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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Wucher und Abzahlung

Die einschneidendste Neuerung aber will der Entwurf dadurch einführen,
daß er nicht nur bei Darlehns- und sonstigen Kreditgeschäften, sondern ganz
allgemein bei allen Rechtsgeschäften, bei denen der versprochne oder gewährte
Vermögensvorteil in auffälligen Mißverhältnis zur Leistung steht, eine straf¬
bare wucherische Ausbeutung annimmt. Bereits bei der Beratung des be¬
stehenden Wuchergesetzes war angeregt worden, den Wucherbegriff über den
Kreis der Kreditgeschäfte hinaus zu erweitern. Man nahm davon Abstand,
als der sächsische Bevollmächtigte, Generalstaatsanwalt von Schwarze, in seinem
Berichte bei aller Anerkennung des Schntzbedürfuisses der Bevölkerung ent¬
schieden hervorhob, daß es unzulässig erscheine, in die Freiheit der Preis¬
bestimmung einzugreifen, wie dies durch die Ausdehnung des Wnchergesetzes
auf alle Verträge geschehe. Aber auch abgesehen von diesem gewichtigen Be¬
denken, welch unabsehbarer Schaden wird gerade dem ehrlichen Handel und
Verkehr zugefügt, wenn dem böswilligen Schuldner bei jedem Geschäft die
Möglichkeit gewährt wird, sich seinen Verpflichtungen, wenigstens vorläufig,
durch die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zu entziehen? Wenn der Richter
durch das Gesetz die Ermächtigung erhält, bei jedem Rechtsgeschäft zu prüfen,
ob zwischen den Vermögensvorteilen und der Leistung ein auffälliges Mißver¬
hältnis bestehe, so bestimmt in Wahrheit er die Vergütung für eine Leistung,
und uicht mehr der Wille der Parteien.

Und fragen wir uns offen: Besitzt der deutsche Dnrchschmttsrichter -- alle
Achtung vor seinen juristischen Kenntnissen! -- wirklich die Fähigkeit, über
diesen wichtigen Punkt eine befriedigende Entscheidung abzugeben? Ist er mit
den Preisbildungen und Absatzverhältnissen ans den einzelnen Gebieten des
wirtschaftlichen Lebens, ist er überhaupt mit den Grundsätzen der modernen
Wirtschaftslehre vertraut genug, um auch nur annähernd beurteilen zu können,
wo die "Verhältnismäßigkeit" des Gewinnes aufhört, wo das "Mißverhältnis"
anfängt? Es giebt Leute, die das zu bezweifeln wagen.

Die Regierung selbst kann sich dieser Einsicht uicht verschließen. Sie
meint, mit der Sicherheit des Verkehrs werde es kaum vereinbar sein, "jede
rücksichtslose Ausbeutung günstiger Umstände, jede Erzielung ungewöhnlicher
Geschäftsgewinne, mag sie selbst im einzelnen sittlich verwerflich erscheinen,
ohne weiteres strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen." Aber sie läßt diese
Verfolgung ohne Rücksicht auf die Sicherheit des Verkehrs zu, sobald die
"rücksichtslose Ausnutzung günstiger Umstände" gewerbs- oder gewohnheits¬
mäßig geschieht. Was kann da alles unter den Wucherthatbestand fallen!
Welche Triumphe kann jetzt staatsanwaltliche Strebsamkeit und richterliche
Kurzsichtigkeit feiern! Wer könnte es nach dem neuen Gesetz verhindern, wenn
ein Hotelwirt, der bei Überfüllung der Stadt mit Fremden die Preise für
seine Zimmer bedeutend steigert, wegen Wuchers angeklagt und verurteilt
würde? Wenn ein Kaufmann aus dringender Veranlassung sein Warenlager


Wucher und Abzahlung

Die einschneidendste Neuerung aber will der Entwurf dadurch einführen,
daß er nicht nur bei Darlehns- und sonstigen Kreditgeschäften, sondern ganz
allgemein bei allen Rechtsgeschäften, bei denen der versprochne oder gewährte
Vermögensvorteil in auffälligen Mißverhältnis zur Leistung steht, eine straf¬
bare wucherische Ausbeutung annimmt. Bereits bei der Beratung des be¬
stehenden Wuchergesetzes war angeregt worden, den Wucherbegriff über den
Kreis der Kreditgeschäfte hinaus zu erweitern. Man nahm davon Abstand,
als der sächsische Bevollmächtigte, Generalstaatsanwalt von Schwarze, in seinem
Berichte bei aller Anerkennung des Schntzbedürfuisses der Bevölkerung ent¬
schieden hervorhob, daß es unzulässig erscheine, in die Freiheit der Preis¬
bestimmung einzugreifen, wie dies durch die Ausdehnung des Wnchergesetzes
auf alle Verträge geschehe. Aber auch abgesehen von diesem gewichtigen Be¬
denken, welch unabsehbarer Schaden wird gerade dem ehrlichen Handel und
Verkehr zugefügt, wenn dem böswilligen Schuldner bei jedem Geschäft die
Möglichkeit gewährt wird, sich seinen Verpflichtungen, wenigstens vorläufig,
durch die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zu entziehen? Wenn der Richter
durch das Gesetz die Ermächtigung erhält, bei jedem Rechtsgeschäft zu prüfen,
ob zwischen den Vermögensvorteilen und der Leistung ein auffälliges Mißver¬
hältnis bestehe, so bestimmt in Wahrheit er die Vergütung für eine Leistung,
und uicht mehr der Wille der Parteien.

Und fragen wir uns offen: Besitzt der deutsche Dnrchschmttsrichter — alle
Achtung vor seinen juristischen Kenntnissen! — wirklich die Fähigkeit, über
diesen wichtigen Punkt eine befriedigende Entscheidung abzugeben? Ist er mit
den Preisbildungen und Absatzverhältnissen ans den einzelnen Gebieten des
wirtschaftlichen Lebens, ist er überhaupt mit den Grundsätzen der modernen
Wirtschaftslehre vertraut genug, um auch nur annähernd beurteilen zu können,
wo die „Verhältnismäßigkeit" des Gewinnes aufhört, wo das „Mißverhältnis"
anfängt? Es giebt Leute, die das zu bezweifeln wagen.

Die Regierung selbst kann sich dieser Einsicht uicht verschließen. Sie
meint, mit der Sicherheit des Verkehrs werde es kaum vereinbar sein, „jede
rücksichtslose Ausbeutung günstiger Umstände, jede Erzielung ungewöhnlicher
Geschäftsgewinne, mag sie selbst im einzelnen sittlich verwerflich erscheinen,
ohne weiteres strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen." Aber sie läßt diese
Verfolgung ohne Rücksicht auf die Sicherheit des Verkehrs zu, sobald die
„rücksichtslose Ausnutzung günstiger Umstände" gewerbs- oder gewohnheits¬
mäßig geschieht. Was kann da alles unter den Wucherthatbestand fallen!
Welche Triumphe kann jetzt staatsanwaltliche Strebsamkeit und richterliche
Kurzsichtigkeit feiern! Wer könnte es nach dem neuen Gesetz verhindern, wenn
ein Hotelwirt, der bei Überfüllung der Stadt mit Fremden die Preise für
seine Zimmer bedeutend steigert, wegen Wuchers angeklagt und verurteilt
würde? Wenn ein Kaufmann aus dringender Veranlassung sein Warenlager


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[0529] Wucher und Abzahlung Die einschneidendste Neuerung aber will der Entwurf dadurch einführen, daß er nicht nur bei Darlehns- und sonstigen Kreditgeschäften, sondern ganz allgemein bei allen Rechtsgeschäften, bei denen der versprochne oder gewährte Vermögensvorteil in auffälligen Mißverhältnis zur Leistung steht, eine straf¬ bare wucherische Ausbeutung annimmt. Bereits bei der Beratung des be¬ stehenden Wuchergesetzes war angeregt worden, den Wucherbegriff über den Kreis der Kreditgeschäfte hinaus zu erweitern. Man nahm davon Abstand, als der sächsische Bevollmächtigte, Generalstaatsanwalt von Schwarze, in seinem Berichte bei aller Anerkennung des Schntzbedürfuisses der Bevölkerung ent¬ schieden hervorhob, daß es unzulässig erscheine, in die Freiheit der Preis¬ bestimmung einzugreifen, wie dies durch die Ausdehnung des Wnchergesetzes auf alle Verträge geschehe. Aber auch abgesehen von diesem gewichtigen Be¬ denken, welch unabsehbarer Schaden wird gerade dem ehrlichen Handel und Verkehr zugefügt, wenn dem böswilligen Schuldner bei jedem Geschäft die Möglichkeit gewährt wird, sich seinen Verpflichtungen, wenigstens vorläufig, durch die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zu entziehen? Wenn der Richter durch das Gesetz die Ermächtigung erhält, bei jedem Rechtsgeschäft zu prüfen, ob zwischen den Vermögensvorteilen und der Leistung ein auffälliges Mißver¬ hältnis bestehe, so bestimmt in Wahrheit er die Vergütung für eine Leistung, und uicht mehr der Wille der Parteien. Und fragen wir uns offen: Besitzt der deutsche Dnrchschmttsrichter — alle Achtung vor seinen juristischen Kenntnissen! — wirklich die Fähigkeit, über diesen wichtigen Punkt eine befriedigende Entscheidung abzugeben? Ist er mit den Preisbildungen und Absatzverhältnissen ans den einzelnen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens, ist er überhaupt mit den Grundsätzen der modernen Wirtschaftslehre vertraut genug, um auch nur annähernd beurteilen zu können, wo die „Verhältnismäßigkeit" des Gewinnes aufhört, wo das „Mißverhältnis" anfängt? Es giebt Leute, die das zu bezweifeln wagen. Die Regierung selbst kann sich dieser Einsicht uicht verschließen. Sie meint, mit der Sicherheit des Verkehrs werde es kaum vereinbar sein, „jede rücksichtslose Ausbeutung günstiger Umstände, jede Erzielung ungewöhnlicher Geschäftsgewinne, mag sie selbst im einzelnen sittlich verwerflich erscheinen, ohne weiteres strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen." Aber sie läßt diese Verfolgung ohne Rücksicht auf die Sicherheit des Verkehrs zu, sobald die „rücksichtslose Ausnutzung günstiger Umstände" gewerbs- oder gewohnheits¬ mäßig geschieht. Was kann da alles unter den Wucherthatbestand fallen! Welche Triumphe kann jetzt staatsanwaltliche Strebsamkeit und richterliche Kurzsichtigkeit feiern! Wer könnte es nach dem neuen Gesetz verhindern, wenn ein Hotelwirt, der bei Überfüllung der Stadt mit Fremden die Preise für seine Zimmer bedeutend steigert, wegen Wuchers angeklagt und verurteilt würde? Wenn ein Kaufmann aus dringender Veranlassung sein Warenlager

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/529>, abgerufen am 26.06.2024.