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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Vorbildung in Paris einen oberflächlichen französischen Firnis hatte applizireu
lassen, die Kraft haben könnte, dergestalt das Wohlgefallen seines Volkes zu
erregen und in dessen musikalisches Empfinden schon ein halbes Jahrhundert
hindurch bestimmend einzugreifen?

Nicolai war der Sohn eines Musiklehrers in Königsberg. Nach einer
freudlosen Kindheit verließ er, sechzehnjährig, aus eigner Entschließung die
Heimat und wanderte mit einem Thaler in der Tasche nach Berlin, um sich
hier auf eigne Faust zum Musiker auszubilden. Unter Entbehrungen aller
Art erzog er sich sechs Jahre hindurch in der strengen Schule Zelters und
Bernhard Kleins zum erusten Künstlerberuf. Die Richtung seiner Studien
ging auf die kirchliche Musik. 1834 wurde er Organist bei der preußischen
Gesandtschaft in Rom. In dieser Stellung und unter Studien altrömischer
Kirchenmusik, schickt sich nun der Sohn des protestantischen Nordens an,
italienische Opern zu komponiren. Er schreibt dann deren vier und bringt sie
in Städten Norditaliens zur Aufführung, teilweise mit gutem, nirgends
mit nachhaltigem Erfolg. Von einer kurzen Anstellung an der Wiener Oper
abgesehen, zieht er von 1836 bis 1841 als fahrender Musikant durch die
Welt, das heißt durch Italien, das damals seine Welt war. Dann wird er
Kapellmeister am kaiserlichen Theater in Wien, aber in dieser Stellung leistet
er sein Größtes in der Pflege deutscher Instrumentalmusik. Er gründet die
Philharmonischen Konzerte und führt Beethovens neunte Sinfonie den Wienern
zum erstenmale in würdiger Weise vor. In diesem Künstlerleben scheint
jedes Ziel und jeder Fortschritt zu fehlen. "Sollte ich wohl noch etwas
ordentliches leisten?" schreibt er 1844 in sein Tagebuch. Dann vollendet er
seine erste und einzige deutsche Oper "Die lustigen Weiber." Er war in¬
zwischen nach Berlin zurückgekehrt, von wo er als Künstler seinen Ausgang
genommen hatte. 1849 kommt die Oper dort zur Aufführung. Wenige Tage
nachher stirbt Nicolai, neununddreißig Jahre alt. Die Oper aber lebt und
erfreut bis heute die ganze deutsche Welt -- eine Mischung deutscher Romantik
und italienischer Plastik, deutscher Justrumental- und italienischer Gesangs-
kunst, deutscher Sentimentalität und italienischer Buffonnerie, die in uner¬
warteter Weise gelungen ist.

Ein zweites mal wäre es schwerlich so gekommen. Um auf dieser Dvppel-
grundlage einen neuen Stil zu schaffen, wie Händel und Mozart, dazu war
Nicolais Talent nicht energisch genug. Es ist, als wäre diese Oper wie aus
Zufall gelungen. Überraschungen, wenn nicht gleicher, so doch ähnlicher Art
hat auch die neuere Zeit uoch einige aufzuweisen. Nicolais jüngerer Lands¬
mann, Hermann Goetz, hat sie uus mit "Der Widerspenstigen Zähmung"
bereitet, einem Werke, auf das man nicht rechnen konnte nach dem, was ihm
vorausgegangen war, und das Erwartungen weckte, die von den nachfolgenden
Leistungen nicht erfüllt wurden. Da erscheint es vom Künstlcrstandpunkte


Vorbildung in Paris einen oberflächlichen französischen Firnis hatte applizireu
lassen, die Kraft haben könnte, dergestalt das Wohlgefallen seines Volkes zu
erregen und in dessen musikalisches Empfinden schon ein halbes Jahrhundert
hindurch bestimmend einzugreifen?

Nicolai war der Sohn eines Musiklehrers in Königsberg. Nach einer
freudlosen Kindheit verließ er, sechzehnjährig, aus eigner Entschließung die
Heimat und wanderte mit einem Thaler in der Tasche nach Berlin, um sich
hier auf eigne Faust zum Musiker auszubilden. Unter Entbehrungen aller
Art erzog er sich sechs Jahre hindurch in der strengen Schule Zelters und
Bernhard Kleins zum erusten Künstlerberuf. Die Richtung seiner Studien
ging auf die kirchliche Musik. 1834 wurde er Organist bei der preußischen
Gesandtschaft in Rom. In dieser Stellung und unter Studien altrömischer
Kirchenmusik, schickt sich nun der Sohn des protestantischen Nordens an,
italienische Opern zu komponiren. Er schreibt dann deren vier und bringt sie
in Städten Norditaliens zur Aufführung, teilweise mit gutem, nirgends
mit nachhaltigem Erfolg. Von einer kurzen Anstellung an der Wiener Oper
abgesehen, zieht er von 1836 bis 1841 als fahrender Musikant durch die
Welt, das heißt durch Italien, das damals seine Welt war. Dann wird er
Kapellmeister am kaiserlichen Theater in Wien, aber in dieser Stellung leistet
er sein Größtes in der Pflege deutscher Instrumentalmusik. Er gründet die
Philharmonischen Konzerte und führt Beethovens neunte Sinfonie den Wienern
zum erstenmale in würdiger Weise vor. In diesem Künstlerleben scheint
jedes Ziel und jeder Fortschritt zu fehlen. „Sollte ich wohl noch etwas
ordentliches leisten?" schreibt er 1844 in sein Tagebuch. Dann vollendet er
seine erste und einzige deutsche Oper „Die lustigen Weiber." Er war in¬
zwischen nach Berlin zurückgekehrt, von wo er als Künstler seinen Ausgang
genommen hatte. 1849 kommt die Oper dort zur Aufführung. Wenige Tage
nachher stirbt Nicolai, neununddreißig Jahre alt. Die Oper aber lebt und
erfreut bis heute die ganze deutsche Welt — eine Mischung deutscher Romantik
und italienischer Plastik, deutscher Justrumental- und italienischer Gesangs-
kunst, deutscher Sentimentalität und italienischer Buffonnerie, die in uner¬
warteter Weise gelungen ist.

Ein zweites mal wäre es schwerlich so gekommen. Um auf dieser Dvppel-
grundlage einen neuen Stil zu schaffen, wie Händel und Mozart, dazu war
Nicolais Talent nicht energisch genug. Es ist, als wäre diese Oper wie aus
Zufall gelungen. Überraschungen, wenn nicht gleicher, so doch ähnlicher Art
hat auch die neuere Zeit uoch einige aufzuweisen. Nicolais jüngerer Lands¬
mann, Hermann Goetz, hat sie uus mit „Der Widerspenstigen Zähmung"
bereitet, einem Werke, auf das man nicht rechnen konnte nach dem, was ihm
vorausgegangen war, und das Erwartungen weckte, die von den nachfolgenden
Leistungen nicht erfüllt wurden. Da erscheint es vom Künstlcrstandpunkte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/375>, abgerufen am 27.08.2024.