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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Bücher über Politik

Werkes von Karl Marx verfährt Röscher ganz nach der in bürgerlichen Kreisen
hergebrachten Schablone; die Hauptsache: die Geschichte der Anhäufung des
englischen Kapitals, erwähnt er gar nicht, und was er so nebenbei von eng¬
lischen Arbeiterzuständen sagt, scheint zu beweisen, daß er es grundsätzlich ver¬
schmäht, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Geradezu verblüffend wirken
die zwei Sätze auf S. 586: "Was sich hier sin Beziehung auf Lohnerhöhung^
durch Klugheit und Eintracht der niedern Stände erreichen läßt, hat die eng¬
lische Geschichte des vorigen ^ Jahrhunderts bewiesen: im auffälligsten Gegen¬
satze zu den irischen Verhältnissen. Die Engländer, ein Menschenalter nachher
auch die Schotten, haben ihren hohen Lohn selbst verdient, die Jrländer ihren
niedrigen großenteils selbst verschuldet."

Nun sind aber von 1750 ab, wie die Leser der Grenzboten wissen, die
Arbeitslöhne in England stetig gesunken und haben um 1830 ihren tiefsten
Stand erreicht. Die seitdem eingetretene Steigerung haben die englischen
Arbeiter allerdings selbst "verdient," aber wie! Sie haben sie in einem funfzig¬
jährigen Kampfe durchgesetzt, der mit Mord und Brand angefangen hat, mit
Arbeitseinstellungen fortgeführt worden ist, der zu einer Organisation geführt
hat, die nach einem kaum zwanzigjährigen Frieden heute von allen konser¬
vativen und unionistischen Organen Englands als eine unerträgliche, unbedingt
zu brechende Tyrannei beklagt und mit unversöhnlicher Feindschaft bekämpft
wird. Und nur etwa ein Siebentel der englischen Arbeiter ist des Glücks hoher
Löhne und zugleich dauernder Beschäftigung teilhaftig geworden. Zudem lassen
sich die irischen und die englischen Löhne deshalb gar nicht vergleichen, weil
es sich in Irland, wo die Engländer alle und jede Industrie gewaltsam ver¬
nichtet haben, mit Ausnahme des von Engländern bewohnten Ulsters nur um
ländliche Tagelohne und Lnmpenpächtereinkommen handelt, in England und
Schottland dagegen um industrielle Löhne. Die englischen Ackerbautagelvhner
sind heute noch so wenig organisirt und leben noch so elend wie die irischen,
unter den Fabrik- und Grubenarbeitern Englands aber befinden sich viele Iren,
die keine geringern Löhne beziehen als ihre englischen Kameraden. An dieser
Stelle gleicht Roschers Naturgeschichte einer jener alten Landkarten, wo an
Afrika die südliche Hälfte fehlt und China etwa so groß war wie Schwaben.
Aus solcher Verkümmerung des Jnselreiches auf dieser neuen Karte erklärt sich
auch eine eigentümliche Bemerkung auf S. 587. Der drohenden plutokratisch-
proletarischeu Spaltung, meint Röscher, mit den von ihm angegebnen Mitteln
vorzubeugen, sei heilige Pflicht aller, ganz besonders auch der Fabrikanten, es
müßten denn, führt er fort, "solche Unmenschen sein, wie man sie in Frank¬
reich wohl hie und da bemerkt hat, welche z. B. den Sparkassen gram waren,
um ihre Arbeiter nicht allzu unabhängig werden zu lassen." Kein Zweifel,
Röscher hat, um sich sein Lichtbild von England nicht trüben zu lassen, nicht
einmal Brentanos Geschichte der englischen Gewerkvereine in die Hand nehmen


Zwei Bücher über Politik

Werkes von Karl Marx verfährt Röscher ganz nach der in bürgerlichen Kreisen
hergebrachten Schablone; die Hauptsache: die Geschichte der Anhäufung des
englischen Kapitals, erwähnt er gar nicht, und was er so nebenbei von eng¬
lischen Arbeiterzuständen sagt, scheint zu beweisen, daß er es grundsätzlich ver¬
schmäht, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Geradezu verblüffend wirken
die zwei Sätze auf S. 586: „Was sich hier sin Beziehung auf Lohnerhöhung^
durch Klugheit und Eintracht der niedern Stände erreichen läßt, hat die eng¬
lische Geschichte des vorigen ^ Jahrhunderts bewiesen: im auffälligsten Gegen¬
satze zu den irischen Verhältnissen. Die Engländer, ein Menschenalter nachher
auch die Schotten, haben ihren hohen Lohn selbst verdient, die Jrländer ihren
niedrigen großenteils selbst verschuldet."

Nun sind aber von 1750 ab, wie die Leser der Grenzboten wissen, die
Arbeitslöhne in England stetig gesunken und haben um 1830 ihren tiefsten
Stand erreicht. Die seitdem eingetretene Steigerung haben die englischen
Arbeiter allerdings selbst „verdient," aber wie! Sie haben sie in einem funfzig¬
jährigen Kampfe durchgesetzt, der mit Mord und Brand angefangen hat, mit
Arbeitseinstellungen fortgeführt worden ist, der zu einer Organisation geführt
hat, die nach einem kaum zwanzigjährigen Frieden heute von allen konser¬
vativen und unionistischen Organen Englands als eine unerträgliche, unbedingt
zu brechende Tyrannei beklagt und mit unversöhnlicher Feindschaft bekämpft
wird. Und nur etwa ein Siebentel der englischen Arbeiter ist des Glücks hoher
Löhne und zugleich dauernder Beschäftigung teilhaftig geworden. Zudem lassen
sich die irischen und die englischen Löhne deshalb gar nicht vergleichen, weil
es sich in Irland, wo die Engländer alle und jede Industrie gewaltsam ver¬
nichtet haben, mit Ausnahme des von Engländern bewohnten Ulsters nur um
ländliche Tagelohne und Lnmpenpächtereinkommen handelt, in England und
Schottland dagegen um industrielle Löhne. Die englischen Ackerbautagelvhner
sind heute noch so wenig organisirt und leben noch so elend wie die irischen,
unter den Fabrik- und Grubenarbeitern Englands aber befinden sich viele Iren,
die keine geringern Löhne beziehen als ihre englischen Kameraden. An dieser
Stelle gleicht Roschers Naturgeschichte einer jener alten Landkarten, wo an
Afrika die südliche Hälfte fehlt und China etwa so groß war wie Schwaben.
Aus solcher Verkümmerung des Jnselreiches auf dieser neuen Karte erklärt sich
auch eine eigentümliche Bemerkung auf S. 587. Der drohenden plutokratisch-
proletarischeu Spaltung, meint Röscher, mit den von ihm angegebnen Mitteln
vorzubeugen, sei heilige Pflicht aller, ganz besonders auch der Fabrikanten, es
müßten denn, führt er fort, „solche Unmenschen sein, wie man sie in Frank¬
reich wohl hie und da bemerkt hat, welche z. B. den Sparkassen gram waren,
um ihre Arbeiter nicht allzu unabhängig werden zu lassen." Kein Zweifel,
Röscher hat, um sich sein Lichtbild von England nicht trüben zu lassen, nicht
einmal Brentanos Geschichte der englischen Gewerkvereine in die Hand nehmen


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[0446] Zwei Bücher über Politik Werkes von Karl Marx verfährt Röscher ganz nach der in bürgerlichen Kreisen hergebrachten Schablone; die Hauptsache: die Geschichte der Anhäufung des englischen Kapitals, erwähnt er gar nicht, und was er so nebenbei von eng¬ lischen Arbeiterzuständen sagt, scheint zu beweisen, daß er es grundsätzlich ver¬ schmäht, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Geradezu verblüffend wirken die zwei Sätze auf S. 586: „Was sich hier sin Beziehung auf Lohnerhöhung^ durch Klugheit und Eintracht der niedern Stände erreichen läßt, hat die eng¬ lische Geschichte des vorigen ^ Jahrhunderts bewiesen: im auffälligsten Gegen¬ satze zu den irischen Verhältnissen. Die Engländer, ein Menschenalter nachher auch die Schotten, haben ihren hohen Lohn selbst verdient, die Jrländer ihren niedrigen großenteils selbst verschuldet." Nun sind aber von 1750 ab, wie die Leser der Grenzboten wissen, die Arbeitslöhne in England stetig gesunken und haben um 1830 ihren tiefsten Stand erreicht. Die seitdem eingetretene Steigerung haben die englischen Arbeiter allerdings selbst „verdient," aber wie! Sie haben sie in einem funfzig¬ jährigen Kampfe durchgesetzt, der mit Mord und Brand angefangen hat, mit Arbeitseinstellungen fortgeführt worden ist, der zu einer Organisation geführt hat, die nach einem kaum zwanzigjährigen Frieden heute von allen konser¬ vativen und unionistischen Organen Englands als eine unerträgliche, unbedingt zu brechende Tyrannei beklagt und mit unversöhnlicher Feindschaft bekämpft wird. Und nur etwa ein Siebentel der englischen Arbeiter ist des Glücks hoher Löhne und zugleich dauernder Beschäftigung teilhaftig geworden. Zudem lassen sich die irischen und die englischen Löhne deshalb gar nicht vergleichen, weil es sich in Irland, wo die Engländer alle und jede Industrie gewaltsam ver¬ nichtet haben, mit Ausnahme des von Engländern bewohnten Ulsters nur um ländliche Tagelohne und Lnmpenpächtereinkommen handelt, in England und Schottland dagegen um industrielle Löhne. Die englischen Ackerbautagelvhner sind heute noch so wenig organisirt und leben noch so elend wie die irischen, unter den Fabrik- und Grubenarbeitern Englands aber befinden sich viele Iren, die keine geringern Löhne beziehen als ihre englischen Kameraden. An dieser Stelle gleicht Roschers Naturgeschichte einer jener alten Landkarten, wo an Afrika die südliche Hälfte fehlt und China etwa so groß war wie Schwaben. Aus solcher Verkümmerung des Jnselreiches auf dieser neuen Karte erklärt sich auch eine eigentümliche Bemerkung auf S. 587. Der drohenden plutokratisch- proletarischeu Spaltung, meint Röscher, mit den von ihm angegebnen Mitteln vorzubeugen, sei heilige Pflicht aller, ganz besonders auch der Fabrikanten, es müßten denn, führt er fort, „solche Unmenschen sein, wie man sie in Frank¬ reich wohl hie und da bemerkt hat, welche z. B. den Sparkassen gram waren, um ihre Arbeiter nicht allzu unabhängig werden zu lassen." Kein Zweifel, Röscher hat, um sich sein Lichtbild von England nicht trüben zu lassen, nicht einmal Brentanos Geschichte der englischen Gewerkvereine in die Hand nehmen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/446>, abgerufen am 29.09.2024.