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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Versammlung deutscher ^iswriker in lllnnchen

Lebensaufgabe machen, den vollen Umfang dieser Kenntnisse zu empfehlen,
welche Teile des ganzen dreitausendjährigen Verlaufes der Geschichte unsrer
Kulturuatioueu dürfte man dem" ausscheiden oder bevorzugen?

Ich will künftigen Erörterungen und Beschlüssen von Versammlunge",
die ich von Herzen zu erleben wünsche, keineswegs vorgreifen. Es giebt er-
fnhrenerc Männer, als ich bin, die sagen mögen, ob sie es für ausgemacht
oder anch mir für denkbar halten, daß in den Schulen, die Universitäten ein¬
geschlossen, einem jungen Manne das, was man Weltgeschichte zu "enner sich
gewöhnt hat, mit dem Erfolge gelehrt werden kann, daß er von dein Umfange
dieses ungeheuern Wissens für immer Besitz ergreift. Auf Grund einer vierzig¬
jährigen Erfahrung muß ich an einem solchen Erfolge nicht nur zweifeln,
sondern ich würde auch jeder Behauptung dieser Art mit Beispielen entgegen¬
treten können. Was auf diese Weise gewonnen wird, ist nicht nnr Stückwerk,
sondern was schlimmer ist, es ist ein widerwärtiger Besitz, für den ein ernstes,
redliches und nachhaltiges Interesse gar nicht vorhanden sein kann. Es ist
ein erzwnngner und erlogener Besitz, der nur ans äußern Gründen vorge¬
geben wird, ein Besitz, der uicht die Wißbegierde stählt, nicht zu weiterer Arbeit
aufmuntert, sondern schwächt und geschichtsüberdrüssig macht. Kein Mensch
ist imstande, neben den Anforderungen, die Leben und Wissenschaft sonst "och
an ihn stellen, sich in zehn Jahre" eine weltgeschichtliche Kenntnis von
irgend welche," Wert anzueignen. Was die deutschen Lehrpläne als Ziel des
Unterrichts, was die Staatsprüfungen als Forderungen an künftige Lehrer in
Bezug auf geschichtliches Wissen aufstellen, das habe ich erst uach dreißig-
jähriger ausschließlicher Beschäftigung mit Geschichte, also etwa in meine"!
vierzigsten Lebensjahre wirklich erreicht. Wenn ich früher, sei es am Ende
meiner Gymnasialzeit oder memes Universitätsstudiums, auf Grund dieser
Forderungen einem wirklichen Examen unterworfen worden wäre, so würde ich
mich nach meiner festen Überzeugung für vollständig unfähig haben erklären
müssen. Ich halte mich für verpflichtet, hinzuzufügen, daß in meiner lange"
Praxis unter den hunderten zum Teil ausgezeichneten jungen Männern, die
ich für das Lehramt geprüft habe, nicht ein einziger war, der den Umfang
jener geschichtlichen Kenntnisse wirklich besessen hätte, die man nach den be¬
stehende!? Schulplänen von deutschen Abiturienten verlangt!

Der Gedanke, daß es möglich sei, in der Geschichte auch nur die That¬
sachen, die in einem dreibändigen .Kompendium der Weltgeschichte stehe", wie
sie in Schulen benutzt werden, am Schlüsse der Gymnasialzeit frei und innerlich
zu beherrschen, ist eine bewußte oder unbewußte Täuschung. Diese Täuschung
erhält sich, weil die Eitelkeit zu groß ist, weil das Eingeständnis, den Umfang
dieses ungeheuern Gegenstandes uicht zu beherrschen, für beschämend gehalten
wird. Gleichsam in gegenseitigem Einverständnis nehmen es die meisten Menschen
hin, daß das geschichtliche Wissen doch nicht zu erschöpfen sei, und daß es daher


Die Versammlung deutscher ^iswriker in lllnnchen

Lebensaufgabe machen, den vollen Umfang dieser Kenntnisse zu empfehlen,
welche Teile des ganzen dreitausendjährigen Verlaufes der Geschichte unsrer
Kulturuatioueu dürfte man dem» ausscheiden oder bevorzugen?

Ich will künftigen Erörterungen und Beschlüssen von Versammlunge»,
die ich von Herzen zu erleben wünsche, keineswegs vorgreifen. Es giebt er-
fnhrenerc Männer, als ich bin, die sagen mögen, ob sie es für ausgemacht
oder anch mir für denkbar halten, daß in den Schulen, die Universitäten ein¬
geschlossen, einem jungen Manne das, was man Weltgeschichte zu »enner sich
gewöhnt hat, mit dem Erfolge gelehrt werden kann, daß er von dein Umfange
dieses ungeheuern Wissens für immer Besitz ergreift. Auf Grund einer vierzig¬
jährigen Erfahrung muß ich an einem solchen Erfolge nicht nur zweifeln,
sondern ich würde auch jeder Behauptung dieser Art mit Beispielen entgegen¬
treten können. Was auf diese Weise gewonnen wird, ist nicht nnr Stückwerk,
sondern was schlimmer ist, es ist ein widerwärtiger Besitz, für den ein ernstes,
redliches und nachhaltiges Interesse gar nicht vorhanden sein kann. Es ist
ein erzwnngner und erlogener Besitz, der nur ans äußern Gründen vorge¬
geben wird, ein Besitz, der uicht die Wißbegierde stählt, nicht zu weiterer Arbeit
aufmuntert, sondern schwächt und geschichtsüberdrüssig macht. Kein Mensch
ist imstande, neben den Anforderungen, die Leben und Wissenschaft sonst »och
an ihn stellen, sich in zehn Jahre» eine weltgeschichtliche Kenntnis von
irgend welche,» Wert anzueignen. Was die deutschen Lehrpläne als Ziel des
Unterrichts, was die Staatsprüfungen als Forderungen an künftige Lehrer in
Bezug auf geschichtliches Wissen aufstellen, das habe ich erst uach dreißig-
jähriger ausschließlicher Beschäftigung mit Geschichte, also etwa in meine»!
vierzigsten Lebensjahre wirklich erreicht. Wenn ich früher, sei es am Ende
meiner Gymnasialzeit oder memes Universitätsstudiums, auf Grund dieser
Forderungen einem wirklichen Examen unterworfen worden wäre, so würde ich
mich nach meiner festen Überzeugung für vollständig unfähig haben erklären
müssen. Ich halte mich für verpflichtet, hinzuzufügen, daß in meiner lange»
Praxis unter den hunderten zum Teil ausgezeichneten jungen Männern, die
ich für das Lehramt geprüft habe, nicht ein einziger war, der den Umfang
jener geschichtlichen Kenntnisse wirklich besessen hätte, die man nach den be¬
stehende!? Schulplänen von deutschen Abiturienten verlangt!

Der Gedanke, daß es möglich sei, in der Geschichte auch nur die That¬
sachen, die in einem dreibändigen .Kompendium der Weltgeschichte stehe», wie
sie in Schulen benutzt werden, am Schlüsse der Gymnasialzeit frei und innerlich
zu beherrschen, ist eine bewußte oder unbewußte Täuschung. Diese Täuschung
erhält sich, weil die Eitelkeit zu groß ist, weil das Eingeständnis, den Umfang
dieses ungeheuern Gegenstandes uicht zu beherrschen, für beschämend gehalten
wird. Gleichsam in gegenseitigem Einverständnis nehmen es die meisten Menschen
hin, daß das geschichtliche Wissen doch nicht zu erschöpfen sei, und daß es daher


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[0399] Die Versammlung deutscher ^iswriker in lllnnchen Lebensaufgabe machen, den vollen Umfang dieser Kenntnisse zu empfehlen, welche Teile des ganzen dreitausendjährigen Verlaufes der Geschichte unsrer Kulturuatioueu dürfte man dem» ausscheiden oder bevorzugen? Ich will künftigen Erörterungen und Beschlüssen von Versammlunge», die ich von Herzen zu erleben wünsche, keineswegs vorgreifen. Es giebt er- fnhrenerc Männer, als ich bin, die sagen mögen, ob sie es für ausgemacht oder anch mir für denkbar halten, daß in den Schulen, die Universitäten ein¬ geschlossen, einem jungen Manne das, was man Weltgeschichte zu »enner sich gewöhnt hat, mit dem Erfolge gelehrt werden kann, daß er von dein Umfange dieses ungeheuern Wissens für immer Besitz ergreift. Auf Grund einer vierzig¬ jährigen Erfahrung muß ich an einem solchen Erfolge nicht nur zweifeln, sondern ich würde auch jeder Behauptung dieser Art mit Beispielen entgegen¬ treten können. Was auf diese Weise gewonnen wird, ist nicht nnr Stückwerk, sondern was schlimmer ist, es ist ein widerwärtiger Besitz, für den ein ernstes, redliches und nachhaltiges Interesse gar nicht vorhanden sein kann. Es ist ein erzwnngner und erlogener Besitz, der nur ans äußern Gründen vorge¬ geben wird, ein Besitz, der uicht die Wißbegierde stählt, nicht zu weiterer Arbeit aufmuntert, sondern schwächt und geschichtsüberdrüssig macht. Kein Mensch ist imstande, neben den Anforderungen, die Leben und Wissenschaft sonst »och an ihn stellen, sich in zehn Jahre» eine weltgeschichtliche Kenntnis von irgend welche,» Wert anzueignen. Was die deutschen Lehrpläne als Ziel des Unterrichts, was die Staatsprüfungen als Forderungen an künftige Lehrer in Bezug auf geschichtliches Wissen aufstellen, das habe ich erst uach dreißig- jähriger ausschließlicher Beschäftigung mit Geschichte, also etwa in meine»! vierzigsten Lebensjahre wirklich erreicht. Wenn ich früher, sei es am Ende meiner Gymnasialzeit oder memes Universitätsstudiums, auf Grund dieser Forderungen einem wirklichen Examen unterworfen worden wäre, so würde ich mich nach meiner festen Überzeugung für vollständig unfähig haben erklären müssen. Ich halte mich für verpflichtet, hinzuzufügen, daß in meiner lange» Praxis unter den hunderten zum Teil ausgezeichneten jungen Männern, die ich für das Lehramt geprüft habe, nicht ein einziger war, der den Umfang jener geschichtlichen Kenntnisse wirklich besessen hätte, die man nach den be¬ stehende!? Schulplänen von deutschen Abiturienten verlangt! Der Gedanke, daß es möglich sei, in der Geschichte auch nur die That¬ sachen, die in einem dreibändigen .Kompendium der Weltgeschichte stehe», wie sie in Schulen benutzt werden, am Schlüsse der Gymnasialzeit frei und innerlich zu beherrschen, ist eine bewußte oder unbewußte Täuschung. Diese Täuschung erhält sich, weil die Eitelkeit zu groß ist, weil das Eingeständnis, den Umfang dieses ungeheuern Gegenstandes uicht zu beherrschen, für beschämend gehalten wird. Gleichsam in gegenseitigem Einverständnis nehmen es die meisten Menschen hin, daß das geschichtliche Wissen doch nicht zu erschöpfen sei, und daß es daher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/399>, abgerufen am 23.07.2024.