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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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statt ihrer immer nur irgend eine vorgefaßte Meinung wiederzufinden beab¬
sichtigte, oder wenigstens irgend eine Lieblingsidee durchaus nicht verletzen
wollte, zu diesem Zweck aber Wiukelzllge gegen andre und sich selbst anwenden
mußte. Der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten, ist es, der den
Philosophen macht. Dieser muß dem Ödipus des Sophokles gleichen, der,
Aufklärung über sein eignes schreckliches Schicksal suchend, rastlos weiter forscht,
selbst wenn er schon ahnt, daß sich ans den Antworten das Entsetzlichste für
ihn ergeben wird. Aber da tragen die meisten die Jokaste in sich, welche den
Ödipus um aller Götter willen bittet, uicht weiter zu forschen. , . . Dieser
Philosophische Mut aber, der eins ist mit der Treue und Redlichkeit des
Forschens, die Sie mir zuerkennen, entspringt nicht aus der Reflexion, läßt
sich nicht durch Vorsätze erzwingen, sondern ist angeborne Richtung des
Geistes."

Das ist im allgemeinen richtig, und Schopenhauer darf den Ruhm für
sich in Anspruch nehmen, den pflichtmäßigen philosophischen Mut bewiesen zu
haben. Aber das Entsetzliche zu finden, verpflichten Treue und Redlichkeit
den Forscher keineswegs. In den Naturwissenschaften, der Geschichte und den
übrigen Wissenschaften hat man ein Entsetzliches, das darin lauerte, nicht zu
fürchten, denn das Schlimmste, was einem widerfahren kann, die Zerstörung
lieb gewordner Meinungen, ist zwar unangenehm, doch nicht entsetzlich. Und
wenn Schopenhauer beim Suchen nach den letzten Gründen das Entsetzliche
gefunden hat, so geschah das, weil er aus angeborner Schwermut gar nichts
andres siudeu wollte. Angenommen, was jedoch nicht der Fall ist, die Logik
vermöchte hinter dem Schleier der Maja nichts andres aufzuzeigen als dieses
Entsetzliche, so würde uns nichts verpflichten, den Schleier zu heben, vielmehr
würde uns die Liebe, die das Höchste ist, verpflichten, ihn unberührt zu küssen.
Einen beglückenden Wahn zu zerstören, kann Pflicht sein, nämlich wenn man
glaubt, daß er das spätere Lebensglück oder die ewige Seligkeit gefährde; aber
wenn mit dem Tode alles ans ist, dann ist es Frevel, einen Wahn zu zer¬
stören, der das Erdenleben, wenn nicht glücklich, so doch wenigstens erträglich
macht. Nur wenn die Wahrheit wertvoll, wenn sie zugleich die ewige Güte
und Schönheit ist, verpflichtet sie, nicht wenn sie ein Scheusal ist. Mit Ödipus
stand die Sache ganz anders; er war verpflichtet, die Wahrheit zu ergründe",
an sein Volk von der Pest erlösen zu können.

Goethe lehnte es ub, sich mit Schopenhauer über die Farbenlehre hernm-
zustreiten, und sprach dabei eine der größten und wichtigsten Wahrheiten aus,
die jemals aus einem sterblichen Munde gekommen sind. "Ich sah nur allzu
deutlich, wie die Menschen zwar über die Gegenstände und ihre Erscheinung
vollkommen einig sein können, daß sie aber über Ansicht, Ableitung, Erklärung
niemals übereinkommen werden, selbst diejenigen uicht, die in Prinzipien einig
sind, denn die Anwendung entzweit sie sogleich wieder. . . . Idee und Erfahrung


statt ihrer immer nur irgend eine vorgefaßte Meinung wiederzufinden beab¬
sichtigte, oder wenigstens irgend eine Lieblingsidee durchaus nicht verletzen
wollte, zu diesem Zweck aber Wiukelzllge gegen andre und sich selbst anwenden
mußte. Der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten, ist es, der den
Philosophen macht. Dieser muß dem Ödipus des Sophokles gleichen, der,
Aufklärung über sein eignes schreckliches Schicksal suchend, rastlos weiter forscht,
selbst wenn er schon ahnt, daß sich ans den Antworten das Entsetzlichste für
ihn ergeben wird. Aber da tragen die meisten die Jokaste in sich, welche den
Ödipus um aller Götter willen bittet, uicht weiter zu forschen. , . . Dieser
Philosophische Mut aber, der eins ist mit der Treue und Redlichkeit des
Forschens, die Sie mir zuerkennen, entspringt nicht aus der Reflexion, läßt
sich nicht durch Vorsätze erzwingen, sondern ist angeborne Richtung des
Geistes."

Das ist im allgemeinen richtig, und Schopenhauer darf den Ruhm für
sich in Anspruch nehmen, den pflichtmäßigen philosophischen Mut bewiesen zu
haben. Aber das Entsetzliche zu finden, verpflichten Treue und Redlichkeit
den Forscher keineswegs. In den Naturwissenschaften, der Geschichte und den
übrigen Wissenschaften hat man ein Entsetzliches, das darin lauerte, nicht zu
fürchten, denn das Schlimmste, was einem widerfahren kann, die Zerstörung
lieb gewordner Meinungen, ist zwar unangenehm, doch nicht entsetzlich. Und
wenn Schopenhauer beim Suchen nach den letzten Gründen das Entsetzliche
gefunden hat, so geschah das, weil er aus angeborner Schwermut gar nichts
andres siudeu wollte. Angenommen, was jedoch nicht der Fall ist, die Logik
vermöchte hinter dem Schleier der Maja nichts andres aufzuzeigen als dieses
Entsetzliche, so würde uns nichts verpflichten, den Schleier zu heben, vielmehr
würde uns die Liebe, die das Höchste ist, verpflichten, ihn unberührt zu küssen.
Einen beglückenden Wahn zu zerstören, kann Pflicht sein, nämlich wenn man
glaubt, daß er das spätere Lebensglück oder die ewige Seligkeit gefährde; aber
wenn mit dem Tode alles ans ist, dann ist es Frevel, einen Wahn zu zer¬
stören, der das Erdenleben, wenn nicht glücklich, so doch wenigstens erträglich
macht. Nur wenn die Wahrheit wertvoll, wenn sie zugleich die ewige Güte
und Schönheit ist, verpflichtet sie, nicht wenn sie ein Scheusal ist. Mit Ödipus
stand die Sache ganz anders; er war verpflichtet, die Wahrheit zu ergründe»,
an sein Volk von der Pest erlösen zu können.

Goethe lehnte es ub, sich mit Schopenhauer über die Farbenlehre hernm-
zustreiten, und sprach dabei eine der größten und wichtigsten Wahrheiten aus,
die jemals aus einem sterblichen Munde gekommen sind. „Ich sah nur allzu
deutlich, wie die Menschen zwar über die Gegenstände und ihre Erscheinung
vollkommen einig sein können, daß sie aber über Ansicht, Ableitung, Erklärung
niemals übereinkommen werden, selbst diejenigen uicht, die in Prinzipien einig
sind, denn die Anwendung entzweit sie sogleich wieder. . . . Idee und Erfahrung


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[0364] statt ihrer immer nur irgend eine vorgefaßte Meinung wiederzufinden beab¬ sichtigte, oder wenigstens irgend eine Lieblingsidee durchaus nicht verletzen wollte, zu diesem Zweck aber Wiukelzllge gegen andre und sich selbst anwenden mußte. Der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten, ist es, der den Philosophen macht. Dieser muß dem Ödipus des Sophokles gleichen, der, Aufklärung über sein eignes schreckliches Schicksal suchend, rastlos weiter forscht, selbst wenn er schon ahnt, daß sich ans den Antworten das Entsetzlichste für ihn ergeben wird. Aber da tragen die meisten die Jokaste in sich, welche den Ödipus um aller Götter willen bittet, uicht weiter zu forschen. , . . Dieser Philosophische Mut aber, der eins ist mit der Treue und Redlichkeit des Forschens, die Sie mir zuerkennen, entspringt nicht aus der Reflexion, läßt sich nicht durch Vorsätze erzwingen, sondern ist angeborne Richtung des Geistes." Das ist im allgemeinen richtig, und Schopenhauer darf den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, den pflichtmäßigen philosophischen Mut bewiesen zu haben. Aber das Entsetzliche zu finden, verpflichten Treue und Redlichkeit den Forscher keineswegs. In den Naturwissenschaften, der Geschichte und den übrigen Wissenschaften hat man ein Entsetzliches, das darin lauerte, nicht zu fürchten, denn das Schlimmste, was einem widerfahren kann, die Zerstörung lieb gewordner Meinungen, ist zwar unangenehm, doch nicht entsetzlich. Und wenn Schopenhauer beim Suchen nach den letzten Gründen das Entsetzliche gefunden hat, so geschah das, weil er aus angeborner Schwermut gar nichts andres siudeu wollte. Angenommen, was jedoch nicht der Fall ist, die Logik vermöchte hinter dem Schleier der Maja nichts andres aufzuzeigen als dieses Entsetzliche, so würde uns nichts verpflichten, den Schleier zu heben, vielmehr würde uns die Liebe, die das Höchste ist, verpflichten, ihn unberührt zu küssen. Einen beglückenden Wahn zu zerstören, kann Pflicht sein, nämlich wenn man glaubt, daß er das spätere Lebensglück oder die ewige Seligkeit gefährde; aber wenn mit dem Tode alles ans ist, dann ist es Frevel, einen Wahn zu zer¬ stören, der das Erdenleben, wenn nicht glücklich, so doch wenigstens erträglich macht. Nur wenn die Wahrheit wertvoll, wenn sie zugleich die ewige Güte und Schönheit ist, verpflichtet sie, nicht wenn sie ein Scheusal ist. Mit Ödipus stand die Sache ganz anders; er war verpflichtet, die Wahrheit zu ergründe», an sein Volk von der Pest erlösen zu können. Goethe lehnte es ub, sich mit Schopenhauer über die Farbenlehre hernm- zustreiten, und sprach dabei eine der größten und wichtigsten Wahrheiten aus, die jemals aus einem sterblichen Munde gekommen sind. „Ich sah nur allzu deutlich, wie die Menschen zwar über die Gegenstände und ihre Erscheinung vollkommen einig sein können, daß sie aber über Ansicht, Ableitung, Erklärung niemals übereinkommen werden, selbst diejenigen uicht, die in Prinzipien einig sind, denn die Anwendung entzweit sie sogleich wieder. . . . Idee und Erfahrung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/364>, abgerufen am 26.08.2024.