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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Friedlich von Flotow und Gelo Nicolai

Flotows steht), ein feingebildetes, znrt-pathetisches Talent und in der italie¬
nischen Musik wohl bewandert -- dieser Niedermeyer hatte acht Jahre vor
Flotow einen "Stradella" in der Pariser großen Oper mit wenig Erfolg
zur Aufführung gebracht. Er mußte erleben, daß ihm der viel ungebildetere
nud oberflächlichere Flotow mit demselben Stoffe den Rang ablief. Als
sich dann das Verlangen nach echten Kompositionen Stradellas kundgab,
ist die Welt, und sicher auch Flotow, durch die Veröffentlichung der Nieder-
meyerschen "Kirchenarie" 8s mie-1 so8uiri mystisizirt worden. Ob durch
Niedermeyer selbst? Vielleicht hat er sich diese kleine Genugthuung gegönnt.
Die Arie ist ganz in seinem Stil und wird nicht erst zum Zweck der Mysti¬
fikation geschrieben worden sein, sondern den Eindrücken ihr Leben verdanken,
die der Komponist durch einen mehrjährigen Aufenthalt in Italien em¬
pfangen hatte.

Briefe und autobiographische Bruchstücke sind in der Beschreibung von
Flotows Leben reichlich benutzt worden. Die Darstellung von Nicolais Leben
besteht fast ganz aus Tagebüchern, denen der Herausgeber gerade soviel an
Ergänzungen hinzugefügt hat, als ihm nötig schien, um dem Bilde Vollständig¬
keit und innern Zusammenhalt zu geben. Der einzige, der vor ihm etwas
Ausführlicheres über Nicolai veröffentlicht hatte, war dessen Wiener Freund
Siegfried Kapper gewesen. Einige Ergänzungen sind der Arbeit Kappers ent¬
nommen; bei weitem das meiste ist des Herausgebers eigne Zuthat, so die
Jugendgeschichte, die Ereignisse der letzten beiden Lebensjahre und die Ein¬
schaltungen, die ihm nu gewissen Stellen der Tagebücher zum Verständnis des
Charakters des Mannes notwendig schienen. Die Tagebücher sind im Besitz
des Herausgebers. Er hat sie vom Vater des Komponisten empfangen, der
den Sohn überlebte. Er scheint demnach in persönlichen Beziehungen zur Fa¬
milie gestanden zu haben; auch aus dem Material, das ihm zur Darstellung
der Jugendgeschichte diente, und der Erzählung des Wiedersehens, das Nicolai
1844 mit seinem Vater hatte, läßt sich das schließen. Eine warme Verehrung
für Nicolai spricht aus der Art, wie er ihn beurteilt, mit seiner eignen Person
bleibt er in bescheidner Zurückhaltung, Charakter und Ton seiner Zusätze sind
verständig und ruhig. Alles das nimmt den Leser für den Herausgeber ein.
Der gesamte Eindruck seines Buches ist vorteilhafter, als der, deu die Bio¬
graphie Flotows macht. Kein Zweifel, daß es viele mit Teilnahme lesen
werden. Dabei bleiben aber doch unsre Bedenken ungehoben, ob es nicht besser
gewesen wäre, das Buch ungeschrieben, will sagen: die Tagebücher ungedruckt
zu lassen.

Man ist heute allzu eifrig bemüht, durch Veröffentlichung von vertrauten
Briefen oder gar Aufzeichnungen, die der Schreiber nur für sich selbst gemacht
hatte, in das Privatleben hervorragender Verstorbnen hineinzuleuchten. Ge¬
wöhnlich wird es damit begründet, daß die Nachwelt auf den vollständigen


Grenzboten it 1L93 47
Friedlich von Flotow und Gelo Nicolai

Flotows steht), ein feingebildetes, znrt-pathetisches Talent und in der italie¬
nischen Musik wohl bewandert — dieser Niedermeyer hatte acht Jahre vor
Flotow einen „Stradella" in der Pariser großen Oper mit wenig Erfolg
zur Aufführung gebracht. Er mußte erleben, daß ihm der viel ungebildetere
nud oberflächlichere Flotow mit demselben Stoffe den Rang ablief. Als
sich dann das Verlangen nach echten Kompositionen Stradellas kundgab,
ist die Welt, und sicher auch Flotow, durch die Veröffentlichung der Nieder-
meyerschen „Kirchenarie" 8s mie-1 so8uiri mystisizirt worden. Ob durch
Niedermeyer selbst? Vielleicht hat er sich diese kleine Genugthuung gegönnt.
Die Arie ist ganz in seinem Stil und wird nicht erst zum Zweck der Mysti¬
fikation geschrieben worden sein, sondern den Eindrücken ihr Leben verdanken,
die der Komponist durch einen mehrjährigen Aufenthalt in Italien em¬
pfangen hatte.

Briefe und autobiographische Bruchstücke sind in der Beschreibung von
Flotows Leben reichlich benutzt worden. Die Darstellung von Nicolais Leben
besteht fast ganz aus Tagebüchern, denen der Herausgeber gerade soviel an
Ergänzungen hinzugefügt hat, als ihm nötig schien, um dem Bilde Vollständig¬
keit und innern Zusammenhalt zu geben. Der einzige, der vor ihm etwas
Ausführlicheres über Nicolai veröffentlicht hatte, war dessen Wiener Freund
Siegfried Kapper gewesen. Einige Ergänzungen sind der Arbeit Kappers ent¬
nommen; bei weitem das meiste ist des Herausgebers eigne Zuthat, so die
Jugendgeschichte, die Ereignisse der letzten beiden Lebensjahre und die Ein¬
schaltungen, die ihm nu gewissen Stellen der Tagebücher zum Verständnis des
Charakters des Mannes notwendig schienen. Die Tagebücher sind im Besitz
des Herausgebers. Er hat sie vom Vater des Komponisten empfangen, der
den Sohn überlebte. Er scheint demnach in persönlichen Beziehungen zur Fa¬
milie gestanden zu haben; auch aus dem Material, das ihm zur Darstellung
der Jugendgeschichte diente, und der Erzählung des Wiedersehens, das Nicolai
1844 mit seinem Vater hatte, läßt sich das schließen. Eine warme Verehrung
für Nicolai spricht aus der Art, wie er ihn beurteilt, mit seiner eignen Person
bleibt er in bescheidner Zurückhaltung, Charakter und Ton seiner Zusätze sind
verständig und ruhig. Alles das nimmt den Leser für den Herausgeber ein.
Der gesamte Eindruck seines Buches ist vorteilhafter, als der, deu die Bio¬
graphie Flotows macht. Kein Zweifel, daß es viele mit Teilnahme lesen
werden. Dabei bleiben aber doch unsre Bedenken ungehoben, ob es nicht besser
gewesen wäre, das Buch ungeschrieben, will sagen: die Tagebücher ungedruckt
zu lassen.

Man ist heute allzu eifrig bemüht, durch Veröffentlichung von vertrauten
Briefen oder gar Aufzeichnungen, die der Schreiber nur für sich selbst gemacht
hatte, in das Privatleben hervorragender Verstorbnen hineinzuleuchten. Ge¬
wöhnlich wird es damit begründet, daß die Nachwelt auf den vollständigen


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[0378] Friedlich von Flotow und Gelo Nicolai Flotows steht), ein feingebildetes, znrt-pathetisches Talent und in der italie¬ nischen Musik wohl bewandert — dieser Niedermeyer hatte acht Jahre vor Flotow einen „Stradella" in der Pariser großen Oper mit wenig Erfolg zur Aufführung gebracht. Er mußte erleben, daß ihm der viel ungebildetere nud oberflächlichere Flotow mit demselben Stoffe den Rang ablief. Als sich dann das Verlangen nach echten Kompositionen Stradellas kundgab, ist die Welt, und sicher auch Flotow, durch die Veröffentlichung der Nieder- meyerschen „Kirchenarie" 8s mie-1 so8uiri mystisizirt worden. Ob durch Niedermeyer selbst? Vielleicht hat er sich diese kleine Genugthuung gegönnt. Die Arie ist ganz in seinem Stil und wird nicht erst zum Zweck der Mysti¬ fikation geschrieben worden sein, sondern den Eindrücken ihr Leben verdanken, die der Komponist durch einen mehrjährigen Aufenthalt in Italien em¬ pfangen hatte. Briefe und autobiographische Bruchstücke sind in der Beschreibung von Flotows Leben reichlich benutzt worden. Die Darstellung von Nicolais Leben besteht fast ganz aus Tagebüchern, denen der Herausgeber gerade soviel an Ergänzungen hinzugefügt hat, als ihm nötig schien, um dem Bilde Vollständig¬ keit und innern Zusammenhalt zu geben. Der einzige, der vor ihm etwas Ausführlicheres über Nicolai veröffentlicht hatte, war dessen Wiener Freund Siegfried Kapper gewesen. Einige Ergänzungen sind der Arbeit Kappers ent¬ nommen; bei weitem das meiste ist des Herausgebers eigne Zuthat, so die Jugendgeschichte, die Ereignisse der letzten beiden Lebensjahre und die Ein¬ schaltungen, die ihm nu gewissen Stellen der Tagebücher zum Verständnis des Charakters des Mannes notwendig schienen. Die Tagebücher sind im Besitz des Herausgebers. Er hat sie vom Vater des Komponisten empfangen, der den Sohn überlebte. Er scheint demnach in persönlichen Beziehungen zur Fa¬ milie gestanden zu haben; auch aus dem Material, das ihm zur Darstellung der Jugendgeschichte diente, und der Erzählung des Wiedersehens, das Nicolai 1844 mit seinem Vater hatte, läßt sich das schließen. Eine warme Verehrung für Nicolai spricht aus der Art, wie er ihn beurteilt, mit seiner eignen Person bleibt er in bescheidner Zurückhaltung, Charakter und Ton seiner Zusätze sind verständig und ruhig. Alles das nimmt den Leser für den Herausgeber ein. Der gesamte Eindruck seines Buches ist vorteilhafter, als der, deu die Bio¬ graphie Flotows macht. Kein Zweifel, daß es viele mit Teilnahme lesen werden. Dabei bleiben aber doch unsre Bedenken ungehoben, ob es nicht besser gewesen wäre, das Buch ungeschrieben, will sagen: die Tagebücher ungedruckt zu lassen. Man ist heute allzu eifrig bemüht, durch Veröffentlichung von vertrauten Briefen oder gar Aufzeichnungen, die der Schreiber nur für sich selbst gemacht hatte, in das Privatleben hervorragender Verstorbnen hineinzuleuchten. Ge¬ wöhnlich wird es damit begründet, daß die Nachwelt auf den vollständigen Grenzboten it 1L93 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/378>, abgerufen am 26.08.2024.