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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Innere Kolonisation

sationsgesetzc geeignet, sowohl die Zustände der nächstbeteiligten östlichen Pro¬
vinzen als mittelbar den ganzen nationalen Organismus bis in die weitesten
Verzweigungen hinein glücklich zu beeinflussen." Diese Ansicht von der Be¬
deutung des Kolonisationswerkes, sowie was der Verfasser weiter über die Ur¬
sachen der Entvölkerung des deutschen Nordostens und über die zweckmäßigste
Art der Wiederbevölkerung sagt, deckt sich so vollständig mit unsrer eignen
Auffassung, daß es uns doppelte Genugthuung gewährt, über die Ergebnisse
seiner Untersuchungen berichten zu können.

Zunächst wird in Gestalt einer tabellarischen Übersicht ein Bild der inner-
deutschen Völkerwanderung in den Jahren 1885 bis 1890 gegeben. Die deutschen
Landschaften werden zu diesem Zweck in vier Gruppen geteilt. Die ersten drei
haben durch Abzug verloren, und zwar die erste (die sechs östlichen Provinzen
Preußens mit Ausnahme des Regierungsbezirks Potsdam) 639104 Köpfe,
die zweite (Schleswig-Holstein, Hannover, Oldenburg, Braunschweig, Hessen-
Nassau. Provinz Sachsen, Thüringen) 80449, die dritte (Süddeutschland)
153267 Köpfe. In Prozenten des Geburtenüberschusses betragen diese Ver¬
luste 75,04, 13,15 und 30,61, sodaß also in der ersten Gruppe der wirkliche
Bevölkerungszuwachs noch nicht ein Viertel deö natürlichen betrügt. In Ost¬
preußen übersteigt sogar der Verlust den Geburtenüberschuß, insofern er
100,62 Prozent von ihm ausmacht. Die vierte Gruppe umfaßt die Reichs-
hauptstadt, den Regierungsbezirk Potsdam, der ja die Berliner Vororte ent¬
hält, die Hansestädte, das Königreich Sachsen, Westfalen und die Rheinprovinz;
hier überstieg der Zuwachs durch Einwanderung deu Geburtenüberschuß um
542503 Köpfe oder 57,86 Prozent. "Die Differenz zwischen den Wanderungs¬
verlusten der drei ersten und der Zuwanderung der letzten Gruppe ist mit
33000V Köpfen auf Rechnung der überseeischen Auswanderung zu setzen."

Das platte Land, so bemerkt der Verfasser zu diesem Ergebnis, "ist stets
die Quelle gewesen, aus der die Städte frische Kräfte gewonnen haben, und
das ständige Abströmen von Angehörigen der Landbevölkerung in die Sitze
des gewerblichen und kommerziellen Lebens ist in jedem vollständig besiedelten
Lande eine Notwendigkeit, weil die Bodenkultnr, als an eine gegebne Land¬
stände gefesselt, niemals einer gleich schnellen Ausdehnung der Prvduktions-
thätigkeit fähig ist wie die Industrie. Aber eine Völkerwanderung nach Art
derjenigen, die gegenwärtig den ganzen Osten ergriffen hat, geht weit über
dieses natürlich bedingte Maß hinaus. Sie läßt auf ein tiefes Mißbehagen
ganzer Volksklassen, ans ein Kranksein des gesellschaftlichenOrganisinus schließen."
Der oberflächlichen Ansicht, die "Vergnüguugs- und Genußsucht" der ländlichen
Arbeiter sei daran schuld, tritt er mit der Bemerkung entgegen: "Gewiß müssen
die Reize des städtischen Lebens für Menschen, die in dem engen und gleich¬
förmigen Leben eines Gutsbezirks aufgewachsen sind, eine besonders starke An-
ziehungskraft haben, so wenig verlockendes die Position eines städtischen Ar-


Innere Kolonisation

sationsgesetzc geeignet, sowohl die Zustände der nächstbeteiligten östlichen Pro¬
vinzen als mittelbar den ganzen nationalen Organismus bis in die weitesten
Verzweigungen hinein glücklich zu beeinflussen." Diese Ansicht von der Be¬
deutung des Kolonisationswerkes, sowie was der Verfasser weiter über die Ur¬
sachen der Entvölkerung des deutschen Nordostens und über die zweckmäßigste
Art der Wiederbevölkerung sagt, deckt sich so vollständig mit unsrer eignen
Auffassung, daß es uns doppelte Genugthuung gewährt, über die Ergebnisse
seiner Untersuchungen berichten zu können.

Zunächst wird in Gestalt einer tabellarischen Übersicht ein Bild der inner-
deutschen Völkerwanderung in den Jahren 1885 bis 1890 gegeben. Die deutschen
Landschaften werden zu diesem Zweck in vier Gruppen geteilt. Die ersten drei
haben durch Abzug verloren, und zwar die erste (die sechs östlichen Provinzen
Preußens mit Ausnahme des Regierungsbezirks Potsdam) 639104 Köpfe,
die zweite (Schleswig-Holstein, Hannover, Oldenburg, Braunschweig, Hessen-
Nassau. Provinz Sachsen, Thüringen) 80449, die dritte (Süddeutschland)
153267 Köpfe. In Prozenten des Geburtenüberschusses betragen diese Ver¬
luste 75,04, 13,15 und 30,61, sodaß also in der ersten Gruppe der wirkliche
Bevölkerungszuwachs noch nicht ein Viertel deö natürlichen betrügt. In Ost¬
preußen übersteigt sogar der Verlust den Geburtenüberschuß, insofern er
100,62 Prozent von ihm ausmacht. Die vierte Gruppe umfaßt die Reichs-
hauptstadt, den Regierungsbezirk Potsdam, der ja die Berliner Vororte ent¬
hält, die Hansestädte, das Königreich Sachsen, Westfalen und die Rheinprovinz;
hier überstieg der Zuwachs durch Einwanderung deu Geburtenüberschuß um
542503 Köpfe oder 57,86 Prozent. „Die Differenz zwischen den Wanderungs¬
verlusten der drei ersten und der Zuwanderung der letzten Gruppe ist mit
33000V Köpfen auf Rechnung der überseeischen Auswanderung zu setzen."

Das platte Land, so bemerkt der Verfasser zu diesem Ergebnis, „ist stets
die Quelle gewesen, aus der die Städte frische Kräfte gewonnen haben, und
das ständige Abströmen von Angehörigen der Landbevölkerung in die Sitze
des gewerblichen und kommerziellen Lebens ist in jedem vollständig besiedelten
Lande eine Notwendigkeit, weil die Bodenkultnr, als an eine gegebne Land¬
stände gefesselt, niemals einer gleich schnellen Ausdehnung der Prvduktions-
thätigkeit fähig ist wie die Industrie. Aber eine Völkerwanderung nach Art
derjenigen, die gegenwärtig den ganzen Osten ergriffen hat, geht weit über
dieses natürlich bedingte Maß hinaus. Sie läßt auf ein tiefes Mißbehagen
ganzer Volksklassen, ans ein Kranksein des gesellschaftlichenOrganisinus schließen."
Der oberflächlichen Ansicht, die „Vergnüguugs- und Genußsucht" der ländlichen
Arbeiter sei daran schuld, tritt er mit der Bemerkung entgegen: „Gewiß müssen
die Reize des städtischen Lebens für Menschen, die in dem engen und gleich¬
förmigen Leben eines Gutsbezirks aufgewachsen sind, eine besonders starke An-
ziehungskraft haben, so wenig verlockendes die Position eines städtischen Ar-


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[0254] Innere Kolonisation sationsgesetzc geeignet, sowohl die Zustände der nächstbeteiligten östlichen Pro¬ vinzen als mittelbar den ganzen nationalen Organismus bis in die weitesten Verzweigungen hinein glücklich zu beeinflussen." Diese Ansicht von der Be¬ deutung des Kolonisationswerkes, sowie was der Verfasser weiter über die Ur¬ sachen der Entvölkerung des deutschen Nordostens und über die zweckmäßigste Art der Wiederbevölkerung sagt, deckt sich so vollständig mit unsrer eignen Auffassung, daß es uns doppelte Genugthuung gewährt, über die Ergebnisse seiner Untersuchungen berichten zu können. Zunächst wird in Gestalt einer tabellarischen Übersicht ein Bild der inner- deutschen Völkerwanderung in den Jahren 1885 bis 1890 gegeben. Die deutschen Landschaften werden zu diesem Zweck in vier Gruppen geteilt. Die ersten drei haben durch Abzug verloren, und zwar die erste (die sechs östlichen Provinzen Preußens mit Ausnahme des Regierungsbezirks Potsdam) 639104 Köpfe, die zweite (Schleswig-Holstein, Hannover, Oldenburg, Braunschweig, Hessen- Nassau. Provinz Sachsen, Thüringen) 80449, die dritte (Süddeutschland) 153267 Köpfe. In Prozenten des Geburtenüberschusses betragen diese Ver¬ luste 75,04, 13,15 und 30,61, sodaß also in der ersten Gruppe der wirkliche Bevölkerungszuwachs noch nicht ein Viertel deö natürlichen betrügt. In Ost¬ preußen übersteigt sogar der Verlust den Geburtenüberschuß, insofern er 100,62 Prozent von ihm ausmacht. Die vierte Gruppe umfaßt die Reichs- hauptstadt, den Regierungsbezirk Potsdam, der ja die Berliner Vororte ent¬ hält, die Hansestädte, das Königreich Sachsen, Westfalen und die Rheinprovinz; hier überstieg der Zuwachs durch Einwanderung deu Geburtenüberschuß um 542503 Köpfe oder 57,86 Prozent. „Die Differenz zwischen den Wanderungs¬ verlusten der drei ersten und der Zuwanderung der letzten Gruppe ist mit 33000V Köpfen auf Rechnung der überseeischen Auswanderung zu setzen." Das platte Land, so bemerkt der Verfasser zu diesem Ergebnis, „ist stets die Quelle gewesen, aus der die Städte frische Kräfte gewonnen haben, und das ständige Abströmen von Angehörigen der Landbevölkerung in die Sitze des gewerblichen und kommerziellen Lebens ist in jedem vollständig besiedelten Lande eine Notwendigkeit, weil die Bodenkultnr, als an eine gegebne Land¬ stände gefesselt, niemals einer gleich schnellen Ausdehnung der Prvduktions- thätigkeit fähig ist wie die Industrie. Aber eine Völkerwanderung nach Art derjenigen, die gegenwärtig den ganzen Osten ergriffen hat, geht weit über dieses natürlich bedingte Maß hinaus. Sie läßt auf ein tiefes Mißbehagen ganzer Volksklassen, ans ein Kranksein des gesellschaftlichenOrganisinus schließen." Der oberflächlichen Ansicht, die „Vergnüguugs- und Genußsucht" der ländlichen Arbeiter sei daran schuld, tritt er mit der Bemerkung entgegen: „Gewiß müssen die Reize des städtischen Lebens für Menschen, die in dem engen und gleich¬ förmigen Leben eines Gutsbezirks aufgewachsen sind, eine besonders starke An- ziehungskraft haben, so wenig verlockendes die Position eines städtischen Ar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/254>, abgerufen am 03.07.2024.