Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.Litteriiiilr müßige Aufgabe, nicht sowohl eines christlichen Staatswesens, als vielmehr eines Die Sache ist um so schlimmer, als in dieses für unselbständig und hilflos Daß büreaukratische Veranstaltungen fiir einzelne Zwecke mit besoldeten Beamten Litteriiiilr müßige Aufgabe, nicht sowohl eines christlichen Staatswesens, als vielmehr eines Die Sache ist um so schlimmer, als in dieses für unselbständig und hilflos Daß büreaukratische Veranstaltungen fiir einzelne Zwecke mit besoldeten Beamten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0440" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214895"/> <fw type="header" place="top"> Litteriiiilr</fw><lb/> <p xml:id="ID_1751" prev="#ID_1750"> müßige Aufgabe, nicht sowohl eines christlichen Staatswesens, als vielmehr eines<lb/> verständigen Volkes ist es, vor der furchtbaren Entdeckung, daß seine größere Hälfte<lb/> aus Besitzlosen besteht, zu erschrecken und diesem durchaus naturwidriger, allen<lb/> alten und mittelalterlichen Völkern unbekannten Zustande um jeden Preis ein Ende<lb/> zu machen, im Notfalle dnrch einen Eroberungskrieg zum Zwecke von Lauderwerb.<lb/> Darin eben besteht der verhängnisvolle Mißgriff der deutschen Versichernngsgesetz-<lb/> gebung, daß sie einen krankhaften und erst in unserm Jahrhundert gewordnen Zu-<lb/> stand, der nur als Übergangsznstand allenfalls eine Zeit lang ertragen werden<lb/> kann, als natürlichen und für alle Zukunft giltigen geradezu anerkennt und einem<lb/> großen Gesetzgebnngswerke zu Grunde legt. Massen vou besitzlosen Arbeiter», die<lb/> zugleich herrenlos gewesen wären, hat es in frühern Zeiten niemals gegeben. Noch<lb/> im Anfang unsers Jahrhunderts sind die ländlichen Arbeiter taglöhuerude Klein,<lb/> bauern gewesen, und für den jungen Handwerker war die Besitzlosigkeit nur ein<lb/> Übergangszustand; gelang es ihm uicht, ansässiger Bürger zu werden, so war das<lb/> ein persönliches Unglück, aber es war nicht die Regel. Wenn die Gesetzgebung<lb/> die Mehrzahl der Volksgenossen für unfähig erklärt, für sich selbst zu sorgen — sei<lb/> es durch eigne private Thätigkeit, sei es in freier korporativer Vereinigung mit<lb/> Verufsgenossen —, so erklärt sie damit das eigne Volk fiir Lumpengesindel. Wo<lb/> es in frühern Zeiten besitzlose Arbeiter gab, dn waren sie Sklaven. Und etwas<lb/> nudres können besitzlose Arbeiter auch gar nicht sein, denn persönliche Freiheit ohne<lb/> Eigentum giebt es nicht, hat es niemals gegeben und wird es niemals geben.<lb/> Dem Sklaven seinen Herrn nehmen, ohne ihm Eigentum dafür zu geben, heißt ihm<lb/> die Existenz rauben. Zu taufenden sind im römischen Reiche Sklaven freigelassen<lb/> worden, schon lange bevor das Christentum zur Herrschaft gelaugte, aber nie, ohne<lb/> daß der Freigelassene entweder vom Herrn mit einem Vermögen ausgestattet worden<lb/> wäre oder ein im Sklavenstandc erworbnes und erspartes mitgenommen hätte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1752"> Die Sache ist um so schlimmer, als in dieses für unselbständig und hilflos<lb/> erklärte Proletariat die Angehörigen von Bcrufsständcn zwangsweise hineingestopft<lb/> werden, die noch gar nicht so weit herunter sind, daß sie es nötig hätten. Dazu<lb/> kommt dann noch das willkürliche Anseinanderreißen des Zusammengehörigen und<lb/> Zusammenschmieden von Elementen, die einander nichts angehn, sodaß die Berufs-<lb/> stttnde vollends zerstört werden, der Klassengegensatz hingegen, den zu verhüten<lb/> höchste Aufgabe der Staatsweisheit in der Gegenwart wäre, als eine unabänder¬<lb/> liche Stantseiurichtuug feierlich besiegelt wird: der Kanfmnuusgehilfe gehört fortan<lb/> nicht mehr zum Kaufmannsstande, sondern mit dem Cigarrenarbeiter, dem Erd¬<lb/> arbeiter und der Dienstmagd zusammen in die größere Hälfte derer mit Einkommen<lb/> unter zweitausend Mark, die der kleinern besitzenden Hälfte, den „Ausbeutern,"<lb/> mit dem vollen Bewußtsein des Interessengegensatzes gegenübersteht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1753" next="#ID_1754"> Daß büreaukratische Veranstaltungen fiir einzelne Zwecke mit besoldeten Beamten<lb/> sehr viel kostspieliger arbeiten, als berufsgenvssenschaftliche Körperschaften oder Ge¬<lb/> meinden, die viele verschiedne Zwecke zugleich erfüllen, läßt sich natürlich nicht<lb/> vermeiden. Zur Rechtfertigung der ungeheuerlich hohen Verwaltungskosten einiger<lb/> „Berussgenossenschnften" Pflegt mau auf die Privatversicheruugsgesellschnften hinzu¬<lb/> weisen, die es noch dreimal so teuer machten. Es wäre doch erst noch nachzn-<lb/> rechncn, ob der Durchschnitt beider Arten von Anstalten wirklich einen so großen<lb/> Unterschied in der Kostspieligkeit ergiebt. Wäre es aber auch der Fall, so würden<lb/> damit die „Berufsgenossenschaften" noch nicht gerechtfertigt sein. Denn die Privat-<lb/> vcrsichernngsgesellschnften sind weder Veranstaltungen der Selbsthilfe, noch Staats-<lb/> einrichtungen fürs Gemeinwohl, sondern Unternehmungen von Aktiengesellschaften,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0440]
Litteriiiilr
müßige Aufgabe, nicht sowohl eines christlichen Staatswesens, als vielmehr eines
verständigen Volkes ist es, vor der furchtbaren Entdeckung, daß seine größere Hälfte
aus Besitzlosen besteht, zu erschrecken und diesem durchaus naturwidriger, allen
alten und mittelalterlichen Völkern unbekannten Zustande um jeden Preis ein Ende
zu machen, im Notfalle dnrch einen Eroberungskrieg zum Zwecke von Lauderwerb.
Darin eben besteht der verhängnisvolle Mißgriff der deutschen Versichernngsgesetz-
gebung, daß sie einen krankhaften und erst in unserm Jahrhundert gewordnen Zu-
stand, der nur als Übergangsznstand allenfalls eine Zeit lang ertragen werden
kann, als natürlichen und für alle Zukunft giltigen geradezu anerkennt und einem
großen Gesetzgebnngswerke zu Grunde legt. Massen vou besitzlosen Arbeiter», die
zugleich herrenlos gewesen wären, hat es in frühern Zeiten niemals gegeben. Noch
im Anfang unsers Jahrhunderts sind die ländlichen Arbeiter taglöhuerude Klein,
bauern gewesen, und für den jungen Handwerker war die Besitzlosigkeit nur ein
Übergangszustand; gelang es ihm uicht, ansässiger Bürger zu werden, so war das
ein persönliches Unglück, aber es war nicht die Regel. Wenn die Gesetzgebung
die Mehrzahl der Volksgenossen für unfähig erklärt, für sich selbst zu sorgen — sei
es durch eigne private Thätigkeit, sei es in freier korporativer Vereinigung mit
Verufsgenossen —, so erklärt sie damit das eigne Volk fiir Lumpengesindel. Wo
es in frühern Zeiten besitzlose Arbeiter gab, dn waren sie Sklaven. Und etwas
nudres können besitzlose Arbeiter auch gar nicht sein, denn persönliche Freiheit ohne
Eigentum giebt es nicht, hat es niemals gegeben und wird es niemals geben.
Dem Sklaven seinen Herrn nehmen, ohne ihm Eigentum dafür zu geben, heißt ihm
die Existenz rauben. Zu taufenden sind im römischen Reiche Sklaven freigelassen
worden, schon lange bevor das Christentum zur Herrschaft gelaugte, aber nie, ohne
daß der Freigelassene entweder vom Herrn mit einem Vermögen ausgestattet worden
wäre oder ein im Sklavenstandc erworbnes und erspartes mitgenommen hätte.
Die Sache ist um so schlimmer, als in dieses für unselbständig und hilflos
erklärte Proletariat die Angehörigen von Bcrufsständcn zwangsweise hineingestopft
werden, die noch gar nicht so weit herunter sind, daß sie es nötig hätten. Dazu
kommt dann noch das willkürliche Anseinanderreißen des Zusammengehörigen und
Zusammenschmieden von Elementen, die einander nichts angehn, sodaß die Berufs-
stttnde vollends zerstört werden, der Klassengegensatz hingegen, den zu verhüten
höchste Aufgabe der Staatsweisheit in der Gegenwart wäre, als eine unabänder¬
liche Stantseiurichtuug feierlich besiegelt wird: der Kanfmnuusgehilfe gehört fortan
nicht mehr zum Kaufmannsstande, sondern mit dem Cigarrenarbeiter, dem Erd¬
arbeiter und der Dienstmagd zusammen in die größere Hälfte derer mit Einkommen
unter zweitausend Mark, die der kleinern besitzenden Hälfte, den „Ausbeutern,"
mit dem vollen Bewußtsein des Interessengegensatzes gegenübersteht.
Daß büreaukratische Veranstaltungen fiir einzelne Zwecke mit besoldeten Beamten
sehr viel kostspieliger arbeiten, als berufsgenvssenschaftliche Körperschaften oder Ge¬
meinden, die viele verschiedne Zwecke zugleich erfüllen, läßt sich natürlich nicht
vermeiden. Zur Rechtfertigung der ungeheuerlich hohen Verwaltungskosten einiger
„Berussgenossenschnften" Pflegt mau auf die Privatversicheruugsgesellschnften hinzu¬
weisen, die es noch dreimal so teuer machten. Es wäre doch erst noch nachzn-
rechncn, ob der Durchschnitt beider Arten von Anstalten wirklich einen so großen
Unterschied in der Kostspieligkeit ergiebt. Wäre es aber auch der Fall, so würden
damit die „Berufsgenossenschaften" noch nicht gerechtfertigt sein. Denn die Privat-
vcrsichernngsgesellschnften sind weder Veranstaltungen der Selbsthilfe, noch Staats-
einrichtungen fürs Gemeinwohl, sondern Unternehmungen von Aktiengesellschaften,
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