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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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alter Musik haben wir zuerst an Bach erfüllen gelernt. Da es ein Haupt¬
zweck der modernen Musikwissenschaft ist, an dieser Wiederbelebung zu arbeiten,
kann man sagen, daß Bach eine ihrer wichtigsten Grundlagen bilde.

Andrerseits konnte nun bei Bach, Händel und Schütz der Welt zum ersten¬
male ganz augenscheinlich gemacht werde", wie unerläßlich sür das geschicht¬
liche Verständnis einer zurückliegenden künstlerischen Persönlichkeit die genaue
und vollständige Kenntnis aller ihrer Werke ist. Das klingt so selbstver¬
ständlich, daß man Anstand nehmen möchte, es auszusprechen. Aber in Wirk¬
lichkeit glaubten die meisten ohne diese Kenntnis fertig werden zu können. Die
ganze Musikgeschichtschrcibnng unsers Jahrhunderts krankt an diesem Grund¬
übel. Forkel, Burnes. Hawkins. der Padre Martini, diese Historiker des vorigen
Jahrhunderts strebten doch nach Vollständigkeit und wollten schließlich nicht
mehr gegeben haben, als sie hatten. Ihre Nachfahren aber -- den einzigen
Fvtis und für einige Gebiete auch Kiesewetter ausgenommen -- arbeiteten mit
überlieferten, ungeprüfter Meinungen, denen sie zerstreute und unmethodisch
erworbne eigne Kenntnisse beimischten. Auch den reichbegabten Ambros trifft
dieser Vorwurf; gerade er, der für das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert
so manche langvererbte Irrtümer endgiltig beseitigt hat, hätte sehen müssen,
daß eine allgemeine Musikgeschichte so lange nicht geschrieben werden kann,
als man die Thaten der Männer nicht kennt, die die Geschichte gemacht haben.
Liegen diese erst klar und vollständig vor Augen, dann lösen sich die irrigen
Ansichten über sie von selbst in nichts auf. Wenn die Anschauungen über
die genannten drei großen Meister jetzt wesentlich anders geworden sind, als
zu Winterfelds Zeit, so ist das hauptsächlich den Gesamtausgaben ihrer Werke
zu verdanken. Ist durch sie ein fester Grund für die Forschung gewonnen,
so können von ihm aus auch die angrenzenden Gebiete ohne erheblichere Ge¬
fahr betreten werden; die Darstellung der einzelnen Persönlichkeit wächst sich
aus in die ihrer Umgebung, Zeit und Vorzeit: das Licht, an einem Punkte
hell entzündet, wirft seinen Schein in das ringsum lagernde Dunkel.

Wie hoch die Schätze vergangner deutscher Tonkunst überall aufgestapelt
liegen, ist uns auf diese Weise erst deutlich zum Bewußtsein gekommen. Bachs
und Handels Schöpfungen sind wie zwei hohe Berge, von denen das Auge
gewahr werden konnte, wie weit, reich und blühend rings die Welt war.
Sich wieder in den Besitz dessen setzen, was doch uns gehört und nur im
Überfluß der Gegenwart leichtherzig vernachlässigt und vergessen worden war.
erschien uicht nur als natürlicher Wunsch, sondern als nationale Pflicht. Hie
und da wurde Hand angelegt. Es erschienen Dietrich Buxtehudes gesammelte
Orgelwerke (1876), Häßlers "Lustgarten" deutscher mehrstimmiger Gesänge,
Sammlungen von Liedern Ludwig Senff, Heinrich Fluth und andres. Aber
der ungeheuern Stoffmenge gegenüber bedeuteten diese Forderungen wenig.
Um etwas zu schaffen, was zu der Größe der Aufgabe nicht in allzu starkem


alter Musik haben wir zuerst an Bach erfüllen gelernt. Da es ein Haupt¬
zweck der modernen Musikwissenschaft ist, an dieser Wiederbelebung zu arbeiten,
kann man sagen, daß Bach eine ihrer wichtigsten Grundlagen bilde.

Andrerseits konnte nun bei Bach, Händel und Schütz der Welt zum ersten¬
male ganz augenscheinlich gemacht werde«, wie unerläßlich sür das geschicht¬
liche Verständnis einer zurückliegenden künstlerischen Persönlichkeit die genaue
und vollständige Kenntnis aller ihrer Werke ist. Das klingt so selbstver¬
ständlich, daß man Anstand nehmen möchte, es auszusprechen. Aber in Wirk¬
lichkeit glaubten die meisten ohne diese Kenntnis fertig werden zu können. Die
ganze Musikgeschichtschrcibnng unsers Jahrhunderts krankt an diesem Grund¬
übel. Forkel, Burnes. Hawkins. der Padre Martini, diese Historiker des vorigen
Jahrhunderts strebten doch nach Vollständigkeit und wollten schließlich nicht
mehr gegeben haben, als sie hatten. Ihre Nachfahren aber — den einzigen
Fvtis und für einige Gebiete auch Kiesewetter ausgenommen — arbeiteten mit
überlieferten, ungeprüfter Meinungen, denen sie zerstreute und unmethodisch
erworbne eigne Kenntnisse beimischten. Auch den reichbegabten Ambros trifft
dieser Vorwurf; gerade er, der für das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert
so manche langvererbte Irrtümer endgiltig beseitigt hat, hätte sehen müssen,
daß eine allgemeine Musikgeschichte so lange nicht geschrieben werden kann,
als man die Thaten der Männer nicht kennt, die die Geschichte gemacht haben.
Liegen diese erst klar und vollständig vor Augen, dann lösen sich die irrigen
Ansichten über sie von selbst in nichts auf. Wenn die Anschauungen über
die genannten drei großen Meister jetzt wesentlich anders geworden sind, als
zu Winterfelds Zeit, so ist das hauptsächlich den Gesamtausgaben ihrer Werke
zu verdanken. Ist durch sie ein fester Grund für die Forschung gewonnen,
so können von ihm aus auch die angrenzenden Gebiete ohne erheblichere Ge¬
fahr betreten werden; die Darstellung der einzelnen Persönlichkeit wächst sich
aus in die ihrer Umgebung, Zeit und Vorzeit: das Licht, an einem Punkte
hell entzündet, wirft seinen Schein in das ringsum lagernde Dunkel.

Wie hoch die Schätze vergangner deutscher Tonkunst überall aufgestapelt
liegen, ist uns auf diese Weise erst deutlich zum Bewußtsein gekommen. Bachs
und Handels Schöpfungen sind wie zwei hohe Berge, von denen das Auge
gewahr werden konnte, wie weit, reich und blühend rings die Welt war.
Sich wieder in den Besitz dessen setzen, was doch uns gehört und nur im
Überfluß der Gegenwart leichtherzig vernachlässigt und vergessen worden war.
erschien uicht nur als natürlicher Wunsch, sondern als nationale Pflicht. Hie
und da wurde Hand angelegt. Es erschienen Dietrich Buxtehudes gesammelte
Orgelwerke (1876), Häßlers „Lustgarten" deutscher mehrstimmiger Gesänge,
Sammlungen von Liedern Ludwig Senff, Heinrich Fluth und andres. Aber
der ungeheuern Stoffmenge gegenüber bedeuteten diese Forderungen wenig.
Um etwas zu schaffen, was zu der Größe der Aufgabe nicht in allzu starkem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/29>, abgerufen am 23.07.2024.