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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Kellers Nachlaßschriften

nur einzelne vertraute Freunde des Dichters kennen gelernt haben, für die
meisten Leser völlige Neuheiten sein. Denn die beiden schweizerischen Erzäh¬
lungen "Verschiedne Freiheitskämpfer" und "Der Wahltag," die in Verthvld
Auerbachs Volkskalendern für 1803 und 1866 gestanden haben, sind wohl
anch den damaligen Lesern dieses Kalenders aus dem Gedächtnis gekommen.
Namentlich die erstgenannte ist in ihrer Art ein Prachtstück der Kellerschen
Muse: der Gegensatz zweier Welten in den Gestalten des republikanischen
Soldaten Peter Dumanet und des tapfern Unterwaldners Aloisi Allweger,
die wunderbare Mischung echten Humors und tieftragischen Ernstes, das stille
Feuer, das die kulturgeschichtlichen Motive und Elemente der Geschichte mit
den echtpoetischen zu einem Gebilde verschmilzt, alles entstammt der frischen
Ursprünglichkeit, die Keller mitten in der reichsten Bildung bewahrt hat.

Der weitaus größte Teil des Buches enthält eine Folge von Aufsätzen
verschiedner Art, von denen die ältesten den letzten vierziger, die jüngsten den
letzten achtziger Jahren angehören, sodaß sie in engerem Rahmen die ganze
Entwicklung Kellers wiederspiegeln. In den Kritiken von Jeremias Gotthelfs
Schriften (aus deu "Blättern für litterarische Unterhaltung") hallt noch ein
Nachklang jenes jugendlichen Radikalismus, mit dem sich der werdende Dichter
den politischen Lyrikern aus Herweghs Gefolgschaft angeschlossen hatte. Und
doch, so energisch Keller das Recht der Zeit gegen den zäh konservativen Pfarrer
und Volksschriftsteller zu wahren trachtet, so polternd er wider die wirkliche
und vermeinte konservative Verstocktheit Gotthelfs zu Felde zieht, wie gerecht
und gesund zeigt sich doch seine Grundanschauung! So fremd ihm ein strenges
positives Christentum ist, so räumt er doch unumwunden ein: "Etwas ist besser
als gar nichts, und mit einem Menschen, welcher den gekreuzigten Gottmenschen
verehrt, ist immer noch mehr anzufangen, als mit einem, der weder an die
Menschen noch an die Götter glaubt," und ruft nach allein reichlich gespen¬
deten Tadel doch in ehrlicher Begeisterung aus: "Daß Gotthelf ein vortreff¬
licher Maler des Volkslebens, der Bauerndiplomatik, der Dorfintriguen, des
Familienglücks und Familienleids ist, ist schon gesagt und versteht sich eigent¬
lich bei vorliegendem Stoffe von selbst. Aber wenn wir doch noch von einer
abgeschlossenen Volkspoesie sprechen müssen: er hat Vorzüge darüber hinaus,
welche in jeder Gattung, much der höchsten, wenn es eine giebt, nur dem be¬
vorzugten Talente eigen sind." Auch zwei Jahre später (1851) und sechs Jahre
später (1855) polemisirt Keller heftig, stellenweise allzu heftig gegen Gotthelfs
Tendeuzschrifteu "Die Käserei in der Vehfreude" und "Zeitgeist und Berner
Geist," doch unmittelbar nach Gotthelfs Tode bekennt er, "daß er ohne alle
Ausnahme das größte epische Talent war, welches seit langer Zeit und viel¬
leicht für lange Zeit lebte. Jeder, der noch gut und recht zu lesen versteht
und nicht zu der leider gerade jetzt so großen Zahl derer gehört, die nicht
einmal mehr richtig lesen können vor lauter Alexandrinertum und oft das


Gottfried Kellers Nachlaßschriften

nur einzelne vertraute Freunde des Dichters kennen gelernt haben, für die
meisten Leser völlige Neuheiten sein. Denn die beiden schweizerischen Erzäh¬
lungen „Verschiedne Freiheitskämpfer" und „Der Wahltag," die in Verthvld
Auerbachs Volkskalendern für 1803 und 1866 gestanden haben, sind wohl
anch den damaligen Lesern dieses Kalenders aus dem Gedächtnis gekommen.
Namentlich die erstgenannte ist in ihrer Art ein Prachtstück der Kellerschen
Muse: der Gegensatz zweier Welten in den Gestalten des republikanischen
Soldaten Peter Dumanet und des tapfern Unterwaldners Aloisi Allweger,
die wunderbare Mischung echten Humors und tieftragischen Ernstes, das stille
Feuer, das die kulturgeschichtlichen Motive und Elemente der Geschichte mit
den echtpoetischen zu einem Gebilde verschmilzt, alles entstammt der frischen
Ursprünglichkeit, die Keller mitten in der reichsten Bildung bewahrt hat.

Der weitaus größte Teil des Buches enthält eine Folge von Aufsätzen
verschiedner Art, von denen die ältesten den letzten vierziger, die jüngsten den
letzten achtziger Jahren angehören, sodaß sie in engerem Rahmen die ganze
Entwicklung Kellers wiederspiegeln. In den Kritiken von Jeremias Gotthelfs
Schriften (aus deu „Blättern für litterarische Unterhaltung") hallt noch ein
Nachklang jenes jugendlichen Radikalismus, mit dem sich der werdende Dichter
den politischen Lyrikern aus Herweghs Gefolgschaft angeschlossen hatte. Und
doch, so energisch Keller das Recht der Zeit gegen den zäh konservativen Pfarrer
und Volksschriftsteller zu wahren trachtet, so polternd er wider die wirkliche
und vermeinte konservative Verstocktheit Gotthelfs zu Felde zieht, wie gerecht
und gesund zeigt sich doch seine Grundanschauung! So fremd ihm ein strenges
positives Christentum ist, so räumt er doch unumwunden ein: „Etwas ist besser
als gar nichts, und mit einem Menschen, welcher den gekreuzigten Gottmenschen
verehrt, ist immer noch mehr anzufangen, als mit einem, der weder an die
Menschen noch an die Götter glaubt," und ruft nach allein reichlich gespen¬
deten Tadel doch in ehrlicher Begeisterung aus: „Daß Gotthelf ein vortreff¬
licher Maler des Volkslebens, der Bauerndiplomatik, der Dorfintriguen, des
Familienglücks und Familienleids ist, ist schon gesagt und versteht sich eigent¬
lich bei vorliegendem Stoffe von selbst. Aber wenn wir doch noch von einer
abgeschlossenen Volkspoesie sprechen müssen: er hat Vorzüge darüber hinaus,
welche in jeder Gattung, much der höchsten, wenn es eine giebt, nur dem be¬
vorzugten Talente eigen sind." Auch zwei Jahre später (1851) und sechs Jahre
später (1855) polemisirt Keller heftig, stellenweise allzu heftig gegen Gotthelfs
Tendeuzschrifteu „Die Käserei in der Vehfreude" und „Zeitgeist und Berner
Geist," doch unmittelbar nach Gotthelfs Tode bekennt er, „daß er ohne alle
Ausnahme das größte epische Talent war, welches seit langer Zeit und viel¬
leicht für lange Zeit lebte. Jeder, der noch gut und recht zu lesen versteht
und nicht zu der leider gerade jetzt so großen Zahl derer gehört, die nicht
einmal mehr richtig lesen können vor lauter Alexandrinertum und oft das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/53>, abgerufen am 24.06.2024.