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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Bücher über Politik

sollen, während es doch in der Natur gar keine gemischten Typen gebe. Ja,
kennt denn Jellinek die Flügeleidechsen, Schnabeltiere und Maulesel nicht? Um
gar nicht von der Darwinschen Ansicht zu reden, nach der es ja keine ge¬
schlossenen Gattungen giebt, also auch eigentlich keine Typen geben kann. Am
meisten wird Röscher zum Vorwurf gemacht, daß er das moderne Verfafsuugs-
leben einfach ignorire; das Sachregister enthalte kaum einen Hinweis darauf.
Und in der That, die Wörter Parlament, Kammern, Verfassung, Konstitution
sucht man dort vergebens. Aber wir meinen gerade, mit hundert Bänden
hätte das Parlamentswesen nicht so treffend charakterisirt werden können, wie
mit diesem köstlichen Schweigen; Noscher hat offenbar gar nicht daran gedacht,
daß es auf dem europäische" Kontinent (in England und Nordamerika erwähnt
er die beiden Häuser) so etwas giebt wie eine Volksvertretung, und dieses
Übersehen ist eben naturgeschichtlich begründet. Eher möchten wir es tadeln,
daß er sich hie und da zu sehr von oberflächlichen Namensähnlichkeiten leiten
läßt, z. B. wenn er in der Entwicklungsgeschichte des modernen Absolutismus
Rußland und Iwan den Schrecklichen voranstellt, die doch Gott sei Dank noch
nicht so ganz typisch sind für Mittel- und Westeuropa; jedenfalls beruht der
russische Absolutismus aus ganz andern Grundlagen als der französische und
der deutsche. Sodann wird der ungeheuer wichtige Unterschied von Stände¬
staat und Klassenstaat nicht gebührend hervorgehoben.

Wenn ein Mann von der Welt- und Lebenserfahrung Roschers -- er
zählt jetzt sechsundsiebzig Jahre--, der mit encyklopädischen Wissen hervor¬
ragende Darstellungsgabe verbindet, die Naturgeschichte der Staatsverfassungen
und Staatsumwälzungen schreibt, so haben wir eine Fülle des Belehrenden
und Interessante" zu erwarten, und diese Erwartung wird denn auch nicht
getäuscht. Das Buch ist an keiner Stelle trocken und langweilig; wenig be¬
kannte historische Einzelheiten wechseln mit überraschenden Parallelen, scharf¬
sinnige Folgerungen mit beherzigenswerten Warnungen und Mahnungen, und
die drei schön ausgeführten Charakterbilder Cäsars, Cromwells und Napoleons
krönen das Ganze. Vielfach klingen uns unsre eignen Ansichten wieder, die
freilich selbst zum Teil den frühern Werken Roschers ihren Ursprung verdanken,
z. B. in der Erwägung auf S. 230: "Die neuerdings in so vielen Staaten
durchgedrungne allgemeine Wehrpflicht hat offenbar einen wesentlichen (hio!)
demokratischen Charakter, was selbst durch glänzende Siege wohl nur eine
Zeit lang verdunkelt werden mag. Es sind deshalb für die beschränkten Mon¬
archien von äußerster Bedeutung alle die Institute, die dem entgegenarbeiten
können. Solches geschieht dann namentlich durch alles, was ein militärisches
Standesgefühl und Standesbewußtsein zu erhalten dient. Am leichtesten wird
das natürlich bei demjenigen Teile des Heeres erreicht, der noch jetzt aus
lebenslänglichen Bernfskriegcrn besteht: also bei den Offizieren; und es ist die
Erziehung derselben in Kadettenkorps, das unter Umständen erlaubte Duell-


Zwei Bücher über Politik

sollen, während es doch in der Natur gar keine gemischten Typen gebe. Ja,
kennt denn Jellinek die Flügeleidechsen, Schnabeltiere und Maulesel nicht? Um
gar nicht von der Darwinschen Ansicht zu reden, nach der es ja keine ge¬
schlossenen Gattungen giebt, also auch eigentlich keine Typen geben kann. Am
meisten wird Röscher zum Vorwurf gemacht, daß er das moderne Verfafsuugs-
leben einfach ignorire; das Sachregister enthalte kaum einen Hinweis darauf.
Und in der That, die Wörter Parlament, Kammern, Verfassung, Konstitution
sucht man dort vergebens. Aber wir meinen gerade, mit hundert Bänden
hätte das Parlamentswesen nicht so treffend charakterisirt werden können, wie
mit diesem köstlichen Schweigen; Noscher hat offenbar gar nicht daran gedacht,
daß es auf dem europäische» Kontinent (in England und Nordamerika erwähnt
er die beiden Häuser) so etwas giebt wie eine Volksvertretung, und dieses
Übersehen ist eben naturgeschichtlich begründet. Eher möchten wir es tadeln,
daß er sich hie und da zu sehr von oberflächlichen Namensähnlichkeiten leiten
läßt, z. B. wenn er in der Entwicklungsgeschichte des modernen Absolutismus
Rußland und Iwan den Schrecklichen voranstellt, die doch Gott sei Dank noch
nicht so ganz typisch sind für Mittel- und Westeuropa; jedenfalls beruht der
russische Absolutismus aus ganz andern Grundlagen als der französische und
der deutsche. Sodann wird der ungeheuer wichtige Unterschied von Stände¬
staat und Klassenstaat nicht gebührend hervorgehoben.

Wenn ein Mann von der Welt- und Lebenserfahrung Roschers — er
zählt jetzt sechsundsiebzig Jahre—, der mit encyklopädischen Wissen hervor¬
ragende Darstellungsgabe verbindet, die Naturgeschichte der Staatsverfassungen
und Staatsumwälzungen schreibt, so haben wir eine Fülle des Belehrenden
und Interessante» zu erwarten, und diese Erwartung wird denn auch nicht
getäuscht. Das Buch ist an keiner Stelle trocken und langweilig; wenig be¬
kannte historische Einzelheiten wechseln mit überraschenden Parallelen, scharf¬
sinnige Folgerungen mit beherzigenswerten Warnungen und Mahnungen, und
die drei schön ausgeführten Charakterbilder Cäsars, Cromwells und Napoleons
krönen das Ganze. Vielfach klingen uns unsre eignen Ansichten wieder, die
freilich selbst zum Teil den frühern Werken Roschers ihren Ursprung verdanken,
z. B. in der Erwägung auf S. 230: „Die neuerdings in so vielen Staaten
durchgedrungne allgemeine Wehrpflicht hat offenbar einen wesentlichen (hio!)
demokratischen Charakter, was selbst durch glänzende Siege wohl nur eine
Zeit lang verdunkelt werden mag. Es sind deshalb für die beschränkten Mon¬
archien von äußerster Bedeutung alle die Institute, die dem entgegenarbeiten
können. Solches geschieht dann namentlich durch alles, was ein militärisches
Standesgefühl und Standesbewußtsein zu erhalten dient. Am leichtesten wird
das natürlich bei demjenigen Teile des Heeres erreicht, der noch jetzt aus
lebenslänglichen Bernfskriegcrn besteht: also bei den Offizieren; und es ist die
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/443>, abgerufen am 01.07.2024.