinnigerer Zeit stammt, sind ihnen unbehaglich gewesen, wie die Museen
und Galerien auch, und wenn sie sich trotzdem verpflichtet fühlen, etwas darüber
zu sagen, so wissen sie doch nur noch, daß in den sogenannten Stanzen ein
Bild sei, wo Apollo verrückterweise eine Geige spiele, und finden, am grä߬
lichsten seien "die Botticellis" gewesen, die Bädeker so herausstreicht. Nee, da
lob ich mir doch die drei Parzen von Thumann und "Verlassen" von Boben¬
hausen. Ach, und wieviel Unanständiges haben sie gesehen, besonders die
Damen, unans--kantig mit s--pitzem se, diese niederdeutsche Spezialität aus
den Landen der Tingeltangel und der Prüderie. Vou dem wüsten Zeug der
"historischen" Führererklärungen ist natürlich auch nichts mehr übrig, aber
dies und nur dies empfinden sie gelegentlich im geheimen als einen Mangel
in dem Erfolg ihrer Reise. Und doch ist, daß sie das wieder vergessen haben,
vielleicht noch das Beste dabei.

Aber die Unfähigkeit, mit Erfolg zu reisen kann doch nicht darin allein
wurzeln, daß der moderne Bildnngsprotz überall ängstlich vermeidet, ehrliche
Wißbegier zu bekennen und statt dessen sich selber produzirt. Das allein würde
doch die Thatsache noch nicht erklären, daß gerade der Berliner von allen der
ungeschickteste und verständnisloseste Reisende ist. Denn jener Bildungsdusel
ist leider nicht auf die Berliner beschränkt, und andrerseits ist auch der naivere
und von Renommisterei fremde Ausnahmebcrliner nicht besser daran. Darum
'Nüssen wir annehmen, daß der Berliner in seiner Eigenschaft als Großstädter
besonders schlecht zum erfolgreichen Reisen geeignet sei, und daß ihn stärker
als den Nichtgroßstüdter objektive Schwierigkeiten hindern. Wir müssen also,
um diese festzustellen, ihn einmal besonders ins Auge fassen. Am deutlichsten


hinaus gehindert, darum scheint ihnen sogar der deutsch-schweizerische Gastwirt
sympathischer als der Italiener und der, so weit er nicht gerade manifestirt oder
Zeitungsartikel schreibt, grundliebenswürdige Franzose. Gegessen haben sie fast
nur in dem „von Deutschen frequentirten" Gasthofe und nur hie und da
einmal etwas landesübliches probirt, um sich darüber lustig zu machen. Die
Weine Italiens hatten sie sich in der Art der süßen griechischen Weine vor¬
gestellt und haben sie nun mit Verwunderung „sauer" gefunden, was sie gar
uicht sind (diese Weinenttäuschung erlebt übrigens der an die süße, suselige
Weinpanscherei gewöhnte norddeutsche schon am Rhein und in Baden). Von
den Sehenswürdigkeiten, die sie massenhaft zu sich genommen haben, haften ein
Paar Glanznummern der Natur, wie die blaue Grotte, der Rheinfall — wenn
der Rhein nämlich tüchtig Wasser hat, sonst war auch da ihre Erwartung in
falsche Bahn gelenkt — oder die Bastei, von menschlichen Leistungen die
augenfälligsten, wie der Troeadero, kühne Vahnbauten, glänzende Ver¬
gnügungsorte, der schiefe Turm in Pisa und — der Mailänder Dom, sonst
vielleicht noch Juliens Grab in Verona und das Nürnberger Bratwurstglöckle.
Die Bauten, Denkmäler, Kleinodien dagegen, deren Ruhm noch aus älterer,
feinsinnigerer Zeit stammt, sind ihnen unbehaglich gewesen, wie die Museen
und Galerien auch, und wenn sie sich trotzdem verpflichtet fühlen, etwas darüber
zu sagen, so wissen sie doch nur noch, daß in den sogenannten Stanzen ein
Bild sei, wo Apollo verrückterweise eine Geige spiele, und finden, am grä߬
lichsten seien „die Botticellis" gewesen, die Bädeker so herausstreicht. Nee, da
lob ich mir doch die drei Parzen von Thumann und „Verlassen" von Boben¬
hausen. Ach, und wieviel Unanständiges haben sie gesehen, besonders die
Damen, unans—kantig mit s—pitzem se, diese niederdeutsche Spezialität aus
den Landen der Tingeltangel und der Prüderie. Vou dem wüsten Zeug der
„historischen" Führererklärungen ist natürlich auch nichts mehr übrig, aber
dies und nur dies empfinden sie gelegentlich im geheimen als einen Mangel
in dem Erfolg ihrer Reise. Und doch ist, daß sie das wieder vergessen haben,
vielleicht noch das Beste dabei.

Aber die Unfähigkeit, mit Erfolg zu reisen kann doch nicht darin allein
wurzeln, daß der moderne Bildnngsprotz überall ängstlich vermeidet, ehrliche
Wißbegier zu bekennen und statt dessen sich selber produzirt. Das allein würde
doch die Thatsache noch nicht erklären, daß gerade der Berliner von allen der
ungeschickteste und verständnisloseste Reisende ist. Denn jener Bildungsdusel
ist leider nicht auf die Berliner beschränkt, und andrerseits ist auch der naivere
und von Renommisterei fremde Ausnahmebcrliner nicht besser daran. Darum
'Nüssen wir annehmen, daß der Berliner in seiner Eigenschaft als Großstädter
besonders schlecht zum erfolgreichen Reisen geeignet sei, und daß ihn stärker
als den Nichtgroßstüdter objektive Schwierigkeiten hindern. Wir müssen also,
um diese festzustellen, ihn einmal besonders ins Auge fassen. Am deutlichsten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/472>, abgerufen am 29.09.2024.