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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zur Naturgeschichte des Pessimismus

sondern durch die von seiner Galle gefärbte Brille konnte er nur ein ebenso
grausames als dummes Scheusal sehen.

Was die Körperwelt anlangt, so haben die seitdem angestellten Unter¬
suchungen der Physiologen, Chemiker und Physiker vollends klar gemacht, wie
sehr die Engländer und Kant Recht hatten, wenn sie lehrten, daß der Mensch
von ihr nichts wahrnehme als die wechselnden Zustände, die sie in seiner
Seele hervorbringt. Und mit diesem "die sie in seiner Seele hervorbringt"
ist zugleich der Widerspruch überwunden, den nur müßige Grübelei zwischen
der philosophischen und der gewöhnlichen Auffassung der Außenwelt herauS-
gediftelt hat. Der Gebildete weiß, daß der Geschmack, der Geruch, die Farbe
und die Zähigkeit des Beefsteaks, das er genießt, nur in seiner Vorstellung
bestehen, waS alles dem Ungebildeten, unbeschadet feiner Gaumenlust und
seiner Verdauung, zeitlebens unbekannt bleibt, aber er würde ein Narr sein,
wenn er sich den Kopf darüber zerbrechen wollte, wie wohl der dieses Beef¬
steak ausmachende Atvmhaufe einem anders organisirten Wesen oder dem ab¬
soluten Geiste schmecken, riechen und aussehen mochte, oder was er an sich
ist ohne Beziehung auf ein Wesen, von dem er durch irgend einen Sinn wahr¬
genommen wird. Es ist kein Wunder, daß Kant in einer Zeit, wo man in
dieser Unterscheidung des Dinges an sich von seinem Bilde in unsrer Seele
noch nicht geübt war, sich in allerlei Widersprüche verwickelte, und Vaihinger
nennt denn auch die Kritik der reinen Vernunft das genialste und zugleich
das widerspruchvollste Werk der ganzen Geschichte der Philosophie/")

Kant wird den Subjektivismus ungefähr fo gemeint haben, wie ihn später
Lotze gemeint hat und wie nur ihn meinen, und wird nur das rechte Wort
nicht gefunden haben, die scheinbar unvereinbarer Elemente seiner Auffassung
zu vereinigen. Ähnlich urteilt ein Schüler E. von Hartmnnns. Im Sinne
seines Meisters weist er die Neukantianer zurück, die "nur die reine subjektive
Seite der Kantischen Philosophie herausgekehrt und eben sie für Kants eigentliche
Meinung ausgegeben haben. . . . Bestände Kants eigentliche Leistung wirklich
in der Begründung jenes Subjektivismus, dann wäre aus objektiven Gründen
gar nicht einzusehen, warum diese Philosophen so viel Aufhebens von Kant
wachen, weil er alsdann in der That nichts wesentlich andres vorgebracht
hätte, als was schon vor ihm Berkeley gelehrt hat, und man konnte es dann
höchstens nur ans dem Nationalgefühl erklären, wenn sie den Deutschen Kant
dem Engländer Berkeley vorziehen. Nun läuft aber thatsächlich in Kant neben
dem rein subjektiven Idealismus, den er philosophisch zu begründen versucht
hat, mich ein transzendentaler Realismus unvermittelt her, dessen Begründung



*) Im Vorwort zum zweiten Bande des Ko>"mentars zu Kan es Kritik der reine n
Vernunft, der voriges Jahr bei der Deutschen Verlagsgesellschaft Union <Stuttgart, Berlin,
Leipzig) erschiene" ist. Was überhaupt in der Kritik der reinen Vernunft verstanden werden
kann, wird durch Baihingers ausgezeichnetes Werk verständlich.
Zur Naturgeschichte des Pessimismus

sondern durch die von seiner Galle gefärbte Brille konnte er nur ein ebenso
grausames als dummes Scheusal sehen.

Was die Körperwelt anlangt, so haben die seitdem angestellten Unter¬
suchungen der Physiologen, Chemiker und Physiker vollends klar gemacht, wie
sehr die Engländer und Kant Recht hatten, wenn sie lehrten, daß der Mensch
von ihr nichts wahrnehme als die wechselnden Zustände, die sie in seiner
Seele hervorbringt. Und mit diesem „die sie in seiner Seele hervorbringt"
ist zugleich der Widerspruch überwunden, den nur müßige Grübelei zwischen
der philosophischen und der gewöhnlichen Auffassung der Außenwelt herauS-
gediftelt hat. Der Gebildete weiß, daß der Geschmack, der Geruch, die Farbe
und die Zähigkeit des Beefsteaks, das er genießt, nur in seiner Vorstellung
bestehen, waS alles dem Ungebildeten, unbeschadet feiner Gaumenlust und
seiner Verdauung, zeitlebens unbekannt bleibt, aber er würde ein Narr sein,
wenn er sich den Kopf darüber zerbrechen wollte, wie wohl der dieses Beef¬
steak ausmachende Atvmhaufe einem anders organisirten Wesen oder dem ab¬
soluten Geiste schmecken, riechen und aussehen mochte, oder was er an sich
ist ohne Beziehung auf ein Wesen, von dem er durch irgend einen Sinn wahr¬
genommen wird. Es ist kein Wunder, daß Kant in einer Zeit, wo man in
dieser Unterscheidung des Dinges an sich von seinem Bilde in unsrer Seele
noch nicht geübt war, sich in allerlei Widersprüche verwickelte, und Vaihinger
nennt denn auch die Kritik der reinen Vernunft das genialste und zugleich
das widerspruchvollste Werk der ganzen Geschichte der Philosophie/")

Kant wird den Subjektivismus ungefähr fo gemeint haben, wie ihn später
Lotze gemeint hat und wie nur ihn meinen, und wird nur das rechte Wort
nicht gefunden haben, die scheinbar unvereinbarer Elemente seiner Auffassung
zu vereinigen. Ähnlich urteilt ein Schüler E. von Hartmnnns. Im Sinne
seines Meisters weist er die Neukantianer zurück, die „nur die reine subjektive
Seite der Kantischen Philosophie herausgekehrt und eben sie für Kants eigentliche
Meinung ausgegeben haben. . . . Bestände Kants eigentliche Leistung wirklich
in der Begründung jenes Subjektivismus, dann wäre aus objektiven Gründen
gar nicht einzusehen, warum diese Philosophen so viel Aufhebens von Kant
wachen, weil er alsdann in der That nichts wesentlich andres vorgebracht
hätte, als was schon vor ihm Berkeley gelehrt hat, und man konnte es dann
höchstens nur ans dem Nationalgefühl erklären, wenn sie den Deutschen Kant
dem Engländer Berkeley vorziehen. Nun läuft aber thatsächlich in Kant neben
dem rein subjektiven Idealismus, den er philosophisch zu begründen versucht
hat, mich ein transzendentaler Realismus unvermittelt her, dessen Begründung



*) Im Vorwort zum zweiten Bande des Ko>»mentars zu Kan es Kritik der reine n
Vernunft, der voriges Jahr bei der Deutschen Verlagsgesellschaft Union <Stuttgart, Berlin,
Leipzig) erschiene» ist. Was überhaupt in der Kritik der reinen Vernunft verstanden werden
kann, wird durch Baihingers ausgezeichnetes Werk verständlich.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/360>, abgerufen am 26.08.2024.