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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Denkmäler deutscher Tonkunst

Kirnbergers Ausgabe der Haßlerschen Psalmen und christlichen Gesänge (1777)
ist eine vereinzelte Erscheinung, die nicht in der Stimmung der Zeit, sondern
in der Laune der Prinzessin Amalie von Preußen ihren Grund hatte. Erst
nach den Befreiungskriegen äußert sich das Bedürfnis stärker, die Tonkunst
der Väter würdigen zu lernen. Es erscheinen Sammlungen älterer Musik mit
geschichtlichen Notizen über ihre Verfasser. Unter den ersten, die solche ver¬
anstalten, befindet sich die Akademie der Künste zu Berlin, und auch die Fort¬
setzung dieser Bestrebungen hat immer in Berlin und in der preußischen Re¬
gierung einen ihrer festesten Stützpunkte gehabt. 1835 machte Rochlitz mit
einem dreibündigen Sammelwerke einen Versuch in größerm Maßstabe, die
Schätze der Vergangenheit zurückzugewinnen, und wenn uns dieser auch jetzt
sehr mangelhaft erscheint, so beweist er doch, daß die Strömung zur Ver¬
gangenheit hin stärker zu werden anfing. Getragen von ihr, ist Winterfeld
groß geworden. Seine ersten Arbeiten über Palestrina und Giovanni Gabrieli
verraten die katholisirenden Neigungen unsrer Romantiker. In seinem Haupt¬
werke treten sie nicht mehr hervor, während die gründlichen und für damalige
Anschcinungen unerhört umfassenden Studien, die Winterfeld namentlich für
Gabrieli gemacht hatte, auch der Darstellung des evangelischen Kirchengesangs
sehr zu gute kamen. Aus welchem Geiste übrigens auch diese geboren war,
beweist die Widmung an den Romantiker auf dem Throne, Friedrich Wilhelm IV.
von Preußen.

Mehr als ein halbes tausend Tonstücke des sechzehnten, siebzehnten und
achtzehnten Jahrhunderts hat Winterfeld dem Werke über den evangelischen
Kirchengesang beigegeben. Fast alle waren für seine Zeit etwas neues und
von ihm zuerst aus den Quellen geschöpftes. Dem Zwecke seiner Arbeit ge¬
mäß konnten sie natürlich nur als Beweisstücke gelten für die Eigentümlich¬
keit der betreffenden Komponisten; diese oder auch nur einen unter ihnen in
seinen Werken vollständig wieder hervortreten zu lassen, war Winterfelds Aufgabe
nicht. Wohl aber hat er zu solchen Unternehmungen angeregt. G. W. Teschner
würde nicht auf den Gedanken gekommen sein, Johannes Eccards Preußische
Festlieder und Geistliche Lieder 1858 und 1860 vollständig in Partitur heraus¬
zugeben, wenn Winterfeld nicht den Komponisten gleichsam neu entdeckt und
in seiner zarten Schönheit dem Herzen des deutschen Volks wieder nahe ge¬
bracht hätte.

Aber noch ehe diese Veröffentlichung gemacht wurde, war ein andres
Unternehmen begründet worden, das an musikwissenschaftlicher Bedeutung den
Arbeiten Winterfelds wenigstens gleichkommen sollte. 1850 entstand in Leipzig
die Bach-Gesellschaft. Der Todestag Johann Sebastian Bachs sollte nicht
zum Hundertstenmale wiedergekehrt sein, ohne zu einer Gesamtausgabe seiner
bis dahin größtenteils unbekannt gebliebner Werke Veranlassung gegeben zu
haben. Einem der größten und tiefsten deutschen Meister in seinen Werken


Denkmäler deutscher Tonkunst

Kirnbergers Ausgabe der Haßlerschen Psalmen und christlichen Gesänge (1777)
ist eine vereinzelte Erscheinung, die nicht in der Stimmung der Zeit, sondern
in der Laune der Prinzessin Amalie von Preußen ihren Grund hatte. Erst
nach den Befreiungskriegen äußert sich das Bedürfnis stärker, die Tonkunst
der Väter würdigen zu lernen. Es erscheinen Sammlungen älterer Musik mit
geschichtlichen Notizen über ihre Verfasser. Unter den ersten, die solche ver¬
anstalten, befindet sich die Akademie der Künste zu Berlin, und auch die Fort¬
setzung dieser Bestrebungen hat immer in Berlin und in der preußischen Re¬
gierung einen ihrer festesten Stützpunkte gehabt. 1835 machte Rochlitz mit
einem dreibündigen Sammelwerke einen Versuch in größerm Maßstabe, die
Schätze der Vergangenheit zurückzugewinnen, und wenn uns dieser auch jetzt
sehr mangelhaft erscheint, so beweist er doch, daß die Strömung zur Ver¬
gangenheit hin stärker zu werden anfing. Getragen von ihr, ist Winterfeld
groß geworden. Seine ersten Arbeiten über Palestrina und Giovanni Gabrieli
verraten die katholisirenden Neigungen unsrer Romantiker. In seinem Haupt¬
werke treten sie nicht mehr hervor, während die gründlichen und für damalige
Anschcinungen unerhört umfassenden Studien, die Winterfeld namentlich für
Gabrieli gemacht hatte, auch der Darstellung des evangelischen Kirchengesangs
sehr zu gute kamen. Aus welchem Geiste übrigens auch diese geboren war,
beweist die Widmung an den Romantiker auf dem Throne, Friedrich Wilhelm IV.
von Preußen.

Mehr als ein halbes tausend Tonstücke des sechzehnten, siebzehnten und
achtzehnten Jahrhunderts hat Winterfeld dem Werke über den evangelischen
Kirchengesang beigegeben. Fast alle waren für seine Zeit etwas neues und
von ihm zuerst aus den Quellen geschöpftes. Dem Zwecke seiner Arbeit ge¬
mäß konnten sie natürlich nur als Beweisstücke gelten für die Eigentümlich¬
keit der betreffenden Komponisten; diese oder auch nur einen unter ihnen in
seinen Werken vollständig wieder hervortreten zu lassen, war Winterfelds Aufgabe
nicht. Wohl aber hat er zu solchen Unternehmungen angeregt. G. W. Teschner
würde nicht auf den Gedanken gekommen sein, Johannes Eccards Preußische
Festlieder und Geistliche Lieder 1858 und 1860 vollständig in Partitur heraus¬
zugeben, wenn Winterfeld nicht den Komponisten gleichsam neu entdeckt und
in seiner zarten Schönheit dem Herzen des deutschen Volks wieder nahe ge¬
bracht hätte.

Aber noch ehe diese Veröffentlichung gemacht wurde, war ein andres
Unternehmen begründet worden, das an musikwissenschaftlicher Bedeutung den
Arbeiten Winterfelds wenigstens gleichkommen sollte. 1850 entstand in Leipzig
die Bach-Gesellschaft. Der Todestag Johann Sebastian Bachs sollte nicht
zum Hundertstenmale wiedergekehrt sein, ohne zu einer Gesamtausgabe seiner
bis dahin größtenteils unbekannt gebliebner Werke Veranlassung gegeben zu
haben. Einem der größten und tiefsten deutschen Meister in seinen Werken


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/26>, abgerufen am 23.07.2024.