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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Woche in Leipzig die Antigone "interpretirt" hat, "interpretirt" sie ein einem Abend dieser
Woche den Ödipns in (oder vielmehr nuf) Kolonos. Wie sie dus anfängt? In, das wissen
wir nicht. Jedenfalls sollten sich die Leipziger Gymnasiallehrer, die ein ganzes Semester dazu
brauchen, ihren Primanern eine Sophokleische Tragödie zu interpretiren, das Kunststück einmal
ansehen. Der "Ödipns aus Kolonos" ist übrigens "die Tragödie der Tvdessehnsncht und von
der reinsten, ergreifendsten Lyrik durchfurcht." Alle diese interessanten Dinge entnehmen wir
dem Leipziger Tageblatt vom 12. März.




Wie ein einzelner Buchstabe entstellend ans den Sinn und die Schönheit eines Liedes
einwirken kann, das zeigt Wilhelm Müllers überall bekanntes und gesungenes Lied: "Im Krug
zum grünen Kranze." In allen bekannten Kommersbüchern beginnt die zweite Strophe:


Ein Glas ward eingegossen,
Das wurde nimmer leer.

Wie aber die Handschrift des Dichters zeigt lvergl. Leixners Litteraturgeschichte, Seite 885),
soll es heißen:


Ein Glas war eingegossen,
Das wurde nimmer leer,

d. h. der Wandrer saß schon vor Eintritt des zweiten Gastes trübsinnig vor dem vollen
Glase, ohne zu trinken, wahrend es nach der ersten Lesart scheint, als ob erst nach dem Ein¬
tritt des zweiten Gastes da? Glas gefüllt worden sei. Es wird jedem denkenden Leser so¬
fort klar sein, daß durch diese Änderung der Sinn vollständig entstellt wird.




Für Liszts Faustshmphouie scheint nun endlich die Zeit des Verständnisses gekommen
zu sein.

So berichtet einer von den Musikschreibern des Leipziger Tageblatts. Der muß es
ja wisse".

Wahrhaft rührend ist es, zu sehen, wie unsre jüdischen Mitbürger für die Ausstattung
unsrer christliche" Konfirmanden besorgt sind; in ihren Schaufenstern giebt es jetzt nur noch
Koufirmandenanzüge, Koufirmandeustiefel (oder vielmehr -Stiefeln!), Konfirmcindeuhüte, Kon-
firmandenhandschnhe, Koufirmandcnuhren u. s. w. Habt Dank, ihr Edeln! Was sollte aus
unser" Konfirmanden werden, wenn ihr nicht wäret!




In den Leipziger Pferdebahnwagen steht seit kurzem angeschlagen: "Ans Rücksicht sür
Mitfahrende ist das Spucken in den Wagen untersagt."

Der Anschlag nützt natürlich nicht das geringste, und das ist eine Schande. Daß er
aber überhaupt nötig gewesen ist, ist eine uoch größere Schande. Freilich berührt er uur
eine einzelne aus einer ganzen Reihe vou Unsitten, die mit der eigentümlichen Verbindung
von LandskuechtSweseu und Geckeutum in der deutscheu Männerwelt, die iunu mit dem Mode¬
wort "schneidig" bezeichnet, aufgekommen sind. "schneidig" ist eben nichts weiter als "roh,"
mit etwas Firnis darüber.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Perlag vou Fr. Wilh. Grunow in Leipzig - Druck vo" Carl Marguart in Leipzig

Woche in Leipzig die Antigone „interpretirt" hat, „interpretirt" sie ein einem Abend dieser
Woche den Ödipns in (oder vielmehr nuf) Kolonos. Wie sie dus anfängt? In, das wissen
wir nicht. Jedenfalls sollten sich die Leipziger Gymnasiallehrer, die ein ganzes Semester dazu
brauchen, ihren Primanern eine Sophokleische Tragödie zu interpretiren, das Kunststück einmal
ansehen. Der „Ödipns aus Kolonos" ist übrigens „die Tragödie der Tvdessehnsncht und von
der reinsten, ergreifendsten Lyrik durchfurcht." Alle diese interessanten Dinge entnehmen wir
dem Leipziger Tageblatt vom 12. März.




Wie ein einzelner Buchstabe entstellend ans den Sinn und die Schönheit eines Liedes
einwirken kann, das zeigt Wilhelm Müllers überall bekanntes und gesungenes Lied: „Im Krug
zum grünen Kranze." In allen bekannten Kommersbüchern beginnt die zweite Strophe:


Ein Glas ward eingegossen,
Das wurde nimmer leer.

Wie aber die Handschrift des Dichters zeigt lvergl. Leixners Litteraturgeschichte, Seite 885),
soll es heißen:


Ein Glas war eingegossen,
Das wurde nimmer leer,

d. h. der Wandrer saß schon vor Eintritt des zweiten Gastes trübsinnig vor dem vollen
Glase, ohne zu trinken, wahrend es nach der ersten Lesart scheint, als ob erst nach dem Ein¬
tritt des zweiten Gastes da? Glas gefüllt worden sei. Es wird jedem denkenden Leser so¬
fort klar sein, daß durch diese Änderung der Sinn vollständig entstellt wird.




Für Liszts Faustshmphouie scheint nun endlich die Zeit des Verständnisses gekommen
zu sein.

So berichtet einer von den Musikschreibern des Leipziger Tageblatts. Der muß es
ja wisse».

Wahrhaft rührend ist es, zu sehen, wie unsre jüdischen Mitbürger für die Ausstattung
unsrer christliche» Konfirmanden besorgt sind; in ihren Schaufenstern giebt es jetzt nur noch
Koufirmandenanzüge, Koufirmandeustiefel (oder vielmehr -Stiefeln!), Konfirmcindeuhüte, Kon-
firmandenhandschnhe, Koufirmandcnuhren u. s. w. Habt Dank, ihr Edeln! Was sollte aus
unser» Konfirmanden werden, wenn ihr nicht wäret!




In den Leipziger Pferdebahnwagen steht seit kurzem angeschlagen: „Ans Rücksicht sür
Mitfahrende ist das Spucken in den Wagen untersagt."

Der Anschlag nützt natürlich nicht das geringste, und das ist eine Schande. Daß er
aber überhaupt nötig gewesen ist, ist eine uoch größere Schande. Freilich berührt er uur
eine einzelne aus einer ganzen Reihe vou Unsitten, die mit der eigentümlichen Verbindung
von LandskuechtSweseu und Geckeutum in der deutscheu Männerwelt, die iunu mit dem Mode¬
wort „schneidig" bezeichnet, aufgekommen sind. „schneidig" ist eben nichts weiter als „roh,"
mit etwas Firnis darüber.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Perlag vou Fr. Wilh. Grunow in Leipzig - Druck vo» Carl Marguart in Leipzig
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[0610] Woche in Leipzig die Antigone „interpretirt" hat, „interpretirt" sie ein einem Abend dieser Woche den Ödipns in (oder vielmehr nuf) Kolonos. Wie sie dus anfängt? In, das wissen wir nicht. Jedenfalls sollten sich die Leipziger Gymnasiallehrer, die ein ganzes Semester dazu brauchen, ihren Primanern eine Sophokleische Tragödie zu interpretiren, das Kunststück einmal ansehen. Der „Ödipns aus Kolonos" ist übrigens „die Tragödie der Tvdessehnsncht und von der reinsten, ergreifendsten Lyrik durchfurcht." Alle diese interessanten Dinge entnehmen wir dem Leipziger Tageblatt vom 12. März. Wie ein einzelner Buchstabe entstellend ans den Sinn und die Schönheit eines Liedes einwirken kann, das zeigt Wilhelm Müllers überall bekanntes und gesungenes Lied: „Im Krug zum grünen Kranze." In allen bekannten Kommersbüchern beginnt die zweite Strophe: Ein Glas ward eingegossen, Das wurde nimmer leer. Wie aber die Handschrift des Dichters zeigt lvergl. Leixners Litteraturgeschichte, Seite 885), soll es heißen: Ein Glas war eingegossen, Das wurde nimmer leer, d. h. der Wandrer saß schon vor Eintritt des zweiten Gastes trübsinnig vor dem vollen Glase, ohne zu trinken, wahrend es nach der ersten Lesart scheint, als ob erst nach dem Ein¬ tritt des zweiten Gastes da? Glas gefüllt worden sei. Es wird jedem denkenden Leser so¬ fort klar sein, daß durch diese Änderung der Sinn vollständig entstellt wird. Für Liszts Faustshmphouie scheint nun endlich die Zeit des Verständnisses gekommen zu sein. So berichtet einer von den Musikschreibern des Leipziger Tageblatts. Der muß es ja wisse». Wahrhaft rührend ist es, zu sehen, wie unsre jüdischen Mitbürger für die Ausstattung unsrer christliche» Konfirmanden besorgt sind; in ihren Schaufenstern giebt es jetzt nur noch Koufirmandenanzüge, Koufirmandeustiefel (oder vielmehr -Stiefeln!), Konfirmcindeuhüte, Kon- firmandenhandschnhe, Koufirmandcnuhren u. s. w. Habt Dank, ihr Edeln! Was sollte aus unser» Konfirmanden werden, wenn ihr nicht wäret! In den Leipziger Pferdebahnwagen steht seit kurzem angeschlagen: „Ans Rücksicht sür Mitfahrende ist das Spucken in den Wagen untersagt." Der Anschlag nützt natürlich nicht das geringste, und das ist eine Schande. Daß er aber überhaupt nötig gewesen ist, ist eine uoch größere Schande. Freilich berührt er uur eine einzelne aus einer ganzen Reihe vou Unsitten, die mit der eigentümlichen Verbindung von LandskuechtSweseu und Geckeutum in der deutscheu Männerwelt, die iunu mit dem Mode¬ wort „schneidig" bezeichnet, aufgekommen sind. „schneidig" ist eben nichts weiter als „roh," mit etwas Firnis darüber. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Perlag vou Fr. Wilh. Grunow in Leipzig - Druck vo» Carl Marguart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/610>, abgerufen am 26.06.2024.